Rezension über:

Christoph Brüll / Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel u.a. (Hgg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945-1995 (= Historische Dimensionen Europäischer Integration; Bd. 31), Baden-Baden: NOMOS 2020, 221 S., 2 Kt., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8487-6566-9, EUR 44,00
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Rezension von:
Markus Raasch
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Markus Raasch: Rezension von: Christoph Brüll / Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel u.a. (Hgg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945-1995, Baden-Baden: NOMOS 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/35050.html


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Christoph Brüll / Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel u.a. (Hgg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945-1995

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts absolvierten hunderttausende Belgier (seit den 1970er Jahren auch Belgierinnen) ihren Militärdienst in Deutschland, tausende von Offizieren wohnten und lebten hier mit ihren Familien. Gleichwohl ist die erinnerungskulturelle Bedeutung der belgischen Militärpräsenz, die zunächst auf dem Besatzungsstatut und seit 1955 auf Nato-Verträgen beruhte, gering - in Belgien wie in Deutschland. Auch die historische Forschung hat ihr im Verhältnis zu den amerikanischen und britischen Truppen bisher wenig Beachtung geschenkt. Insbesondere für die Zeit seit den 1950er Jahren sind lediglich Einzelaspekte in Augenschein genommen worden, und etliche Studien können wissenschaftlichen Standards nicht genügen. Zumeist dominiert die populäre Erzählung von der success story der alten Bundesrepublik, die sich vor dem Hintergrund des "Kalten Krieges" erfolgreich im "Westen" verankerte und deshalb "Feinde zu Partnern" machte. Hier setzt der anzuzeigende Band an, der auf eine Tagung in der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang - zwischen 1950 und 2005 belgischer Truppenübungsplatz - zurückgeht. Er bemüht sich um Tiefenschürfung wie um Differenzierung und fragt im Spiegel nordrhein-westfälischer Garnisonsstandorte nach den sozialen Dynamiken von deutsch-belgischer Verflechtung, Entflechtung und Koexistenz. Drei Aufsätze nehmen dazu jeweils an einem lokalen Fallbeispiel (Soest, Lüdenscheid, Siegen) die gesamte Dauer der belgischen Militärpräsenz in Augenschein. Drei Beiträge behandeln Spezialaspekte: Die Auswirkungen des Panzereinsatzes bei Manövern, die Nutzung militärischen Geländes als Naherholungsgebiet und (massen-)mediale Kontaktzonen. Zwei längere Interviews, eine Fotostrecke sowie eine Schlussbetrachtung runden den Band ab.

Das Bemühen, belgisch-deutsche Beziehungs- als Alltagsgeschichte zu lesen, zeitigt Erhellendes: So bestätigt sich grundsätzlich eine dreiphasige Entwicklung, die von Distanz (Besatzungszeit) über Annäherung (seit 1955) bis zum Miteinander (seit den 1970er Jahren) reichte. Freilich zeigen die Autorinnen und Autoren auch, wie wichtig Nuancierungen sind. Im Hinblick auf Verflechtungsdynamiken ist zu bedenken, dass Standortkommandanten diese ebenso fördern wie behindern konnten. Französischsprachigen Einheiten fiel das Ankommen in Deutschland deutlich schwerer als flämischen, ein entsprechender Austausch - wie in Siegen im Jahre 1975 - konnte Entflechtungsprozesse in Gang setzen. Außerdem machte es einen großen Unterschied, ob sich eine Garnison nahe der Grenze oder in Westfalen befand, ob Pendelverkehr möglich war oder nicht. In der Gesamtschau nahm sich das Ausmaß der Verflechtungen durchaus enorm aus: Die Stadtoberen waren regelmäßig in die Garnisonen eingeladen, in Notlagen half ihnen das belgische Militär z. B. mit schwerem Gerät aus. Öffentliche Bataillonsfeste wurden seit den 1960er Jahren als kommunale Hochereignisse inszeniert. Binationale "Volksläufe" oder Fußballspiele waren der Begegnung ebenso förderlich wie Städtepartnerschaften. Zu den arrangierten kamen die privaten Kontakte. In Soest z. B. waren wohl Mitte der 1980er Jahre knapp 35 Prozent der belgischen Offiziersfamilien in deutschen Vereinen organisiert. Ähnlich hoch dürfte der Anteil belgisch-deutscher Ehen gelegen haben, denen hunderte von Kindern entsprangen. Nicht von ungefähr blieb ein Teil der Offiziere und Zivilangestellten auch nach dem Abzug der belgischen Truppen in Deutschland. Allerdings: Die Grenzen der Verflechtung sind bis zuletzt erkennbar. Der Primat des Militärischen, der eine weitgehende Autarkie bedingte, spielte dabei eine wesentliche Rolle. Jahrzehntelang informierten die Garnisonsleitungen kaum über Truppenbewegungen und Manöver, die auch immer wieder zu Unmutsbekundungen wegen Lärmbelästigung oder Umweltschädigung führten. Zum Teil waren auch die lebensweltlichen Gräben groß: Die Rekruten lebten in den Kasernen, die Offiziere teils in geschlossenen Wohneinheiten. Um den Kontakt zur "Heimat" nicht zu verlieren, gab es belgische Kindergärten, Schulen, Warenhäuser, Kinos, medizinische Dienste und diverse Medienangebote. Vice versa bestand indes auch bei vielen Einheimischen nur eine geringe Bereitschaft, sich auf die "Fremden" einzulassen. In der Folge lebten Belgier und Deutsche vielfach in Parallelgesellschaften.

