Matthias Tischler / Alexander Fidora (Hgg.): Christlicher Norden - Muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter (= Erudiri Sapientia. Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte; Bd. VII), Münster: Aschendorff 2011, 792 S., ISBN 978-3-402-10427-9, EUR 89,00
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Die Begegnung von Judentum, Christentum und Islam auf der Iberischen Halbinsel im Mittelalter findet momentan großes Interesse in der internationalen und insbesondere auch der deutschsprachigen Mediävistik. In den vergangenen Jahren haben sich hierzulande etliche Forschungsprojekte verschiedener Disziplinen der Thematik angenommen, zahlreiche Studien sind erschienen. Der zu besprechende Band geht auf eine große, internationale Tagung aus dem Jahr 2007 in Frankfurt am Main zurück, auf der Spanienspezialisten verschiedener Fachrichtungen zusammenkamen.
"Christlicher Norden - Muslimischer Süden" - dieser im Haupttitel des Tagungsbandes evozierte diachrone Zugriff auf das iberische Mittelalter findet sich in den Einzelbeiträgen nur selten wieder. Diese entwerfen vielmehr ein vielfarbiges Bild von Integrations- und Desintegrationsprozessen, von dynamischen, immer wieder neu zu verhandelnden kulturellen Ordnungen, von liminalen und hybriden Identitäten. Bezüglich des Raums (wobei eine Verknüpfung geographischer und kulturell-religiöser Ordnungen berechtigterweise wiederholt hinterfragt wird) tritt neben die Gegenüberstellung von Nord und Süd unter anderem die Begegnung von Orient und Okzident auf der mittelalterlichen Iberia. Dem tragen die Herausgeber, Alexander Fidora und Matthias M. Tischler, in ihren einleitenden Bemerkungen Rechnung: Sie möchten das Motto des Bandes in offener Form verstanden wissen, es solle "vielerlei Assoziationen frei[setzen]"(13). So formulieren sie den Wunsch "alte und neue Gesprächshorizonte [zu] eröffnen, die nicht in einer reduktionistischen Zuordnung von Religionen oder Kulturen zu geographischen Regionen unserer Erde einem neuen Blockdenken das Wort reden möchte" (14). Stattdessen wollen sie die Iberische Halbinsel im Mittelalter "nicht so sehr als einen Raum der Konfrontationen von "Religionen" und "Kulturen", sondern eher als einen Raum von religiösen und kulturellen Passagen verstanden wissen, die sich in seinen diversen Gesellschaften stets von neuem ereignen" (28). Vor diesem Hintergrund möchte der Band eine "intellektuelle Topographie des iberischen Raumes im Hoch- und Spätmittelalter" entwerfen (29).
Die Beiträge sind, neben einem eröffnenden Überblick über die mittelalterliche iberische Geschichte von Klaus Herbers ("Christen, Juden und Muslime. Kontakte und Abgrenzungen während des hohen Mittelalters auf der Iberischen Halbinsel") und einem, den inhaltlichen Teil des Bandes abschließenden Ausblick in die Frühe Neuzeit von Mariano Delgado ("Zur Führung bereit oder Eine Nation findet ihre historische Bestimmung. Spanien um 1500"), sechs thematischen Abschnitten zugeordnet. Die ersten beiden behandeln Transfer- und Transformationsprozesse aus arabisch-islamischen Traditionen: Die Beiträge in "Mobilität von Texten und künstlerischen Ausdrucksformen" widmen sich der Übertragung von naturkundlichem und philosophischem Wissen, von Architektur und Kunst durch Juden und Christen, während der konkrete Umgang mit arabischen Texten im Zentrum des Kapitels "Techniken der Kommentierung als Wege der Annäherung" steht. Der dritte Abschnitt "Formen der reflexiven Lektüre und Widerlegung" hat Auseinandersetzungen mit theologischen Schriften der jeweils anderen Religionen zum Thema.
