Wojciech Kunicki / Marek Zybura (Hgg.): Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik. 18 Porträts (= Studia Brandtiana; 3), Osnabrück: fibre Verlag 2011, 400 S., ISBN 978-3-938400-56-2, EUR 35,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Wojciech Kunicki: Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Studien zur neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2019
Izabela Surynt / Marek Zybura (Hgg.): Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück: fibre Verlag 2010
Viel ist schon geschrieben worden über die Rolle der Intellektuellen im Zeitalter der Totalitarismen, und doch hat man das Gefühl, immer noch nicht genug zu wissen, immer noch nicht tief genug eingedrungen zu sein in das schwierige Leben in manipulativer oder erpresserischer Umgebung. Außenstehende können sich leicht ein heldenhaftes Aufbegehren standhaften Widerstands erträumen, doch wie das reale Eingeflochtensein in Verpflichtungen und Solidaritäten, wie das ermüdende Gefangensein zwischen schön klingenden Worten und einer diesen widersprechenden Praxis, wie der lockende Glanz der Ideologie und der Einspruch des intellektuellen Gewissens sich zu einem konkreten Leben unter der Last repressiver Umstände vereinen, all die wohl nie vollständig erhellbaren Auswirkungen dieser Spannungsverhältnisse auf Leben und Arbeiten ganzer Generationen sind bis heute nicht vollständig erzählt.
Das hier vorzustellende Buch nimmt diese Zeit in den Blick und widmet sich einem scheinbar eher beschränkten und klar eingegrenzten Gegenstandsbereich: der Geschichte der Germanistik in Polen vorrangig während des "kurzen 20. Jahrhunderts". Doch nicht sein Gegenstand macht die Bedeutung eines Buches aus, sondern die Art der Darstellung. Bei geschickter Handhabung wird eine detaillierte Untersuchung zum paradigmatischen Beispiel für weit über das Thema hinausreichende Einsichten. So ist es auch mit diesem Werk. Natürlich ist es zunächst "nur" ein Buch über die polnische Germanistik, je länger man sich aber damit beschäftigt, desto mehr erweist es sich als weit grundsätzlicheres Fallbeispiel für das Überleben des Geistes in geistfeindlicher Zeit.
Das Buch tritt bescheiden auf als eine Sammlung von achtzehn biografischen Aufsätzen über bereits verstorbene polnische germanistische Literaturwissenschaftler beiderlei Geschlechts. Chronologisch geordnet nach Lebensdaten führen sie den Leser durch die verschiedenen Phasen der polnischen Geschichte im 20. Jahrhundert von der Zeit der Teilungen über die Zwischenkriegszeit, die nationalsozialistische Okkupation und den Kommunismus bis in die Nachwende-Zeit.
Alle Lebensläufe sind geprägt, viele gebrochen von den raschen, zumeist katastrophalen Systemwechseln des 20. Jahrhunderts, alle hier Vorgestellten sahen sich immer wieder vor die Entscheidung zwischen Anpassung und Einspruch, Widerstand und Mittun gestellt. Eine der Qualitäten dieses Buches besteht nun darin, dass nicht einfach aus nachträglicher Perspektive ein vereinfachendes Pauschalurteil über die individuell jeweils anderen Umgangsweisen mit den bedrückenden Umständen gefällt wird. Die Beiträger, allesamt selbst polnische Germanisten, gehören unterschiedlichen Generationen und schon deshalb sehr verschiedenen Erfahrungswelten an. Ihre Urteile sind daher auch nicht homogen, aber auf der Basis detailliert recherchierter Fakten und unter Berücksichtigung oft widersprüchlicher Zeugnisse sorgfältig begründet Diese repräsentative Meinungsvielfalt öffnet den Band für das tatsächlich breite Spektrum begründeter möglicher Einstellungen und Sichtweisen im Umgang mit überlebenstaktisch oft unvermeidlicher politischer Verstrickung, in einigen Fällen (etwa in den Beiträgen Maria Kłańskas über den tragischen Fall des aus der kommunistischen Partei ausgeschlossenen überzeugten Kommunisten Tadeusz Namowicz oder Karol Sauerlands über Michał Cieśla) um einfühlendes Verständnis bemüht, in anderen Fällen an gelegentlich scharfzüngigen Formulierungen interessiert (insbesondere aus der Feder Wojciech Kunickis, der z.B. Wilhelm Szewczyks Berichte über seine Inhaftierungen während der NS-Zeit mit dem Attribut "angeblich" versieht). Die für mehrere polnische Germanisten schädliche Tätigkeit des Geheimdienstspitzels Zenon Rudnicki lässt sich am besten durch Querlesen zwischen den verschiedenen Artikeln rekonstruieren. In kubistisch anmutender Manier ergänzen die Blickwinkel einander und ergeben erst in ihrem Miteinander ein vollständiges Bild.
