Andreas Fahrmeir: Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815-1850 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 41), München: Oldenbourg 2012, XII + 228 S., ISBN 978-3-486-70939-1, EUR 24,80
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"Eher eine Alternative denn als ein Ersatz" für den Vorgängerband in der gleichen Reihe, nämlich Langewiesches "Grundriss der Geschichte. Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849": So charakterisiert Fahrmeir seinen Grundriss (XI). Der Titel ist fast der gleiche. Fahrmeir schiebt jedoch zwischen "Restauration" und "Revolution" noch "Reform". Nicht bloß Restauration und Revolution charakterisieren die Zeit, sondern auch Reform. Sie ist die dritte Möglichkeit, "Herrschaftsverhältnisse an eine sich wandelnde soziale Ordnung" anzupassen (2). Wie und wie verschieden dies vor sich ging, will Fahrmeir zeigen - und das europaweit.
Fahrmeir behandelt nicht schwerpunktmäßig das eine oder andere Land. Das hat Langewiesche zumindest in Teilen seines Buches gemacht. Ganz Europa von Lissabon bis Moskau, von Neapel bis Stockholm ist Thema - und insbesondere auch "die Länder, die man allzu leicht zu einer 'Peripherie' Europas rechnet" (XI). Dazu gehören auch der Südosten Europas und das Osmanische Reich. Der Anspruch ist europäisch universal. Die Einlösung findet, wie der Verfasser auch freimütig zugibt, freilich seine Grenze an der Sprachkompetenz, und oftmals wird der Anspruch nur eingelöst in der Bibliographie. Vermutlich deshalb ist sogar Luxemburg mit einem eigenen kleinen Kapitel dort bedacht worden (181). Preußen indes wird diese Ehre nicht zuteil. Es wird recht allgemein unter die Rubrik "Deutsche Staaten" (179) subsumiert - nicht nur eine deutliche Absage an die nicht überall verstummten Abgesänge borussischer Geschichtsschreibung. Doch davon später.
Wie löst Fahrmeir seinen gesamteuropäischen Anspruch ein - und das auf 228 Seiten? Eine erste Antwort gibt die Gliederung. Alle Überschriften sind inhaltlich-thematisch und nicht politisch-geographisch gefasst. Nicht einmal in Unter-Überschriften finden sich Bezeichnungen wie "Frankreich" oder "Österreich", "italienisch" oder "deutsch". Mit der konsequenten Absage an politische Geographie unterscheidet sich dieses Buch von vielen anderen.
Stattdessen werden "Darstellung", "Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" und "Quellen und Literatur" - also die Standard-Hauptkapitel der gesamten Reihe - inhaltlich-thematisch untergliedert. Sie sind auch sprachlich weitgehend identisch gefasst. Die Teile des Werkes beginnen jeweils mit einem ersten Kapitel "Zur Charakteristik der Epoche". Hier werden jeweils knapp die allgemeinsten und übergreifendsten Merkmale der Zeit zwischen 1815 und 1850 thematisiert, z. B. das Problem der europaweit sehr unterschiedlichen Anpassungsstrategien von politischer Herrschaft an den Strukturwandel der Zeit, was zu höchst unterschiedlichen Ausformungen in den einzelnen Ländern geführt hat. Aber gerade die unterschiedlichen Ausformungen haben die auch vom Verfasser angesprochene Schwierigkeit zur Folge: Kann man diese Zeit europaweit überhaupt auf gemeinsame Nenner (oder Strukturen, die allem zugrunde liegen) bringen?
Ein zweites Kapitel behandelt dann "Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft". Es folgen die Kapitel "Die Restaurationszeit", "Revolutionen, Reformära und Vormärz" und abschließend "Die Revolutionen von 1848". Mit dieser Gliederung hat sich der Verfasser "für eine Betonung chronologischer Zäsuren vor dem Hintergrund graduellen Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft entschieden" (XI). Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft und ihr Wandel in der Zeit bilden also den "Hintergrund" für die Darstellung und eben nicht die (nationale) Geographie. Der Ausdruck "Gradueller Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft" - Fahrmeir vermeidet hier den häufig mit Schulen assoziierten Begriff "Struktur" - ist vermutlich bewusst sehr weit gefasst.
