Matteo Burioni / Johannes Grave / Andreas Beyer (Hgg.): Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit in der Baukunst (= eikones), München: Wilhelm Fink 2011, 607 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7705-5081-4, EUR 68,00
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Eikones nahm sich 2007 vor, die verschiedenen Arten der Ikonizität von Architektur zu diskutieren. 2011 ist der fast 600-seitige Tagungsband erschienen. Wie nicht selten, sind die Autorinnen und Autoren des Bandes stärker auf ihre Beiträge konzentriert, als dass sie sich den zentralen Fragen widmen würden. Diese werden auf 11-21 kenntnisreich abgehandelt. Fast will es scheinen, als wäre das ein separater Teil einer anderen Publikation. Auf 21-32 folgt eine Zusammenfassung der Beiträge, untergliedert in die Gruppen "Bildhafte Konfigurationen" (21ff.), "Blick-Maschinerien" (23ff.), "Körper-Bilder und Baukörper" (25ff.), "Filmische und virtuelle Architekturen" (27ff.) und "Architektur, Bild und Sprache" (29ff.). Eine allgemeine Zugänglichkeit dieser Seiten wäre wünschenswert.
Einleitend wird die Hypothese ausgesprochen, dass Ikonizität eine Erweiterung erfährt, wenn man Architektur und den Blick auf sie in die bildwissenschaftliche Diskussion miteinbezieht. Die radikalste diesbezügliche These wird allerdings nicht erwogen. Denn angesichts der Herangehensweisen an Architektur, das Räumliche, das Ontologische usw. miteingeschlossen, bleibt ein Blickwinkel seltsam isoliert und unbeantwortet, ja, wird überhaupt nicht in die Diskussion eingebracht. Es ist der Unterschied zwischen Architektur und Bauwerk. Ist ein Bauwerk etwas vermeintlich Reales, etwas greifbares, haptisches, was man betritt, dessen Räumlichkeit man begreifen und erfahren kann, in dem man wohnt oder sich der körperlichen Immersion hingibt (Sloterdjik, 17), so existiert Architektur auf diese Weise nicht. Architektur hingegen ist Abstraktion (vgl. etwa die Skizze, 75), die überhaupt oder ausschließlich Bildlichkeit beanspruchen kann. Architektur ist bildlich, erst als Bau wird sie anderen Bedingungen unterworfen, worüber allenthalben Architekten klagen, deren Entwürfe nicht korrekt umgesetzt wurden. Bauwerke sind jedoch nur insofern sichtbar und bildlich, als sie nur ihre jeweilige Oberfläche zu erkennen geben: Wände, Putze, Anstriche, Materialbearbeitungen, Mauerverläufe uvm. Ein Blick durch Mauern auf die Struktur des Baus ist nur in der Architektur vorstellbar. Im Bauwerk hingegen ist kein Raum entgrenzbar - das Dahinterliegende lässt sich nur abstrahieren. Insofern ist man schon per se gezwungen, von einem Gegensatz zwischen Imagination und Sichtbarkeit - mithin auch Bildlichkeit - auszugehen. Man hätte gut mit dem Gegensatzpaar Architektur - Bauwerk operieren können, Vieles wäre weniger kompliziert geraten. Aber die Dinge sind nun mal reichlich komplex. Daher hätten die beiden einleitend erwähnten "Ansätze" (14) und deren weitere Ausformulierungen (15-20) als gemeinsame theoretische Basis von allen Autoren dieses Sammelbandes ernst genommen werden müssen. Sieht man also Bauwerke nicht, sondern nur deren Entwicklung auf der Retina - Ledoux' Auge des Architekten lässt grüßen -, ihre Oberfläche, so oszilliert ihre Wirkung in der Tat zwischen Bild und Phantom oder Vorstellung. Ob nun das Begriffspaar Bauwerk - Architektur oder ein anderes verwendet worden wäre, mag man als Geschmackssache empfinden. Nötig wäre es schon gewesen, die einleitend dargelegten Prämissen stärker in die jeweiligen Argumentationsgänge zu integrieren.