Der Band zeichnet sich aus durch inhaltlich konzise und solide recherchierte Beiträge. Einleitung und Fazit sorgen für eine erkenntnisfördernde, bei Sammelbänden nicht immer gegebene Kohärenz. Einzig der euphemistische Ton, mit dem über die brutalen deutschen Besatzungen Belgiens in den beiden Weltkriegen gesprochen wird, irritiert ("Schon die deutsche Besatzungszeit [...] hatte Beziehungen zwischen Deutschen und Belgiern geschaffen", 216). Die größte Stärke des Bandes liegt wohl darin, dass er sich seiner Schwächen bewusst ist und seinen eher tentativen Charakter immer wieder transparent macht. So führt der Titel natürlich in die Irre, weil nur ein kleiner Teil der belgischen Militärstandorte und kein einziger rheinischer in Augenschein genommen wird (dafür geht der Blick des Öfteren nach Nordhessen). Das Interview mit einem langjährigen Kommandanten des Standortes Vogelsang kann hier keine Abhilfe schaffen, weil biografische Stationen von der Kindheit bis zum Einsatz im Kongo im Blickpunkt stehen. Das präsentierte Bildmaterial harrt ebenso einer systematischen Analyse wie etliche, im Buch lediglich gestreifte Themen. Dazu gehören eine empirisch gesättigte Sozialstatistik (Vereinsmitgliedschaften, binationale Eheschließungen und Kinder etc.) und gezielt mit Selbstzeugnissen und Gesprächen mit Zeitzeugen bzw. Zeitzeuginnen arbeitende lebensweltliche Analysen des belgischen-deutschen Miteinanders: Wo kamen die deutsche und die belgische Bevölkerung im Alltag zusammen? Wie konfliktbehaftet, wie tiefgehend, wie nachhaltig waren die Kontakte? Welche Entwicklungsprozesse sind festzustellen? Im Interview mit dem Gründer des Soester Museums der Belgischen Streitkräfte klingt an, welche große Bedeutung konfessionelle Gemeinsamkeiten für Verflechtungsdynamiken haben konnten, der Faktor "Religion/Kirche" müsste also genauer in Augenschein genommen werden. Wer einen substantiellen Beitrag zu einer transnationalen Regionalgeschichte, der Kulturgeschichte des "Kalten Krieges" oder der Geschichte der Europäischen Integration leisten möchte, müsste belgisches wie deutsches Quellenmaterial heranziehen, zentrale Begriffe wie "Partnerschaft" oder "Freundschaft" sorgsam reflektieren und konsequent vergleichende Betrachtungen zu anderen Nato-Streitkräften in Deutschland anstellen. Das wichtige Feld "Kommunalpolitik und belgisches Militär" müsste sorgsam im Hinblick auf den Wandel von Handlungsfeldern, Repräsentationsformen, Kommunikationsweisen und Konfliktfällen vermessen, die Rolle der übergeordneten Instanzen dabei ebenso beachtet werden wie das Agieren von Verwaltungsspitzen, politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren vor Ort. Viel stärker sollten nicht zuletzt genderspezifische Aspekte und das historische Erbe der belgisch-deutschen Beziehungen bedacht werden - inklusive des erinnerungskulturellen Umgangs mit den beiden Weltkriegen und der NS-Vergangenheit im Speziellen, der Prägewirkungen des Kolonialismus und der Problemdimension von Xenophobie und Rassismus.

So stellt der Band im Ganzen eine große Bereicherung dar. Er sensibilisiert nicht nur für Lücken der Forschung, sondern liefert auch erste Ansätze und viele Perspektiven, dieser Herr zu werden.

Markus Raasch