Manfred Scharrer: Der Aufbau einer freien Gewerkschaft in der DDR 1989/90. ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess, Berlin: De Gruyter 2011, XVI + 427 S., ISBN 978-3-11-025432-7, EUR 39,95
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Wer die zahlreichen Veröffentlichungen zur Friedlichen Revolution und zum Ende der DDR zur Kenntnis nimmt und die vielfältigen Veranstaltungen zu den jeweiligen Jahrestagen Revue passieren lässt, dem fällt eines auf: Die historische Zäsur von 1989, der tiefgreifende Umbruch in der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten scheinen sich ohne die Gewerkschaften abgespielt zu haben. Jedenfalls hat die zeitgeschichtliche Forschung deren Rolle in diesen Prozessen bislang kaum aufgegriffen - ein erstaunliches Faktum angesichts der systembedingt unterschiedlichen, ja entgegengesetzten, aber jeweils grundlegenden Bedeutung der Gewerkschaften in den beiden deutschen Staaten.
Es ist Manfred Scharrers Verdienst, diesem Manko am Beispiel der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV, heute ver.di) entgegenzutreten. Scharrers Buch basiert zum einen auf 20 Interviews, die er im Rahmen seiner Zuständigkeit für die Qualifizierung der in der ÖTV neu angestellten Kolleginnen und Kollegen aus der ehemaligen DDR ab Herbst 1990 geführt hat. Die Dokumentation dieser Interviews macht etwa zwei Drittel der Publikation aus. Darüber hinaus hat er Archivalien aus dem Bereich der ÖTV der Bundesrepublik (alt), des FDGB und vor allem eine Sammlung aus dem ver.di-Archiv auswerten können, die sämtliche Vorgänge des ÖTV-Vorstandssekretariats zur deutschen Einheit betreffen.
Angesichts dieser guten Quellenlage überzeugt der monografische Teil der Publikation nur bedingt. Alles in allem handelt es sich um eine umfangreiche Einleitung (152 Seiten) zur Dokumentation der Interviews. Und diese Einleitung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Bei einer ganzen Reihe von Kapiteln fragt man sich, an welches Publikum Scharrer sich eigentlich wendet. Dies gilt insbesondere für die einleitenden Überblickskapitel, die das Ende der SED-Diktatur und den Charakter des FDGB betreffen. Dass der FDGB keine Gewerkschaft im Sinne einer freien Interessenvertretung abhängig Beschäftigter war, sondern eine sogenannte Massenorganisation, die die "führende Rolle" der SED anerkannte, ist eine Binsenweisheit. Es ist sicher sinnvoll, einen Abriss zur Vorgeschichte zu präsentieren; dies gilt auch für die Haltung der DGB-Gewerkschaften, in deren Reihen sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre manch unkritische Haltung zur DDR feststellen und kritisieren lässt. Aber muss man noch einmal die Schlachten mit den einstmaligen DKP-Funktionären und ihren Sympathisanten in den Gewerkschaften schlagen? Angesichts des mitunter polemischen Tons wünscht man sich mehr wissenschaftliche Distanz.