In allen Kapiteln wird immer ein sehr weites Spektrum geboten: Innen- und Außenpolitik, Religion und bürgerliches Vereinswesen, Pauperismus und Freihandel und vieles, vieles andere mehr. Dabei werden sehr viele, sehr heterogene Gesichtspunkte, sehr verdichtet behandelt. Nur als ein Beispiel, folgt man den Lemmata am Rand: "Unter Künste und Wissenschaften" (52-55) kommen auf knapp vier (!) Seiten so unterschiedliche Dinge zur Sprache wie: "Anerkennung von Künstlern", "Kunstmärkte", "Kulturpublizistik", "Geniekult", "Romantik", "Publikum", "Schulwesen", "Wissenskanon", "Universitäten und Bildungsberufe", "Studium als soziale Distinktion", "Kosten", "Bildungsreformen", "Aufstieg neuer Wissenschaften", "Geschichte", "Naturwissenschaften" - und das noch länderübergreifend. 15 so verschiedene Themen auf ca. 180 Zeilen! Sehr verdichtet oder doch zu sehr verdichtet? Diese Dichte ist auch dem Zwang oder dem Selbstanspruch geschuldet, so vieles auf den für diese Reihe üblichen 200-250 Seiten zur Sprache bringen zu müssen.
Vielleicht sollten sich hier die Herausgeber der Reihe dazu durchringen, mehr Seiten oder mehr Bände zur Verfügung zu stellen, insbesondere dann, wenn sich die Perspektive so erfreulich auf das ganze Europa weitet, und wenn man anerkennen muss: Der Wissenschaftszuwachs und die Fülle der Forschungsergebnisse schreiten nicht nur in den Naturwissenschaften exponential fort. Bei der nur einmal gebotenen Knappheit muss es zwangsläufig zu Einwänden kommen wie: Der Verfasser habe dies und jenes zu sehr oder zu wenig berücksichtigt. Aber was immer man hier nennen mag: Solche Einwände hängen sehr stark ab, was jeder methodisch oder inhaltlich für wichtig hält.
Aber ein ganz anderer Kritikpunkt wird wohl bleiben, der freilich auch für manch anderes Werk der Grundriss-Reihe gilt: Wegen der Dichte wird es dem Anspruch der gesamten Reihe nicht mehr gerecht, die Darstellung so zu gestalten, "dass auch der Nichtfachmann, etwa der Germanist, der Jurist, der Wirtschaftswissenschaftler, sie mit Gewinn benutzen kann." (Vorwort der Herausgeber, IX). Adressaten sind eindeutig die Fachleute, und da mehr der Fachkollege und weniger der Fach-Studierende.
Aber die positive Kehrseite der Verdichtung: Das Buch ist erfreulich breit bei den behandelten Themen und Forschungsfragen, insbesondere bei jenen, welche in der Geschichtswissenschaft in den Jahren nach dem Erscheinen des Vorgängerbandes verstärkt das Forschungsinteresse gefunden haben (z. B. Themen wie: "Nationale Imaginationen" und "Kolonialpolitik"). Der Fachkollege wird auf knappem Raum eine Fülle von Anregungen bekommen - gerade auf den Gebieten, auf die er sich nicht spezialisiert hat. Die große Besonderheit dieses Grundrisses: Fahrmeir bricht geradezu radikal mit nationaler Geschichtsschreibung. Das Buch gibt einen sehr verdichteten Forschungsüberblick zur Geschichte ganz Europas von 1815 bis 1850 mit all seinen Grundproblemen und Tendenzen, die sich freilich in veränderten Formen und mit unterschiedlichen historischen Lösungen überall in Europa stellen.
Es ist keine Addition von Nationalgeschichten, wie so viele andere Werke mit europäischem Anspruch. Es ist auch keine europäische Geschichte nach dem viel und zurecht kritisierten Motto: Für die Renaissance steht Italien, für den Absolutismus Frankreich, für die Industrielle Revolution England, sondern es ist ein eher seltenes Buch, das versucht, unter gleichen Fragestellungen die europäische Geschichte von 1815 bis 1850 zu behandeln, und das heißt nichts anderes als: Die Vielfalt Europas unter gemeinsame Nenner - Strukturen und Strukturanpassungsprobleme - zu bringen! Hier wird es absehbar Kontroversen geben. Denn es ist die Grundfrage berührt, der sich jeder Historiker stellen muss: Wie stelle ich Geschichte dar und welche Schwerpunkte setze ich?
Das Buch ist in der Tat, was der Verfasser im Vorwort sagt: eher eine - sehr dichte - Ergänzung zum Vorgängerband als ein Ersatz. So gesehen hat man jetzt zwei sehr verschiedene "Grundrisse" für denselben Zeitraum. Langewiesche bleibt unverzichtbar, gerade bei diesem so besonderen und unter europäischer Perspektive so besonders verdienstvollen Zuschnitt von Fahrmeir.
Manfred Hanisch