Conrad Schetter / Stephan Conermann / Bernd Kuzmits (Hgg.): Die Grenze Asiens zwischen Globalisierung und staatlicher Fragmentierung (= Bonner Asienstudien; Bd. 4), Schenefeld: EB-Verlag 2010, 289 S., ISBN 978-3-936912-57-9, EUR 38,00
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Stephan Conermann / Gül Şen (eds.): Slaves and Slave Agency in the Ottoman Empire, Göttingen: V&R unipress 2020
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Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den damit einhergehenden Verschiebungen im politischen Gleichgewicht der Mächte sowie im Zuge der zunehmenden globalen wirtschaftlichen Integration sind "Grenzen" als eigener Forschungsgegenstand in den Fokus der Geisteswissenschaften getreten. Im weitesten Sinne lassen sich sogar die These Francis Fukuyamas vom "End of History" auf der einen und die gewissermaßen gegenläufige These Samuel Huntingtons vom "Clash of Civilizations" auf der anderen Seite in diese Diskussion einordnen. Ist die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges tatsächlich "entgrenzt", "grenzenlos" oder formieren sich nicht eher neue Konfliktherde entlang der Grenzen zwischen Zivilisationen? Zugespitzt gefragt: Hat die Bedeutung von geographischen und auch kognitiven Grenzen in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht stark abgenommen oder sind Grenzen heute verfestigter als zuvor?
Abseits dieser makrohistorischen Betrachtungsweise wird es noch spannender. Sind Grenzen in der bisherigen, besonders in Deutschland etatistisch geprägten Diskussion als Trennlinien zu betrachten oder wohnt ihnen nicht auch die gegenteilige Funktion inne, die eine Durchlässigkeit, eine Verbindung von Menschen und Waren herstellt, ihre Membranfunktion also? Was besagt die Aufweichung von Grenzen durch die Erosion staatlicher Verfügungsgewalt in manchen Staaten (z.B. in Somalia) und die damit einhergehende Regionalisierung und Fragmentierung über den Charakter von Grenzen? Welche Auswirkungen hat die Konzeption von Grenzen überhaupt für die individuelle und kollektive Interaktion mit dem jeweils "Anderen", dessen Kreation scheinbar notwendig ist, um das "Wir" zu definieren?
Es ist den Herausgebern und Autoren des Sammelbandes "Die Grenzen Asiens zwischen Globalisierung und staatlicher Fragmentierung" zu danken, dass sie im Gewirr dieser manchmal widersprüchlich erscheinenden Fragestellungen einen geraden Faden spinnen. Durch die Konzentration auf eine geographische Region werden die Generalisierungen von Fukuyama und Huntington vermieden und der Blick zielpunktgenau auf konkrete Konstitutionen von Grenzen gerichtet - bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Ergebnisvielfalt und Fruchtbarkeit des Forschungsstands. Bereits die hilfreiche Einleitung der drei Herausgeber streicht die zentralen Fragestellungen des aktuellen Forschungsstands heraus und bietet dem Leser erste Anknüpfungspunkte. Was folgt, ist eine Reise entlang der geographischen, politischen, sozialen und kognitiven Grenzen Asiens.
Und dem Reisenden wird schnell bewusst, wie divers die Denk- und Forschungsansätze auch in diesem Band sind. Um dies zu verdeutlichen, seien im Folgenden drei der zehn Beiträge näher genannt. So untersucht Bekim Agai drei Reiseberichte des 19. Jahrhunderts (des osmanischen Gesandten Muhibb Effendi, des ägyptischen Reformers Rifa'a al-Tahtawi und Helmuth von Moltkes) als Quelle der mentalen Grenzziehung zwischen "West" und "Ost". Dabei wird schnell ersichtlich, dass die herangezogenen Reiseberichte wenig über das Andere verraten, dafür aber umso mehr über das Selbst des Autors, seiner kulturellen Gruppe und deren Identität. Die Fremde fungiert (vor allem im Beispiel Moltkes) zumeist als passive Projektionsfläche der eigenen Wert- und Moralvorstellungen, und selten als deren Spiegel. Die Entwicklungen in Technik und Infrastruktur des Transportes erleichterten das Reisen zwischen Ost und West im 19. Jahrhundert, doch die erleichterte physische Überwindung von geographischen Grenzen führte nicht zu einer Überwindung der Abgrenzung vom Fremden. Die Grenzen im Kopf blieben (und bleiben?) bestehen.