Weit besser und vor allem informativer gelungen sind jene Abschnitte, die mit dem eigentlichen Sujet zu tun haben - dem Aufbau der ÖTV in der DDR. Scharrer beschreibt hier die jeweiligen Aktivitäten, sowohl auf bundesrepublikanischer Seite als auch auf Seiten der einstmaligen Industriegewerkschaften/Gewerkschaften im FDGB, die sich im Zuge der "Wende" um Eigenständigkeit in der einstmaligen Zwangseinheitsorganisation bemühten und sich teils neu gründeten. Dabei sind unterschiedliche Phasen festzustellen, erste Kontaktaufnahmen, Kooperationsansätze und schließlich die Entscheidung eine ÖTV in der DDR aufzubauen. Zur spannenden Frage, ab wann und wie weitgehend sich in der DDR unter dem Dach des FDGB Kritik und Reformforderungen entwickelten, liefert Scharrer ebenso Hinweise. Tatsächlich gab es erste Ansätze von Kritik im September 1989 zum Beispiel in der Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft. Dass es sich hierbei nicht um eine eindeutige Opposition gegen den FDGB und das SED-Regime handelte, ist offenkundig. Aber dass bei den Funktionären dieser wie anderer Gewerkschaften erst ein Umdenken eingesetzt habe, als die SED "ihr Ende" eingestanden habe, dieses Resümee Scharrers lässt sich mit dem von ihm präsentierten Material in dieser Generalisierung nicht halten. Dies gilt auch für das Beispiel der IG Bergbau und Energie, deren Sekretariatsmitglied Manfred Martin die Mitverantwortung der Gewerkschaft für das Desaster in der DDR übernahm. Gleichwohl konstatiert Scharrer, dass eine "ernsthafte Analyse der eigenen Geschichte und der Verantwortlichkeiten" nirgends stattgefunden habe. Angesichts der Systemgebundenheit der Funktionäre und der sich überstürzenden Ereignisse der Zeit war dies wohl nicht zu erwarten.
Organisationsgeschichtlich liefert Scharrer zahlreiche Details, die nicht nur den komplizierten Weg des Neuaufbaus angesichts völlig unterschiedlicher Organisationskulturen verdeutlichen, sondern die auch die Wichtigkeit der Organisation als solcher in dieser rasanten Umbruchzeit unterstreichen. Auch zu den unterschiedlichen "Befindlichkeiten" der Gewerkschafter-Ost und Gewerkschafter-West finden sich Hinweise - so etwa auf die "große Fremdheit", die sich unter den Delegierten des ÖTV-Kongresses im Februar 1991 (nicht 1990!) gezeigt habe (149). Systematisch untersucht hat Scharrer dieses Feld allerdings nicht, obwohl das Interviewmaterial dazu Grundlage geboten hätte. Für die Erfahrung der Transformation sind weitere Forschungen in jedem Fall erforderlich.
Die Dokumentation der Interviews ist eine wichtige Bereicherung der Quellengrundlage zum gewerkschaftlichen Einigungsprozess wie überhaupt zur Transformationsgeschichte in Deutschland ab 1989/90. Aber auch hier müssen Mängel vermerkt werden: An keiner Stelle der Publikation erfolgte eine methodische Reflexion, die Interviewpartnerinnen und -partner werden nirgendwo gezielt vorgestellt. Tatsächlich handelt es sich bei den Befragten um Funktionäre aus der DDR (insgesamt sieben) und vor allem um solche aus der Bundesrepublik, die Aufgaben beim Neuaufbau übernahmen.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Scharrer hat einen wichtigen Schritt unternommen, um die Geschichte der Gewerkschaften in der Umbruchs- und Vereinigungsphase in den Blick zu nehmen. Der Neuaufbau einer Gewerkschaft in nur kurzer Zeit war ein beachtlicher Prozess, zumal wenn man in Betracht zieht, dass diese Erneuerung mit westlicher Unterstützung zu einem großen Teil von "alten" Funktionären aus den DDR-Gewerkschaften bewerkstelligt wurde. Anstelle mancher verzichtbarer Allgemeinplätze wäre es wünschenswert gewesen, noch mehr über die oftmals widersprüchlichen und komplexen Abläufe zu erfahren. Mit der völlig zutreffenden Feststellung, dass die Reformimpulse im Herbst 1989 und in den folgenden Monaten nicht aus den Reihen der FDGB-Gewerkschaften kamen und dass sich die Gewerkschaften im DGB angesichts der Ereignisse zunächst überrascht und/oder zurückhaltend zeigten, ist die Forschung zu diesem jüngsten Kapitel der Gewerkschaftsgeschichte noch nicht abgeschlossen.
Detlev Brunner