Alina Payne (55ff.) behandelt das Thema grundsätzlich und in allen Facetten. Sie geht in zwei Teilen auf das Thema ein. Ist der zweite davon, "architecture-as-picture" (65ff.), auf vielen Seiten in der Fachliteratur diskutiert, auch dass das Bild von Architektur dessen Struktur wiedergibt (57), eine eigene Ikonizität aufweist, eine dreidimensionale Präsenz dessen Aura, ja eine dreidimensionale Realität wiedergibt (57-60 mit Überlegungen auch zu Ledoux, Schmarsow, Wölfflin, Aby Warburg u.a.), so ist der erste Teil zweifelsohne interessanter und bietet den Lesern einen guten Einstieg. Er kreist um den Terminus Benjamins der Zerstreuung, der eine perzeptive Herangehensweise an Architektur impliziert (61ff.). Seit Benjamin und seit es Film gibt, sei die Fragmentation aufgelöst - oder implizit - und die "dispersion" allgegenwärtig; denn im Film und seit Sigfried Giedions space/time ist nach Payne die Bewegung in der Architekturrezeption mitgedacht, quasi Bestandteil von Architektur selbst. Das Bild wird zu "random views" (63). Das o.g. Gegensatzpaar von "Haut" und "Struktur" wird nicht diskutiert. Somit wird für den gesamten Band eine grundsätzlich zwar zutreffende, philosophisch jedoch fragliche Voraussetzung postuliert: Man könne Bauwerke wie Architektur als Bild sehen und damit einen zeitlichen Ausschnitt, der sich in der Retina wie im Bild (Zeichnung etc.) manifestiert. - Wie Peter Eisenmanns, auf 58 abgebildetes "House X" verdeutlicht, ist bei der Abbildung von Architektur nichts Nachvollziehbares zu sehen. Es ist Architektur und als solche zumindest in der gezeigten Abbildung nicht mehr als ein Abstraktum. Architektur ist, das verdeutlichen einmal mehr Eisenmann und/oder Payne, eben nur ein Konstrukt, eine Abstraktion. Wie mit dem "House X" verdeutlicht, scheint Eisenmann stets Gebilde zu diskutieren und zu entwerfen, die aus Annahmen oder Postulaten resultieren, aber nicht zwingend gesehen werden müssen. Das trifft auch für die durchsichtigen Plexiglaswände des Eisenmannschen Entwurfs oder Modells zu. Sicher, man kann in Architektur herumgehen, ihre Grenzen sehen, ihre Konstruktionsweise zu erkennen versuchen, ihre Eigenarten studieren. Das Dilemma, jeweils nur einen Ausschnitt des Ganzen zu sehen, beschreibt auch die tiefe Kluft, die zwischen Denkmalpflege, die sich vornehmlich um Oberflächen und das Sichtbare kümmert, und Architekturgeschichte, die "das Ganze" in den Blick zu nehmen versucht, besteht und in diesen Band seltsam eingeschrieben ist.
Unter der o.g. Prämisse einer Differenzierung zwischen dem Sichtbaren und dem Gedachten hätten einige der Artikel vielleicht anders ausgesehen, sie hätten eine andere Diktion, eine andere Argumentationsweise verfolgt. Martino Stierli hätte nicht den Umweg über den Film gehen müssen (423ff.), um festzustellen, dass den Städten die Performanz des Betrachters aufgebürdet wird (449f.). Die Städte sind für ihn sogar Folge der Performanz, wie sie sich im Film - also in Bewegung - zeigen (458). Es ist nicht mehr weit zu den Regisseuren des Blicks (459), die Architektur und Städtebau konzipieren.
Überhaupt sind, wie auch der Beitrag Henry Keazors über Jean Nouvel zeigt (377ff.), "Wechselwirkungen und Austauschverhältnisse zwischen Architektur und Film" (27) - also Begriffe wie Montage, Sequenz, Tableau - interessante Parallelen zwischen Architektur bzw. Bauwerk und Film. Ja, mehr noch; so hat Jean Nouvel tatsächlich von der Herstellung bzw. Erzeugung von "Bildern" gesprochen und dabei offenbar nicht nur an die Bauwerke selbst, sondern darüber hinaus auch an deren Spiegelungen und deren Medialität gedacht (380/383, 394ff.). Dass Architekten ihr "eigenes Kino" machen und eine Art von Film im "Kopf des Betrachters" (407) abläuft, ist allerdings alles andere als neu. [1] Überhaupt ist die Bildlichkeit stark an den Blick gebunden (Stierli, 459): "Ingenieur und Architekt werden [...] zu Regisseuren des Blicks". Hier meine ich allerdings, dass Benjamins Aura-Begriff (458) weniger wichtig ist als dessen Passagenwerk.
