Sabine Eickhoff / Franz Schopper (Hgg.): 1636 - Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart: Theiss 2012, 208 S., ISBN 978-3-806226-32-4, EUR 18,00
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Am 4. Oktober 1636 fand bei Wittstock an der Dosse, ganz im Norden der Mark Brandenburg, nahe an der Grenze zu Mecklenburg, eine Schlacht zwischen schwedischen Truppen unter Feldmarschall Banér und den verbündeten kaiserlichen und kursächsischen Kontingenten statt. Der Sieg Banérs leitete einen Kräfteumschwung zugunsten der Schweden ein, die nach der schweren Niederlage bei Nördlingen 1634 und dem Prager Frieden 1635 militärisch wie politisch in die Defensive geraten waren, nun aber ihre Machtposition wieder stabilisieren konnten. Gemäß einer eher schlachtenvermeidenden Strategie gab es in diesem 30 Jahre währenden Konflikt gar nicht so viele Kämpfe größeren Ausmaßes. Wenn es aber einmal dazu kam, dann entspann sich ein erbittertes und blutiges Ringen, das auf beiden Seiten zahlreiche Opfer forderte. Bei Wittstock war es nicht anders; Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt womöglich 6-9.000 Soldaten bei dieser Schlacht zu Tode kamen (von insgesamt über 40.000 Kombattanten).
Als im Jahr 2007 zahlreiche menschliche Knochen in der Nähe der Stadt Wittstock gefunden wurden, stellte sich heraus, dass es sich um ein Massengrab handelte, das mit 88 weitestgehend kompletten Skeletten und weiteren einzelnen Knochen die sterblichen Überreste von rund 125 in der Schlacht bei Wittstock gefallenen Soldaten barg. Die vorliegende Publikation dokumentiert diesen Fund und nutzt gleichzeitig die Gelegenheit, die Schlacht bei Wittstock vorzustellen - womit ohnehin eine Lücke gefüllt wird, zumal diese Schlacht von historischer Seite erstaunlicherweise weitgehend ignoriert wurde und auch die brandenburgische Landesgeschichte das Jubiläum dieser einzigen auf brandenburgischem Territorium geführten Schlacht dieses Kriegs nicht aufgegriffen hat. [1] Doch vor allem will dieser Band, der hauptsächlich von Archäologen und Anthropologen verantwortet wird, die Chance nutzen, das Fach der Schlachtenarchäologie als eine Disziplin vorzustellen, die ganz spezifische historische Erkenntnismöglichkeiten bietet.
Dabei legen die Herausgeber Wert darauf, nicht nur das Schlachtgeschehen selbst zu erläutern, sondern überhaupt das Leben der Soldaten in Kriegszeiten neu zu erzählen. Entsprechend induktiv geht der Band vor, der einleitend den Dreißigjährigen Krieg vorstellt, anschließend die Anwerbepraxis der Armeen sowie die Bewaffnung und Ausrüstung der Soldaten erklärt, dann über den militärischen Kriegsalltag auf dem Marsch und im Lager referiert, bis schließlich die Schlacht selbst erreicht und das Massengrab vorgestellt wird. Am Ende des Bandes wird die Ausstellung präsentiert; grundsätzliche Erwägungen über die Thematik eines Massengrabs in musealer Präsentation münden in die Erklärung, die Funde und menschlichen Überreste "jenseits von Voyeurismus und Sensationsgier" zeigen zu wollen (181).
Die einzelnen Kapitel greifen zwar die archäologischen Befunde auf, gehen aber weit darüber hinaus und zeigen die jeweils thematischen Hintergründe auf, in deren Kontext die Funde auf dem Schlachtfeld erst zum "Sprechen" gebracht werden können. So lassen sich die auf dem Wittstocker Schlachtfeld in Massen gefundenen Kugeln einzelnen Pistolen-, Musketen- und Kanonentypen zuordnen, was zum Anlass genommen wird, zeitgenössische Schusswaffen und Artillerie als Waffengattung vorzustellen. In Kombination mit den untersuchten Skeletten und den daran diagnostizierten Verletzungen lässt sich zudem zeigen, welche verheerenden Auswirkungen diese Waffentechnik haben konnte - und die in zeitgenössischen Dokumenten beschriebenen Grausamkeiten des Kriegs bekommen durch die archäologischen Zeugnisse eine neue Anschaulichkeit. In einigen Fällen lassen sich die Befunde sogar bis auf die Einzelschicksale verschiedener Soldaten hinunterbrechen, deren Kämpfen und Sterben im Verlauf der Schlacht bei Wittstock rekonstruiert werden kann; auf sehr gelungene Weise gelingt es hier, die Befunde aus dem Soldatengrab zu deuten und zu veranschaulichen (153-160).