Kulturelle Grenzgänger werden in "Liminalität und Fragilität der Akteure" behandelt, wobei ein Schwerpunkt dieses Kapitels auf den Juden liegt. Anna Akasoy arbeitet in ihrem Beitrag ("Al-Andalus in exile. Identity and diversity in Islamic intellectual history") am Beispiel von muslimischen Gelehrten aus al-Andalus heraus, wie problematisch eine kollektive Zuweisung kulturell-religiöser Identitäten sein kann. Sie berge die Gefahr, den Blick auf die vielschichtigen und facettenreichen Verhältnisse innerhalb der religiösen Großgruppen zu verstellen. Akasoys Plädoyer für eine differenziertere Zuweisung von Identitäten weist über ihr spezifisches Themengebiet hinaus und lässt sich auf andere Bereiche mittelalterlicher, nicht allein iberischer Geschichtswissenschaft übertragen [1].
Der "christliche Norden" und der "muslimische Süden" begegnen als dichotome kulturell-geographische Ordnungskategorien noch am ehesten in den Beiträgen des Abschnitts "Stabilisierung durch Schriftlichkeit und Institutionalität", in dem es um Maßnahmen geht, die dazu dienen sollten "die eigene Identität gegenüber dem religiös Anderen oder gar Fremden [...] zu schärfen und stabilisieren" (31). So kann Matthias Maser ("'Hispania' und al-Andalus. Historiographische Selbstpositionierungen im Spannungsfeld von Identität und Alterität") an einigen historiographischen Werken aufzeigen, wie Einheiten konstruiert wurden, um partikularistischen Tendenzen kollektive Identifikationsmuster entgegenzusetzen.
Ein weiterer Themenabschnitt führt schließlich zu "Konzepte[n] der Mission und des Dialogs". Das ausführliche Register, das neben Orten und Personen auch heilige Schriften, Autoren und Werke sowie Handschriften erfasst, erschließt den Themenband für spezifische, weiterführende Fragestellungen. Das übergreifend angelegte Literatur- und Quellenverzeichnis stellt zwar einerseits, angesichts der thematischen und fachlichen Breite der Beiträge, eine sehr gute und relativ aktuelle Bibliographie dar, andererseits erschwert es jedoch denjenigen Lesern die Lektüre, die nicht den gesamten Band vor sich liegen haben.
Vollständigkeit kann angesichts eines derart variantenreichen Themas nicht Ziel einer solchen Publikation sein. Dennoch sei erwähnt, dass die "islamische Perspektive" unterrepräsentiert bleibt, was die Herausgeber selbst bedauernd feststellen und auf die Schwierigkeit zurückführen, geeignete Fachvertreter zu finden (32f.). Wünschenswert wäre im Hinblick auf die Akteure auch die Berücksichtigung weiterer "Grenzgänger", wie beispielsweise den sogenannten Mozarabern [2] und Mudejaren gewesen, die sich eindeutigen kulturellen Zuordnungen entziehen und dadurch beispielhaft die Komplexität und die Dynamiken in den interreligiösen Verhältnissen auf der Iberischen Halbinsel verdeutlichen können. Insgesamt ist die Zielvorgabe der Herausgeber, verschiedene "Ansätze [...] zur Erforschung des interreligiösen und interkulturellen Agierens auf der Iberischen Halbinsel [...] miteinander ins Gespräch zu bringen" (30), durchaus gelungen. Der umfangreiche Band bietet mit seinen insgesamt 29 durchweg fundierten Beiträgen, von denen hier leider nur einige wenige angesprochen werden konnten, einen querschnittartigen Einblick in die Thematik und eröffnet gleichzeitig zahlreiche spannende Perspektiven für weiterführende Studien.
Anmerkungen:
[1] Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf die christliche Bevölkerung in al-Andalus im 12. Jahrhundert: Wiebke Deimann, Christen, Juden und Muslime im mittelalterlichen Sevilla. Religiöse Minderheiten unter muslimischer und christlicher Dominanz (12. bis 14. Jahrhundert) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt; 9), Münster u. a. 2012, 128-133.
[2] Die Mozaraber waren Gegenstand des interdisziplinären Erlanger Forschungsprojekts "Die Mozaraber. Kulturelle Identität zwischen Orient und Okzident". Vgl. bislang zu den Ergebnissen: Die Mozaraber, hg. v. Matthias Maser und Klaus Herbers (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt; 7), Münster u.a. 2011.
Wiebke Deimann