"Fährt" man einige Jahrhunderte zurück, so entdecken wir die Kathedrale - Metaphysik des Lichtes (263ff.) und gleichzeitig "eine einzigartige Schaulust" (270) wegen der Bildlichkeit des gotischen Kirchenraumes. Ist es aber das Licht, das die Gläubigen mitriss oder die ausgefeilte, der zeitgenössischen Scholastik - also Philosophie - genügende Bildlichkeit? Die Mischung, die im Mittelalter vorgenommen wurde, stellt sich doch wohl als solche von philosophischen Ideen und Ikonografien dar, mithin als Kombination bildlicher und nicht-bildlicher Motive. Eine Präzisierung und Differenzierung der Begriffe und der Phänomene wäre hier vorzunehmen gewesen. Architektur als kollektiver Akt wäre genauer zu unterscheiden als Bild (Gesamtschau, "Screenshot"), Bildmittel (Ikonografie, Programme, Glasfenster, Figuren usw.) und Phänomen (Licht, Aufführung usw.).
Das Entweder - Oder zeigt sich auch in anderen Aufsätzen/Vorträgen: Matteo Burioni (289ff.) empfiehlt, Fassaden zu vermeiden; sie stehen für die zweidimensionale Bildlichkeit von Architektur, die es nie gegeben habe, die Phantome seien. Später postuliert er, dass die Architektur auf den Körper des Betrachters angewiesen sei, um Bedeutung zu erzeugen (310). Ob aber in Lorenzo Monacos "D"-Initiale (Abb. 2, 293) mit dem durch ein Portal spähenden Mann tatsächlich ein ostentativer Ausschluss markiert wird oder ein Oszillieren zwischen "besonderen" und allgemeinen Räumen mit der Konnotation, dass etwas "wirklich" sei und zu bezeugen ist, hätte hier weiter diskutiert werden können, zumal es zwei Betrachter und zwei Einblicke in den Raum gibt. Es ist in dieser Initiale wie in einem Hitchcock-Film: der Rezipient sieht dem Betrachter im Bilde zu, wie er sich von Göttlichem überzeugt. Gleichzeitig hat er selbst Einblick in diesen Raum und wird zum Zeugen für das Zeugnis des Göttlichen.
Philip Ursprung (251ff.) bildet die Elemente seiner Argumentation nicht einmal mehr ab. Er spricht u.a. von der Autonomie von Architektur im Sinn eines "Architektur ist Architektur" (Aldo Rossi, 253). Da ist von Glas die Rede, vom "iconic turn" und davon, dass Paxton alles vorausgeahnt haben soll (ebd.). Ratlosigkeit einmal mehr.
Der Tagungsband enthält eine große Bandbreite von Aufsätzen von der mittelalterlichen bis zur zeitgenössischen Architektur. Man weiß nicht, ob man den in teilweise übertrieben artifizieller Sprache vorgetragenen Überlegungen folgen muss, ob die "Figur der Prosopopöia die Architektur rhetorisch maskiert", ob sie "durch die Augen diese eine 'blickende' Bildlichkeit erhält", ob sie "vielleicht gar Ohren erhält, die sie zum Resonanzkörper werden lassen, ob eine doppelte Literarisierung stattfindet: Ein Gebäude wird mit einer rhetorischen Wendung beschrieben, die suggeriert, dass uns das Gebäude durch den zugeschriebenen Blick auch anspricht. Ich nenne das literarisierte Bildlichkeit - man könnte auch Ikonologisierung sagen [...]" [2] - es gibt jedenfalls eine Menge gelungener und sicher auch weiterführender Ansätze. Selbst wenn man die Formulierung der Herausgeber (31) als topische Untertreibung auffassen darf - es bleibt durch die Vielzahl von Ansätzen und einer geradezu wuchernden Thematisierung aller erdenklichen Spielarten zwischen Architektur und deren Visualisierung wirklich nur eine Skizze von Forschungsfragen und Diskussionsfeldern. Diese enthalten die bereits genannten einführenden theoretischen Überlegungen, die ich als äußerst gelungen bezeichnen möchte. Es handelt sich jedoch auch um ein Werk, dem man mehr Geschlossenheit gewünscht hätte. Die Vielzahl verschiedener Blickwinkel bzw. Meinungen oder Hypothesen über "Das Auge der Architektur", also eine Art Umkehrung des Blickwinkels, lassen es zu einer Art Bauchladen werden, der von allem etwas zu bieten scheint.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Oliver Grau: Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge 2003 und Gottfried Kerscher: Kopfräume. Eine kleine Zeitreise durch virtuelle Räume, Kiel 2000.
[2] Weder die Auswahl des Zitats noch der Inhalt hat in irgendeiner Weise etwas mit einer Kritik zu tun. Kurz angesprochen sei nur der Umgang mit Sprache und Begriffen - beliebig herausgegriffen, Zitate, 533.
Gottfried Kerscher