Dessen Dichte beruht auf dem enormen Detailreichtum der Untersuchungen. Nicht nur die sorgfältig aus verschiedensten Quellen (privaten und amtlichen Nachlässen, behördlichen Archiven, Erinnerungen von Augenzeugen et cetera) recherchierten Biografien, sondern auch alle wichtigen Publikationen der behandelten Wissenschaftler werden vorgestellt und abgeglichen mit dem damaligen internationalen Forschungsstand sowie zugleich auf widerständige oder opportunistische Haltungen gegenüber politischen Vorgaben untersucht. Der Konflikt zwischen wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit und staatlich vorgegebenem Äußerungsrahmen wird an einigen Stellen bis in die konkrete fachliche Argumentation hinein verfolgt. Insgesamt erweist sich das hohe internationale Ansehen der polnischen Germanistik im Zuge dieser Überprüfung als berechtigt: Das Ideal wissenschaftlicher Wahrheitsfindung wurde trotz aller Schwierigkeiten von den meisten der hier Dargestellten unter teils beträchtlichen Opfern stets zu wahren gesucht. Zu danken ist den Herausgebern und Autoren dafür, dass sie entgegengesetzte Beispiele nicht unterschlagen oder marginalisieren, sondern vor dem Hintergrund der Zeitumstände möglichst präzise analysieren. Zusätzlich wird in jedem Beitrag versucht, die administrativen Tätigkeiten des jeweiligen Wissenschaftlers zu rekonstruieren. Da hier oft der unmittelbarste Kontakt mit der Staatsmacht bestand, ist gerade dieser Bereich besonders aussagekräftig für große Zwänge und kleine Freiheiten, Eigenwilligkeit und äußeren Druck.
Die Herausgeber haben in Fußnoten und mit Hilfe eines ausführlichen Registers die zahlreichen Querverbindungen zwischen den Biografien offengelegt - dies erlaubt, liest man quer, die Rekonstruktion ganzer Institutsgeschichten, aber auch von taktischen Bündnissen, Gutachterzirkeln oder Biografien nicht ausdrücklich behandelter Wissenschaftler. Die für sich allein schon beeindruckenden, manchmal auch bestürzenden Lebensgeschichten verknüpfen sich zu einem Soziogramm, einer Art Milieustudie, die den Schatten des Verdachts, der in autoritären Systemen über geistiger Arbeit schwebt, eindringlich darstellt. Dass gerade die polnische Germanistik Gegenstand dieses Buches ist, erweist sich vor diesem Hintergrund als Glücksfall, stand diese doch in kommunistischer Zeit schon aufgrund ihres Gegenstandes oft in dem unausgesprochenen Verdacht, die Sache "des Feindes" zu vertreten - und dies, obwohl viele der hier Porträtierten während der NS-Zeit aktiven Widerstand gegen die deutsche Schreckensherrschaft geleistet und nicht wenig unter ihr zu erleiden hatten (viele arbeiteten im polnischen Untergrund, Jan Piprek, Elida Maria Szarota und Arno Will wurden von den Deutschen zeitweise inhaftiert, Ryszard Ligacz in den KZs Dachau und Mauthausen interniert, Zygmunt Łempicki in Auschwitz ermordet). Wie kaum ein anderer intellektueller Beruf sah sich der des polnischen Germanisten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg allen für das realsozialistische System typischen Gefahren, Widersprüchen und Beengungen ausgesetzt. Die ausführlichen Lebensläufe zeigen den Umgang der Einzelnen mit diesen Umständen und enthüllen erstaunliche Beispiele sowohl stillen Heldentums als auch individuell begründeter Anpassung unterschiedlicher Reichweite.
Dass dabei auch auf die Akten des Instituts für nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej) zugegriffen und Auskunft über Geheimdienstaktivitäten einiger Porträtierter eingeholt wurde, gehört zu den Selbstverständlichkeiten biografischen Forschens. Nicht selbstverständlich aber ist, wie minutiös insbesondere Marek Zybura in seinem Beitrag über Marian Szyrocki zwischen nachweisbarer politischer Verwicklung und ebenso nachweisbarer positiver wissenschaftlicher, didaktischer und menschlicher Wirkung Szyrockis zu differenzieren und zu vermitteln versucht.
Dieser Band macht es sich nicht einfach. Am Beispiel der polnischen Germanistik seziert er die teilweise noch immer unbeantworteten existenziellen Fragen, die das 20. Jahrhundert in all seiner Unerbittlichkeit auch der Nachwelt noch stellt. Diese Sammlung von Biografien gehört zu den Büchern, die uns helfen, diese Epoche(n) und das Leben darin besser zu verstehen. Es gehört in jede Bibliothek und Büchersammlung, die sich mit der Geschichte Europas, seiner politischen Systeme und seiner Intellektuellen befasst.
Jürgen Joachimsthaler