Alexander Jendorff: Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 9), München: Oldenbourg 2012, VIII + 287 S., mit 9 s/w-Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-486-70709-0, EUR 44,80
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In den Jahren 1574 und 1575 fand vor dem Hofgericht des Kurfürsten von Mainz ein Mordprozess gegen den Eichsfelder Niederadligen Barthold von Wintzingerode statt, der mit einem Schuldspruch und der Hinrichtung des Angeklagten am 22. September 1575 endete. Es war, auch in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts, keineswegs sensationell, dass ein Ritter gewaltsame Auseinandersetzungen führte, dass Adlige den Tod von Untergebenen ihrer Gegner vielleicht nicht zum ersten Ziel ihres Handelns erklärten, ihn jedoch billigend in Kauf nahmen und im Sinne der Darstellung und Durchsetzung von Ansprüchen nutzten. Schließlich galten die Demonstration von physischer Gewaltfähigkeit und der Verstoß gegen rechtliche Regelwerke als ein anerkanntes Merkmal aristokratischer Männlichkeit. Insofern stellte Barthold von Wintzingerode keine Ausnahme innerhalb seiner sozialen und kulturellen Gruppe dar; erklärungsbedürftig erscheint vielmehr, dass sein Handeln den Zeitgenossen - der kurfürstlichen Obrigkeit ebenso wie einer großen Zahl seiner Standesgenossen - als verbrecherisch und strafwürdig erschien und dass gegen ihn ein juristisches Verfahren mit aller Konsequenz durchgeführt wurde.
Alexander Jendorffs Studie unternimmt den Versuch eben dieser Erklärung. In diesem Zusammenhang benennt der Verfasser drei "Kernthemen", mit deren Hilfe er die Kontroverse um den eigensinnigen Niederadligen entschlüsselt: die zwischen Adel und Landesherrn umstrittenen Auffassungen von "politischer Kultur" in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, konkurrierende Optionen von "Adeligkeit" und die zwischen wissenschaftlicher Historiographie und populärer Erinnerung schwankenden Formen des Gedenkens an die "Causa Wintzingerode" im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Der Verfasser entfaltet sein Thema - bzw. seine Themen - gewissermaßen mikroskopisch und in aller Breite; doch während es im Rahmen der Darstellung und Analyse des Falles Wintzingerode durchaus Kürzungspotential gegeben hätte, wäre andererseits ein konsequenter Vergleich mit anderen Adelsbiographien im Reich und im Europa des 16. Jahrhunderts notwendig gewesen, um die Frage nach der Einmaligkeit oder Beispielhaftigkeit der untersuchten "Causa" angemessen zu beantworten.
Jendorff betont zu Recht, dass trotz der unbestreitbaren Konjunktur der Adelsgeschichte innerhalb der Frühneuzeitforschung das Wissen um den landsässigen Niederadel deutlich hinter dem Kenntnisstand zum fürstlichen Adel oder zur Reichsritterschaft und zum Stiftsadel zurückbleibt. Allerdings hatten die massiven Umbrüche des 16. Jahrhunderts - die Kriminalisierung der Fehde, die Neugewichtung der Justiz für die fürstliche Herrschaft und die Spielräume adligen Handelns, also die intensivierte Staatswerdung - vor allem für den mediaten Adel gravierende Konsequenzen, und die Dramatik des Falles Wintzingerode erklärt sich vor allem daraus, dass hier eine traditionelle Form von adligem Selbstbehauptungswillen und ein neuer Anspruch von fürstlicher Herrschaft spektakulär kollidierten.
Dabei stellt das Eichsfeld als periphere Region innerhalb des Mainzer Kurstaats zunächst alles andere als ein prädestiniertes Laboratorium frühstaatlicher Integration dar; vielmehr nutzte der regionale Adel die Ferne zum Landesherrn und die Nähe zu konkurrierenden Fürsten, um Lehensverbindungen und Dienstverhältnisse zu begründen, die über den geopolitischen Raum des Eichsfelds hinauswiesen und Alternativen zur Mainzer Herrschaft darstellten. Das einmütige Bekenntnis des Eichsfelder Adels zum Protestantismus war ein Zeichen für diese Distanz zum Kurfürsten wie auch ein Mittel zur Herstellung von aristokratischer Unabhängigkeit, wobei die konfessionelle Homogenität keinesfalls die Abwesenheit von inneradligen Konflikten bedeutete - fast im Gegenteil, wie die Vita des Barthold von Wintzingerode zeigt.
