Andreas Rüther: Region und Identität. Schlesien und das Reich im Spätmittelalter (= Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 20), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, IX + 346 S., ISBN 978-3-412-20612-3, EUR 44,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Mit "Region" und "Identität" hat der Mediävist Andreas Rüther zwei Fragestellungen für seine 2005 an der Universität Gießen angenommene und nun in einer aktualisierten Version erschienenen Habilitationsschrift gewählt, die für die historische Forschung schwierig zu fassen und operationalisierbar zu machen sind. Der Gegenstand, an dem er die mit den beiden Begriffen umschriebenen Forschungskonzepte erprobt, ist dementsprechend mit Bedacht ausgesucht: das spätmittelalterliche Schlesien. Während des Untersuchungszeitraums (circa 1350 bis circa 1500) stellte dieses ein Konglomerat strukturell und verfassungsrechtlich höchst heterogener Fürstentümer dar, mit denen sich der Verfasser seit Jahren intensiv befasst. Wie und warum diese Einzelterritorien im Verständnis sowohl ihrer Einwohner als auch der Außenwelt die Region Schlesien bildeten, versucht Rüther mit einem viergliedrigen Untersuchungsschema herauszuarbeiten, das die Makroebene der Verfassungsgeschichte mit der Mikroebene der Siedlungsgeschichte verbinden soll. Dabei stehen die Bewohner Schlesiens und ihre Vorstellung vom Raum im Mittelpunkt, wobei der Verfasser trotz seiner Frage nach der schlesischen Bindung an das Reich in prononcierter Abgrenzung zur älteren Forschung auf jeden Versuch einer nationalen Kategorisierung verzichtet.
In einem ersten Teil werden die drei klassischen sozialen "Felder" skizziert, in denen nicht nur in Schlesien Identitäten verhandelt und ausgeformt wurden: Kirche, Adel und Stadt. Im zweiten Teil analysiert Rüther "Verbindungen" sowohl innerhalb dieser Felder als auch mit deren außerschlesischer Umwelt, zum Beispiel anhand von innerstädtischen Konflikten, Mustern des Universitätsbesuchs oder der Karriere von Schlesiern am Hof der Landesherren. Das Schwergewicht im folgenden dritten Teil "Ausrichtungen" liegt auf den Außenbeziehungen, vor allem zum Gnesener Erzbistum und zum Königreich Böhmen. Da jedoch Schlesien gerade auch von innen heraus entstand, gehört zu den "Ausrichtungen" auch ein Unterkapitel "Behauptungshandeln und Landeswerdung", das versucht, die tragende Rolle landesherrlicher Amtsträger, besonders aber der Stände, bei der Konstituierung des Landes fassbar zu machen. Der vierte Teil "Vorstellungen" thematisiert Innen- und Außenbilder und deren eigenständige beziehungsweise bewusst geförderte Formierung zum Beispiel im Hedwigskult. Einzelne Bausteine, wie der schrittweise Übergang der Fürstentümer an Böhmen oder die durch Böhmen vermittelte verfassungsrechtliche Stellung Schlesiens zum Reich, kehren dabei ebenso wie einige prominente Persönlichkeiten mehrfach wieder, um aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet zu werden. Eine ausführliche Zusammenfassung in deutscher und polnischer Sprache bündelt schließlich in konzentrierter Form die Ergebnisse. Das Buch schließt mit einem knappen Abbildungsteil, der Zusammenstellung der benutzten Archive, dem eindrucksvollen Literaturverzeichnis (247-333) sowie Personen- und Ortsregistern.
Die multiplen Zugänge des Verfassers ermöglichen die Identifizierung wichtiger Bausteine für ein Verständnis spätmittelalterlicher Regionsbildung. Erwähnung verdienen etwa die von Rüther herausgearbeitete Tatsache der Konstituierung der Region weniger vom flächigen Raum als von Handlungsmittelpunkten her, seine Würdigung der Rolle der Breslauer Bischöfe oder auch die Relativierung der Bedeutung dynastischer Heiratspolitik für die Landeswerdung. Unter den Einzelergebnissen hervorzuheben ist zum Beispiel die Analyse der Instrumentalisierung der Hedwigsverehrung durch Ludwig I. von Liegnitz-Brieg im dynastischen Wettbewerb mit Karl IV. Weniger zu überraschen vermag die wiederholte Feststellung, dass Krisen und äußere Bedrohungen, insbesondere die Auseinandersetzung mit den Hussiten, für die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls wichtig waren.
