Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn. Band 2: 1860-2006, Marburg: Herder-Institut 2012, VIII + 654 S., ISBN 978-3-87969-374-0
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Gertraud Marinelli-König: Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805-1848). Bd. 1: Tschechische nationale Wiedergeburt - Kultur- und Landeskunde von Böhmen, Mähren und Schlesien - Kulturelle Beziehungen zu Wien, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2011
Klaus Garber: Martin Opitz, Paul Fleming, Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn. Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860, Marburg: Herder-Institut 2011
Im zweiten Band seiner grundlegenden Gesamtdarstellung der Geschichte der Deutschen in Ungarn behandelt Gerhard Seewann die Entwicklungen innerhalb des ungarischen Nationalstaats, wie er als Ergebnis des "Ausgleichs" zwischen Österreich und Ungarn von 1867 entstanden ist. Wie im ersten Band stellt der Autor zunächst die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer sich die Deutschen im damaligen Ungarn in der Periode des österreichisch-ungarischen Dualismus entwickelt haben: das Nationalitätengesetz von 1868 und seine Vorgeschichte und Praxis in Politik, Schul- und Bildungswesen sowie in Verwaltung, beruflicher Standespolitik, Wirtschaft, Presse und Ortsnamen, dazu die Rolle aus- und inländischer nationaler Schutzvereine und den zeitgenössischen "magyarischen Nationalisierungsdiskurs".
Auf das engere Ungarn konzentriert, stellt Seewann die Lage der Deutschen in Ungarn und ihre Gruppenbildung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorzüglich und ohne jede falsche Apologetik oder Polemik dar. Zugleich analysiert er die Lage dieser konfessionell differenzierten Sprachgruppe ohne geschlossenes Siedlungsgebiet unter den Bedingungen einer Magyarisierungspolitik, die spätestens seit den 1890er Jahren keinerlei Recht auf "Nationalitätenkultur" konzedierte (90).
Die statistischen Angaben wären gerade unter dem Aspekt der weitgehenden Zersplitterung in Kleingruppen (91, 93,125) aussagekräftiger, hätte Seewann sie nach Regionen differenziert aufgeschlüsselt, und hätten an Deutlichkeit gewonnen, wenn sie den Daten für andere Nationalitäten in den jeweiligen Siedlungsregionen gegenübergestellt worden wären. Über kleinere Ungenauigkeiten - zum Beispiel war die Territorialautonomie Kroatien-Slawoniens nicht national, sondern historisch-staatsrechtlich begründet (9), die Serbische Nationalliberale Partei hatte nicht nur den auf Seite 22 genannten ungarischen Namen, "Neuabsolutimus" (114) - sollte man hinweglesen, betreffen sie doch im wesentlichen für das Gesamtthema marginale Fragen und wären leicht redaktionell korrigierbar gewesen. Neben dem mit gutem Grund eingefügten, bis in die Frühe Neuzeit zurückgreifenden Kapitel über die Sonder- und Eigenentwicklungen bei den Siebenbürger Sachsen wünschte man sich eine entsprechende gesonderte Darstellung anderer regionaler Entwicklungen wie zum Beispiel im Banat. Die Frage nach der "Assimilation" verfolgt Seewann differenziert. Er unterscheidet die unterschiedliche Ausgangslage im städtischen und im ländlichen Raum, von Stadtbevölkerung, Siebenbürger Sachsen mit ihrer spezifischen Gruppensituation und "Schwaben". Unter den Bedingungen einer "Ethnizität ohne Gruppe" und "der sozialen Loyalität zur Großgruppe der ungarischen Nation" wurde bei den Deutschen in Ungarn das "emotional-ideologische Angebot" einer "Volksgemeinschaft" erst nach 1918 wirksam (94).
Mit der "Periode der politischen Mobilisierung 1914-1945" gewinnt Seewanns Darstellung noch einmal an Qualität. Er zeigt, wie der bis zum Friedensvertrag von Trianon scheinbar offene Nationalitätendiskurs mit dem "Intermezzo der Räterepublik" für die ungarischen Interessen instrumentalisiert wurde. Als Rahmenbedingungen für die Existenz der Minderheit identifiziert er das System des internationalen Minderheitenschutzes im Kontext des Völkerbundes, die Außenpolitik des Horthy-Regimes unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-ungarischen Beziehungen und der "Patronagerolle Deutschlands" für die Minderheit, die Minderheitenpolitik des ungarischen Staats bis 1938 und den spätestens in der Weltwirtschaftskrise gescheiterten Versuch Jakob Bleyers, eines klerikal-konservativen Politikers ungarndeutscher Herkunft, seine Konzeption einer "unteilbaren ungarischen politischen Nation, in der auch deutschsprachige Ungarn ihren Platz" hätten haben sollen (292), politisch zu implementieren. Die Politiker Trianon-Ungarns verschärften die gegen die nationalen Minderheiten gerichtete Politik, sie instrumentalisierten die deutsche Minderheit außenpolitisch ebenso wie das Deutsche Reich und seine auslandsdeutschen Organisationen. Als Konsequenz hieraus ergab sich eine "ethnopolitische Mobilisierung" mit der Spaltung der Minderheit und der 1938 erfolgten Einigung im Volksbund der Deutschen in Ungarn (VDU) als nationalsozialistischer Volksgruppenorganisation mit dem Ziel der Dissimilation der Deutschen in Ungarn (276).