Die Wintzingerodes waren Vasallen der Grafen von Hohnstein, doch Barthold besaß zusätzlich Lehen von sechs weiteren Herrschaften; als Kriegsunternehmer kleineren Stils kämpfte er im Dienst zahlreicher europäischer Monarchen und Fürsten des Reichs, und er verfügte aufgrund familiärer Konstellationen und dank seiner militärischen Aktivitäten über überdurchschnittliche materielle Ressourcen - beste Voraussetzungen für das selbstbewusste Auftreten als "freier, eigenmächtiger Herr" (54). Diese Haltung jedoch setzte Barthold zunehmend in Gegensatz zu seinen Vettern im Besonderen und zur Eichsfelder Adelsgesellschaft im Allgemeinen: Im Jahr 1560 strengten Hans und Bertram von Wintzingerode vor dem Reichskammergericht einen Prozess gegen ihren Vetter Barthold an; im Frühjahr 1568 ließ der Graf von Hohnstein den Sitz Bartholds, die Burg Bodenstein, stürmen. Barthold konnte diesen Angriff jedoch abwehren und erhob seinerseits im Jahr 1572 vor dem Reichskammergericht Klage wegen Landfriedensbruchs. 1573 baten die Wintzingeroder Vettern den Mainzer Kurfürsten um Schutz gegen Barthold, nachdem dieser zuvor seinerseits den Erzbischof um Schutz gegen seine Vettern angerufen hatte, und im Rahmen einer Reise des Kurfürsten ins Eichsfeld wurde im Sommer 1574 die Burg Bodenstein erneut gestürmt, diesmal erfolgreich, Barthold gefangengenommen und vor dem kurfürstlichen Hofgericht angeklagt, im Zusammenhang mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit seinen Vettern im Februar 1573 deren Förster ermordet zu haben.
Nun konnte man den gewaltsamen Tod des Arnold Geilhausen zwar tatsächlich als "Mord" bezeichnen, doch im Rahmen der zeitgenössischen Konfliktkultur des Niederadels barg dieser Todesfall zunächst nicht das Potential für einen lebensgefährlichen Gerichtsprozess. Dass er sich für Barthold als solcher entpuppte, lag vielmehr daran, dass er keinen Rückhalt innerhalb seiner Verwandtschaft besaß, innerhalb des regionalen Adels isoliert war und die Unterstützung der traditionellen Oberherrschaft seiner Familie, der Grafen von Hohnstein, verspielt hatte: Insofern hatte er selbst - im Konzert mit seinen Vettern - ein Machtvakuum, einen Bedarf an Herrschaft produziert, die der Mainzer Kurfürst nutzte, um seine Ansprüche mit Hilfe eines Gerichtsverfahrens machtvoll durchzusetzen.
Im Rahmen dieses Prozesses wurden rhetorische Muster der Diskreditierung Bartholds aufgegriffen, die bereits von den Anwälten der Grafen von Hohnstein im Reichskammergerichtsprozess des Jahres 1572 entwickelt worden waren: seine Charakterisierung als "Tyrann", eine Strategie, die weniger auf tatsächliche Praktiken des Angeklagten abzielte (die sich ja von denen seiner Zeit- und Standesgenossen nur in Nuancen unterschieden), sondern die das Ergebnis seiner Lösung aus unmittelbaren regionalen und familialen Kontexten war. Die in Mainz zahlreich vertretene "Freundschaft" Bartholds bemühte sich mit dem Appell an die Gnade des Kurfürsten, das Leben und die Ehre des Angeklagten zu retten; dabei wurde eine bestimmte Auffassung von "Adeligkeit" gegen die strikte Befolgung der juristischen Norm bzw. die Eigengesetzlichkeit des rechtlichen Verfahrens ausgespielt - und in der Analyse von Jendorff war es eben dieser Gegensatz, der in den Jahren 1574 und 1575 in Mainz eigentlich verhandelt wurde. Dabei sollte jedoch das Konzept des "Adels" nicht zu strikt gegen die auf der gelehrten und institutionalisierten Justiz basierende frühmoderne Staatlichkeit ausgespielt werden; es ging vielmehr um die Frage, inwieweit "Adeligkeit" selbst auf juristischen Normen beruhte, ja ein rechtlich beschreibbares und durch das Recht geschütztes Phänomen war.
Im 19. Jahrhundert erlebte Barthold zunächst eine Renaissance als liebenswerter Hausgeist der Wintzingerodes, bis er in den Schriften seiner Nachfahren zum Vorkämpfer urtümlicher Männlichkeit, adliger Unabhängigkeit und protestantischer Freiheit avancierte; der Tyrann war nunmehr nicht mehr er, sondern der Mainzer Kurfürst. Wenig überraschend stand diese Deutung der Vergangenheit im Kontrast zu einer katholisch dominierten Geschichtsschreibung, wobei mit diesen konkurrierenden Perspektiven auf das Reich der Frühen Neuzeit auch unterschiedliche Wahrnehmungen des Wilhelminischen Kaiserreichs und der Rolle, die die Konfessionen im preußisch dominierten Deutschland spielen sollten, verhandelt wurden.
Vor allem im ersten Teil vermittelt diese Studie wertvolle Erkenntnisse über die Kultur des frühneuzeitlichen Ritteradels, die Entwicklung frühmoderner Staatlichkeit und den Stellenwert der Justiz für dieses Verhältnis. Besonders überzeugend ist die Analyse der Wahrnehmung des obrigkeitlichen Rechtssystems durch den Adel: Diesem erschien die Justiz als ein gewalttätiges, oft zynisch gebrauchtes Instrument zur skrupellosen Durchsetzung von Partikularinteressen, mit dessen Hilfe zwar nicht der Adel an sich, wohl aber tradierte Erscheinungsformen von Adeligkeit ausgelöscht wurden, und damit auch Rechtsvorstellungen und rechtliche Praktiken, die zunächst keineswegs als weniger "gerecht" wahrgenommen wurden als Prozesse, die auf römisch-rechtlicher Grundlage geführt wurden. Dass Recht und Gerechtigkeit primär juristisch begriffen wurden, bedeutete tatsächlich einen Sieg des vormodernen Staates über seinen wichtigsten Gegner.
Christian Wieland