Eine "harte" Grenze zeigt Melanie Carina Schmoll in ihrer Analyse der israelisch-jordanischen Staatsgrenze auf. Sie kommt zu dem Schluss, dass "[...] der Nahe Osten eine Region bleibt, in der territoriale Integrität, nationalstaatliche Sicherheit und Grenzziehung auch im Zeitalter der Globalisierung weiterhin eine immense Rolle spielt. [...] Ein Rückgang in der Bedeutung terrestrischer Grenzen ist also nicht zu beobachten." Keine Spur von einer grenzenlosen Welt. Doch wird dieses Ergebnis der Untersuchung durchaus positiv gewendet, da erst durch die Existenz einer "harten" Grenze zwischen den beiden Staaten seit 1994 eine Art von Nachbarschaft in Sicherheit entstand. Die Grenzziehung als Akt der identifikatorischen Selbstfindung und Selbstlegitimation - in beiden Staaten von Bedeutung - führte so zu einer Verbesserung des Verhältnisses nach Jahrzehnten der Unsicherheit. Der Bau einer "Friedensuniversität" genau auf der israelisch-jordanischen Grenzlinie ist das Sinnbild für diese Entwicklung.
Bernd Kuzmits beschreibt in seiner Betrachtung der afghanischen Nordgrenze entlang des Amudarja (Oxus) die historische Entwicklung dieser geographischen, seit Jahrtausenden eingeschriebenen Grenze, die trotz (oder wegen?) ihres Alters alles andere als einen statischen Charakter besitzt. Die ständige Transformation der Nordgrenze Afghanistans wird in Anlehnung an die vorgeschlagene Grenztypologie von Baud und van Schendel als Lebenszyklus dargestellt: Von einem Ort des unkontrollierbaren Menschen- und Güterverkehrs über die Entstehung eines Bewusstseins der (politischen, kulturellen, ökonomischen) Fremdheit der Anderen und der Koexistenz entlang einer Trennlinie, die unkontrollierte Grenzüberschreitungen zu verhindern suchte, zur Frontlinie nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und schließlich zu einer porösen, nicht-staatlichen Zone nach dem Zerfall der Sowjetunion. Je tiefer die Betrachtung auf lokale Ebene vorstößt (hier hätte eine Landkarte dem Leser Erleichterung verschaffen), desto deutlicher tritt hervor, wie komplex die staatlichen, wirtschaftlichen, religiösen und klientelistischen Beziehungen an der afghanischen Nordgrenze tatsächlich sind.
Weitere Themen wie der Einfluss des Great Game auf die Grenzziehungen des späten 19. Jahrhunderts (Durand-Linie zwischen Afghanistan und Pakistan; Kaschmir-Frage) und Transnationalität als realpolitischer Gegenpol einer entgrenzten Welt sowie die im vorliegenden Band dankenswerterweise behandelte Frage nach der Rolle von Migration in einer "globalisierten" Welt runden die Untersuchungen ab. Es ist den Herausgebern und Autoren gelungen, trotz dieser thematischen Vielfalt den Fokus ihrer Untersuchung klar zu richten. Weder die "westlichen" Konzepte von Globalisierung und "Free World" noch das islamische Konzept der Umma von der "Aufhebung" der Nationalstaaten in einer grenzenlosen Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen haben zu einem global zu konstituierenden Bedeutungsverlust von Grenzen geführt. Gerade durch den Blick auf und aus Asien wird dies deutlich. Ob und wie Grenzen wahrgenommen werden, welche Funktion sie haben, hängt von der mentalen, lokalen, historischen, ökonomischen und sozialen Situation einer Gruppe oder eines Individuums ab. Dem Banker in der City of London erscheint die Welt nicht nur als grenzenloser als vor einem halben Jahrhundert - für ihn mag sie es tatsächlich sein. Ein Migrant in Südostasien oder eine Gruppe von Paschtunen an der afghanisch-pakistanischen Grenze hingegen sind mit anderen Realitäten von Grenzen und Grenzziehungen konfrontiert.
Jan Aengenvoort