Die Anerkennung als "Volksgruppe" nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch bedeutet die "weitgehende Auslieferung der Minderheit an das Deutsche Reich" (304). Seewann behandelt alle wesentlichen Aspekte einschließlich der Rekrutierung zur Waffen-SS und der Rolle der Deutschen in den 1940 Ungarn angegliederten Gebieten Nordsiebenbürgens und der Batschka. Differenziert schildert er die Reaktion der Betroffenen und zeigt am Beispiel des 1946 zum Tode verurteilten Volksbund-Vorsitzenden Franz Basch beispielhaft die Instrumentalisierung der Minderheit von außen und ihre Ausweglosigkeit.
Seewann resümiert die während des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten und den Exilregierungen entwickelten "Konzepte der Vertreibung" und vergleicht deren Umsetzung in der Tschechoslowakei und in Ungarn, bevor er "Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn" und das spezifische Problem der Rückkehr "ungarndeutscher Vertriebener" 1946-1950 mit der gebotenen Ausgewogenheit darstellt. Ausführlich widmet er sich danach, wieder ausgehend von den Rahmenbedingungen, dem Modell der sowjetischen Nationalitätenpolitik, den Deutschen in Ungarn in der sozialistischen Ära bis zur "Liberalisierung und Rehabilitierung, 1983-1989". Ebenfalls subsummiert unter dem Oberkapitel "Periode des Sozialismus" beschreibt er abschließend das in den Jahren 1994-2006 entwickelte erfolgreiche "System der Minderheitenselbstverwaltung" sowie "Nationalitätenschule und Sprachkompetenz" nach 1989 mit der Assimilation als mittel- bis langfristig unumkehrbarem Prozess.
Der Quellenanhang enthält 23 weitgehend unbekannte Texte, davon 16 in ungarischer Sprache, von denen leider nur in den zwei Fällen, in denen auch eine deutschsprachige Fassung vorliegt, diese Übersetzungen beigegeben sind. Das "Quellen- und Literaturverzeichnis" - 13 Seiten Quellen und in der Ausführlichkeit nützliche 108 Seiten "Literatur" in alphabetischer Ordnung der Titel - betrifft wie im ersten Band beide Teile des Gesamtwerks. Ärgerlich ist, dass dieses "Quellen- und Literaturverzeichnis" zu 90 Prozent die Titel aus dem Verzeichnis des ersten Bandes wiederholt, die wenigen Ergänzungen betreffen wiederum das Gesamtwerk. Wie im ersten Band ist die "Ortsnamenkonkordanz" nicht in das "Toponymenregister" eingearbeitet worden, es ist trotz dieser Benutzerunfreundlichkeit ebenso hilfreich wie das "Personenregister". Diese redaktionellen Defizite sind bedauerlich, können aber den Wert der Darstellung nicht mindern.
Dass Seewann die Minderheit im dualistischen Ungarn wesentlich aus der Perspektive des nachtrianonischen Ungarn darstellt, macht methodisch und darstellerisch Sinn. Seine Synthese überzeugt insbesondere dadurch, dass er sich, soweit die Forschungslage es zulässt, nicht auf eine der Perspektiven - Staat, Minderheit oder Schutzstaat - beschränkt, sondern erstmals überhaupt in dieser Weise in der ostmitteleuropabezogenen historischen Minderheitenforschung Interessen und Aktionen aller handelnden Subjekte und der als Objekt betroffenen Minderheit in die Darstellung einbezieht. Seewann analysiert überzeugend, sein Urteil ist ausgewogen, auch wenn er feststellt, es habe in Ungarn bis zum Zweiten Weltkrieg "kein Minderheiten bejahendes minderheitenpolitisches Konzept" gegeben (277). Seine Synthese ist nicht nur für die Geschichte der Minderheit richtungweisend, sondern auch für die Geschichte der Innen- und der Außenpolitik Ungarns und der deutschen Außenpolitik, und setzt neue Maßstäbe.
Wolfgang Kessler