Facettenreich werden daneben auch die Hemmnisse herausgearbeitet, die der Ausbildung einer gesamtschlesischen Identität am Ende des Mittelalters eigentlich im Weg standen: die naturräumliche Uneindeutigkeit der Grenzen, das beständige Fehlen eines Zentrums höchsten Ranges innerhalb des Landes, die Zersplitterung der Fürstentümer, die Ausrichtung des kirchlichen Netzes auf widersprüchliche Pole, vor allem durch die nie gelöste Zugehörigkeit zu Gnesen, sowie speziell das dauerhafte Gefälle zwischen einem eher auf das Reich orientierten, städtischen Nieder- und einem ruralen, polnisch orientierten Oberschlesien.
Diese Tatsachen lassen sich zweifellos einfacher festmachen und beschreiben als die gegenläufigen Entwicklungen, die das weit weniger konkret zu fassende Ergebnis einer über den einzelnen Anlassfall hinaus stabilen Landesidentität zeitigten. Affirmative Behauptungen ersetzen dennoch mitunter eine detailliertere, mit Belegen unterfütterte Argumentation (siehe etwa 94 und 145-151 zur angeblichen Einflussnahme Annas von Schweidnitz auf die Reichsregierung und der durch ihren kaiserlichen Status mutmaßlich gesteigerten europäischen Bedeutung ihres Heimatlandes). Werden Quellen zitiert, erfolgt die Auswertung derselben zudem des Öfteren nicht ausdrücklich, sondern es wird in eher allgemeiner Form auf die Literatur verwiesen (siehe zum Beispiel die eingestreuten Zitate 140, für die lediglich verfassungsgeschichtliche Titel genannt werden). Die zitierte Literatur erscheint mitunter etwas beliebig ausgewählt (vergleiche zum Beispiel 165 zum karolinischen Konzept der Böhmischen Krone mit Anmerkung 38, in der sich Arbeiten zur schlesischen Verfassung des 17. und 18. Jahrhunderts finden). Es verlangt dem Leser daher einiges an Arbeit ab, will er Rüthers Interpretation nachvollziehen. Diese Abstraktion ist wohl der ambitionierten Anlage der Arbeit geschuldet, die dezidiert das "große Ganze" sichtbar machen möchte (17, 20f., 122). Bei den Details ist dennoch zum Teil eine gewisse Vorsicht angebracht (vergleiche etwa 157f. zum Breslauer Tag von 1420). Die Lesbarkeit des Buches leidet des Weiteren ein wenig unter einigen durch die Methode bedingten Redundanzen. Vielleicht hätte ein verstärktes Arbeiten mit Querverweisen dem abhelfen können.
Obwohl inhaltlich nicht alles an Systematik und Stringenz eingelöst wird, was der elegante und sehr einnehmende äußere Aufbau verspricht, zeigt die zu besprechende Monografie überzeugend die besondere Eignung Schlesiens für die Untersuchung der Prozesse spätmittelalterlicher Landeswerdung auf. Sie bietet einen anregenden Versuch, der vielleicht mehr Fragen aufwirft als anhand der Quellen tatsächlich beantwortet werden können. Dessen ist sich auch der Verfasser bewusst, vergleiche etwa die auf Seite 208 formulierten Zweifel, ob die Uneindeutigkeit der Zugehörigkeit überhaupt ein Problem für die Betroffenen darstellte. Möglicherweise könnte in Zukunft eine systematischere Einbindung der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (abseits der stellenweise rein taxativen Aufzählung von Daten und Fakten, vergleiche zum Beispiel 42-49) zusammen mit den interessanten Einsichten, die Rüther aus narrativen und kunsthistorischen Quellen gewinnt, zu noch besser greifbaren und abgesicherten Interpretationen und Ergebnissen führen.
Insgesamt bietet die Arbeit einerseits der Landesgeschichte katalogartige Zusammenstellungen von Daten und Literatur zu den einzelnen vom Verfasser definierten Feldern. Andererseits liefert sie mit ihrer von nationalen Zuordnungen befreiten, vielschichtigen Problematisierung des "soziale[n] Konstrukt[es] 'Land'" (218) Anregungen über die Schlesien-Forschung hinaus. Man darf daher gespannt auf weitere Arbeiten sein, die hoffentlich auch bald den von Rüther immer wieder angeregten, potenziell produktiven Vergleich Schlesiens mit anderen Grenzregionen wie Flandern/Burgund, Tirol/Trient oder Holstein/Schleswig durchführen werden.
Alexandra Kaar