Nicht nur Aufschlüsse über das Kampfgeschehen sind möglich. Untersuchungen an den Knochen und Zähnen zeigen weiterhin, unter welchen Lebensbedingungen die Söldner ihrem Beruf nachgingen. Die Befunde geben Hinweise auf die Belastungen, denen die Soldaten während der Feldzüge ausgesetzt waren und durch die ihre Knochen und Gelenke abnutzten; Vergleichswerte aus dem bäuerlichen Umfeld zeigen, dass die Söldner offenbar stärkeren Beanspruchungen ausgesetzt waren als zeitgenössische Bauern. Das zeigen eben nicht nur die Knochen von älteren Soldaten (das heißt jenen, die das vierte Lebensjahrzehnt vollendet hatten oder im fünften standen), sondern auch von jüngeren Kriegsknechten in ihren 20er Jahren. Andere Indizien lassen Rückschlüsse auf die Ernährung der Soldaten zu, die offenbar deutlich häufiger als die durchschnittliche Landbevölkerung Fleisch, Fisch oder Milchprodukte verzehrten. Schließlich bieten bestimmte Knochenbefunde Hinweise auf verschiedene Krankheitsbilder; von den 125 Toten des Massengrabs lässt sich bei immerhin 11 Söldnern Syphilis in einem späten Stadium nachweisen. Nachweisbar sind allerdings auch frühere, längst wieder verheilte Verletzungen. Sie zeigen, dass manche Soldaten ungeachtet aller Mangelerscheinungen und Krankheiten robust genug waren, um auch schwere Verwundungen zu überleben (124), bis sie bei Wittstock doch den Schlachtentod sterben mussten.
Wenn die vielen Befunde wertvolle Hinweise auf den Alltag der Söldner im Krieg geben, bleiben es doch zumeist statistische Werte. Um von Quoten und Prozentangaben wegzukommen, haben die beteiligten Wissenschaftler exemplarisch einen Kriegsknecht aus dem Massengrab intensiver untersucht. Ihre Wahl fiel auf das "Individuum 71". Hinter der Zahl verbirgt sich ein Söldner, der in seinen frühen 20er Jahren bei Wittstock kämpfte und fiel. Nicht nur seine schweren in der Schlacht empfangenen Blessuren, sondern überhaupt die vielfältigen nachweisbaren Krankheits- und Beschwerdesymptome zeigen noch einmal beispielhaft die Härte der Lebensbedingungen. Die Ausstellungsmacher haben im Bestreben, diesem mit einer Körpergröße von 1,80 m größten Soldaten des Massengrabs ein Gesicht zu geben, das Antlitz dieses Mannes zu rekonstruieren versucht.
Nachweisbar ist zudem die schottische Herkunft des Toten. Denn mithilfe isotopischer Untersuchungen wurde bei allen Leichen des Massengrabs zu ermitteln versucht, wo sie aufgewachsen waren. So lässt sich für einige Tote sicher eine schottische, schwedische, finnische oder lettische Heimat nachweisen. Ein Viertel der Männer aus dem Massengrab hatte demzufolge für die schwedische Seite gekämpft, bei den anderen handelte es sich offenbar um kaiserliche und kursächsische Soldaten: So waren im Tod nicht nur Freund und Feind vereint; auch die europäische Dimension dieses Kriegs findet sich in diesem Massengrab wieder.
Grabungsergebnisse der Schlachtfeldarchäologie sind nicht wirklich schön - anders als bei Schatzfunden oder der Entdeckung von Gräbern hochgestellter Persönlichkeiten, wenn wertvolle Grabbeigaben ans Tageslicht kommen, wirken die Fundstücke hier ernüchternd, wenn nicht sogar abschreckend. Ein paar Münzen und wenige Schmuckstücke sowie Alltagsgegenstände wie Messer- und Löffelgriffe können diesen Eindruck nicht korrigieren, den etwa die in serieller Häufung, ja Massierung auftretenden Kugeln vermitteln. Doch kann man nicht umhin, dem Forscherteam aus Archäologen und Anthropologen Respekt zu zollen, die in sehr überzeugender Weise die Grabungsbefunde so aufbereitet haben, dass ihr Wert auch für die historische Forschung fassbar wird. Damit dokumentiert die hier vorgelegte gelungene Kombination aus archäologischem Befund und historischer Kontextualisierung, die übrigens in einem mit 18 Euro nicht nur überaus preisgünstigen, sondern dabei auch in Bildqualität und Layout qualitätvollen Band präsentiert wird, in exemplarischer Weise den Wert der neuzeitlichen Schlachtfeldarchäologie für die Geschichtswissenschaft.
Anmerkung:
[1] Zu erwähnen ist allerdings ein Colloquium der Grimmelshausen-Gesellschaft, auf dem nicht nur germanistische, sondern auch historische Vorträge gehalten wurden. Diese Beiträge sind von Peter Heßelmann in den Simpliciana 33 (2011), erschienen 2012, herausgegeben worden.
Michael Kaiser