Izabela Surynt / Marek Zybura (Hgg.): Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert (= Studia Brandtiana; 2), Osnabrück: fibre Verlag 2010, 398 S., ISBN 978-3-938400-55-5, EUR 35,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Band enthält die um einige Texte ergänzten Übersetzungen von Beiträgen eines deutsch-polnischen Forschungsprojekts, das in den Jahren 2004/2005 am Willy-Brandt-Zentrum der Universität Breslau (Wrocław) realisiert worden ist. Es hatte sich zum Ziel gesetzt, die Nationsentwürfe deutscher und polnischer Intellektueller insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert vor allem aus philologischer Perspektive zu beleuchten. Herausgekommen sind 16 sehr unterschiedliche Beiträge, die in ihrer Thematik an Fragestellungen erinnern, die in den letzten 25 Jahren auch in Deutschland - man denke an verschiedene Buchprojekte Andreas Lawatys - immer größeres Interesse gefunden haben.
Was dem Buch fehlt, ist ein grundsätzlicher einführender Beitrag, der die Vielfalt der Stellungnahmen zu nationalen Narrativen zu bändigen und zu erläutern versucht. Hubert Orłowskis verschriftlichter Prager Vortrag aus dem Jahre 2002 sieht man leider seine Zeitgebundenheit acht Jahre später deutlich an; Walter Schmitz bietet eine solide Analyse einzelner Aspekte, die vor allem bei der Interpretation des Werkes von Gerhart Hauptmann Interessantes zu Tage fördert, und Jürgen Joachimsthaler diskutiert in seinem hochanspruchsvollen, dadurch aber äußerst hermetisch geratenen Text zu Nation, Stil und Aufschub höchstens noch mit Martin Heidegger, ansonsten aber vor allem mit sich selbst (siehe den Hinweis auf Seite 47).
Aus diesem Grund muss man den Blick doch eher auf die Fallstudien der übrigen Autorinnen und Autoren richten, die allerdings dann tatsächlich zum großen Teil spannende Erkenntnisse und Analysen bieten. Besonders zu nennen sind die Beiträge, die sich nicht in einer reinen Exegese einzelner literarischer Werke erschöpfen, sondern einen weitergehenden Anspruch haben. Besonders für den deutschsprachigen Leser bietet etwa German Ritz' Analyse der polnischen romantischen Figur des Kosaken zwischen viriler Projektionsfläche und slavophiler Vorzeigegestalt auf der einen und dem bedrohlich unzivilisierten Gefahrenbringer aus dem Osten auf der anderen Seite eine Fülle neuer Ansatzpunkte für eine noch längst nicht geschriebene histoire croisée Osteuropas mit polnisch-(litauisch-)ukrainischem Schwerpunkt.
Ähnliches kann man über das - freilich ungleich bekanntere - Kreuzrittermotiv im polnischen beziehungsweise preußischen Diskurs des 19. Jahrhunderts sagen, das von Marek Zybura beziehungsweise Izabela Surynt untersucht wird und ungleich heterogener ausfällt, als es die Interpretationen des 20. Jahrhunderts vermuten lassen würden. Dazwischen geschoben ist der durch seine Sprache erfrischende Beitrag Piotr Przybyłas über die deutschen und polnischen Tannenberg/Grunwald-Imaginationen vor dem Ersten Weltkrieg - wunderbar etwa seine Formulierung zur Marienburg des frühen 19. Jahrhunderts, dieser bereits geformte Datenspeicher sei nicht mit politischer Semantik aufgeladen, sondern (ganz konkret) mit Getreide zugeschüttet worden.
Rudolf Urbans Untersuchung von Clara Viebigs Erfolgsroman "Das schlafende Heer" von 1902 ordnet sich in eine Reihe von Beiträgen gerade der polnischen Germanistik zu diesem Thema der letzten Jahrzehnte ein, bewertet allerdings vielleicht den antipolnischen Gehalt dieses Buches eine Spur zu stark, zudem fehlen hier Hinweise auf ältere Untersuchungen etwa von Urszula Michalska und Edyta Wnuk . [1] Magdalena Lasowy bietet in ihrer Gegenüberstellung der Bilder vom städtischen Raum in den Werken von Gustav Freytag und Bolesław Prus eine Fülle interessanter Erkenntnisse zum Zusammentreffen adliger und bürgerlicher Welt, die bei den beiden Autoren bei allen Gemeinsamkeiten letztlich doch ganz unterschiedlich ausfällt.
Zu erwähnen ist schließlich noch die luzide Analyse der "Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft" von Adam Mickiewicz als stringente Anti-Hegel-Erzählung durch die Breslauer Germanistin Mirosława Zielińska, auch das ein Beispiel für die enge Verflechtung deutscher und polnischer historiosophischer Diskurse im Jahrhundert der Romantik.
Insgesamt zeigt sich in diesem Band, dass es sich weiterhin lohnt, kulturwissenschaftliche Fragestellungen auf die deutsch-polnische Geistesgeschichte, gerade auch die Literaturwissenschaft, anzuwenden. Allerdings lässt es sich schon fragen, ob es Sinn macht, in eine Nicht-Eingeweihten kaum verständliche Fachsprache zu verfallen, die letztlich von der Lektüre der behandelten Werke nur abschreckt, wie es in einigen Beiträgen der Fall ist.
Anmerkung:
[1] Urszula Michalska: Clara Viebig. Versuch einer Monographie, Poznań 1968; Edyta Wnuk [Trebaczkiewicz]: Kolonizacja niemiecka na ziemiach polskich w "Placówce" Bolesława Prusa i w powieści Clary Viebig "Das schlafende Heer" [Die deutsche Kolonisation in den polnischen Gebieten in den Romanen "Der Vorposten" von Bolesław Prus und "Das schlafende Heer" von Clara Viebig], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Szczecińskiego 241, Slavica Stetinensia 8, Szczecin 1998, 51-61.
Markus Krzoska