Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 29), München: Oldenbourg 2012, VI + 346 S., ISBN 978-3-486-71287-2, EUR 49,80
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Willy Brandt und Georges Pompidou gehören nicht zu den Säulenheiligen der deutsch-französischen Kooperation, die im Jubiläumsjahr 2013 so oft zitiert werden. Während immer wieder an die engen, ja freundschaftlichen Beziehungen zwischen De Gaulle und Adenauer, Giscard und Schmidt, Mitterrand und Kohl erinnert wird, findet das "Paar" Brandt und Pompidou im öffentlichen Diskurs selten Erwähnung. Auch scheinen der Kanzler der Ostpolitik und der Nachfolger des Generals sich wenig um die mediale Inszenierung deutsch-französischer Verständigung gekümmert zu haben, wie es ihre Nachfolger Giscard und Schmidt so erfolgreich taten. Zwischen Pompidou und Brandt habe die "persönliche Chemie" nicht gestimmt, meinte der deutsche Botschafter Sigismund von Braun (321).
Umso begrüßenswerter ist es, dass Claudia Hiepel in ihrer Habilitationsschrift die Errungenschaften und Grenzen deutsch-französischer Kooperation in den Jahren 1969 bis 1974 unter die Lupe nimmt. Wie der Untertitel bereits andeutet, setzt sie einen klaren Schwerpunkt auf den europapolitischen Beitrag des Kanzlers und des Präsidenten: Inwiefern gelang es ihnen, nach der schwierigen, vom Nationalismus de Gaulles erschwerten elfjährigen Periode der europäischen Integration neue Impulse zu verleihen? Indem sie diese Fragestellung verfolgt, knüpft die Autorin an eine Reihe von Untersuchungen an, welche die 70er Jahre als eine wichtige Umbruchphase des europäischen Einigungsprozesses in den Blick nehmen. Auch zu den beiden Protagonisten des Buchs sind in den letzten Jahren eine Reihe von relevanten Publikationen erschienen, wie etwa die Forschungen von Andreas Wilkens über den Europapolitiker Willy Brandt sowie der von Eric Bussière und Emilie Willaert herausgegebene Quellenband zu Pompidous Vision der "construction européenne". [1]
Die Periode Pompidou/Brandt beginnt verheißungsvoll mit dem Haager Gipfel und dem "Triptychon" dreier Zielvorgaben der europäischen Einigung: Vollendung - Vertiefung - Erweiterung. In den anfänglichen Elan eines vom Dogmatismus De Gaulles augenscheinlich unbelasteten Neubeginns des europäischen Prozesses bricht alsbald die wirtschaftliche Krise ein, die vom Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und der Ölkrise ausgelöst wird. Unter den Auspizien des Endes der "trente glorieuses" wird deutlich, dass zwischen Brandt und Pompidou keine ausreichende politische Konvergenz besteht, um eine abgestimmte Anti-Krisen-Politik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zu betreiben. Die 1969 so optimistisch anhebende Periode endet 1974 in einem "Rette sich wer kann": Nationale Egoismen gewinnen gegenüber dem europäischen Gemeininteresse die Oberhand.
Dies sind die Eckpfeiler der Untersuchung, in der es der Autorin insbesondere dank ausgreifender Archivforschung gelingt, zahlreiche überkommene Auffassungen zu revidieren bzw. zu konturieren. So entkräftet sie überzeugend die häufig vertretene Meinung, dass Pompidou den britischen EG-Beitritt (nur) gewollt habe, um die wachsende ökonomische Macht der Bundesrepublik auszubalancieren. Auch für das Argument, dass die Bundesregierung erfolgreich zwischen Frankreich und Großbritannien vermittelt habe, kann sie keine Belege finden. Ernüchternd fällt das Urteil über die "Europäische Politische Zusammenarbeit" (EPZ) aus, die weitgehend ein Papiertiger blieb. Denn Pompidou ließ sich zu keiner nachhaltigen politischen Kooperation überreden, die über eine rein intergouvernementale, unverbindliche Abstimmung hinausgegangen wäre. Mit Ausnahme der Erweiterungspolitik wich Pompidou in allen zentralen Feldern der Europapolitik nicht von der gaullistischen Orthodoxie ab: Die "Vertiefung" der Europäischen Gemeinschaft etwa musste so lange eine Chimäre bleiben, als die Einführung direkter Wahlen zum Europaparlament vom französischen Präsidenten blockiert wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint der Wandel von Pompidou zu Giscard, vom Gaullismus zur europafreundlichen Rechten in noch schärferen Konturen. Ob Pompidou in seinem Festhalten an den gaullistischen Prinzipien von nationaler Unabhängigkeit und Souveränität seinen eigenen Überzeugungen Ausdruck gab oder aber vornehmlich auf die "Hardliner" in seiner Parlamentsfraktion Rücksicht nahm, muss dahingestellt bleiben.
Kritisch anmerken ließe sich lediglich, dass der Untertitel der Fragestellung und dem Inhalt des Buches wesentlich besser gerecht wird als der Haupttitel "Willy Brandt und Pompidou". Denn im Vordergrund steht die Europapolitik der Bundesrepublik und Frankreichs zwischen 1969 und 1974, nicht etwa die beiden Protagonisten, ihre politischen Beweggründe, deren persönliche Beziehung und Formen der Zusammenarbeit. Auch bleiben viele Handlungsfelder deutsch-französischer Beziehungen - wie etwa bilaterale Themen, die Sicherheitspolitik, die Brandtsche Ostpolitik - bewusst (und angesichts der Fragestellung zurecht) ausgeblendet. Wer allerdings nach einer quellengestützten, analytisch vertieften und sicher urteilenden Studie über den Beitrag der Bundesrepublik und Frankreichs zum europäischen Integrationsprozess in der "Scharnierphase" 1969-1974 sucht, wird Claudia Hiepels Studie mit großem Gewinn lesen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Andreas Wilkens (Hg.): Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung (= Willy-Brandt-Studien; Bd. 3), Bonn 2010. [http://www.sehepunkte.de/2012/01/19937.html]; Eric Bussière / Émilie Willaert: Un projet pour l'Europe. Georges Pompidou et la construction européenne (= Georges Pompidou Archives; No. 4), Bruxelles [u.a.] 2010. [http://www.sehepunkte.de/2011/01/18778.html]
Matthias Waechter