Petra Schulte / Gabriele Annas / Michael Rothmann (Hgg.): Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 47), Berlin: Duncker & Humblot 2012, 293 S., ISBN 978-3-428-13706-0, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Kirsi Salonen / Jussi Hanska: Entering a Clerical Career at the Roman Curia, 14581471, Aldershot: Ashgate 2013
Kirsi Salonen: Papal Justice in the Late Middle Ages. The Sacra Romana Rota, London / New York: Routledge 2016
Anthony Goodman: Joan, the Fair Maid of Kent. A Fourteenth-Century Princess and her World, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2017
Suum cuique - Jedem das Seine. Und wenn jeder das Seine bekommen soll, heißt dies nicht zwangsläufig, dass jeder das Gleiche erhält. Die wechselvolle Rezeptionsgeschichte dieses Satzes, der auf die seit Cicero im abendländischen Raum herrschende Definition der Gerechtigkeit verweist, verdeutlicht, dass Gerechtigkeit, die als Prüfstein menschlicher Vergesellschaftung gelten darf, in keiner Weise eine unwandelbare, womöglich absolute Größe ist. Der Begriff erweist sich vielmehr als Worthülse, die immer wieder neue, zeit- und diskursabhängige Interpretationen zulässt. Entsprechend allgegenwärtig ist die Gerechtigkeit in den philosophischen und juristischen Schriften vergangener Epochen, entsprechend schwierig gestaltet sich jedoch auch die Erforschung der unter dem Schlagwort firmierenden, gesellschaftlichen und politischen Konzepte. Zu denken ist etwa an das Problem, das eine ständisch orientierte, auf Ungleichheit basierende Gesellschaftsordnung wie die mittelalterliche für eine an modernen Vorstellungen gebildete Konzeption von Gerechtigkeit bedeuten kann. Auch pflegt Gerechtigkeit interdependent mit ebenfalls höchst kontingenten Konzepten wie etwa Frieden oder Freiheit aufzutreten, die wiederum auf die je zeitgebundene Bedeutung der Gerechtigkeit zurückwirken.
Der aus einem im Jahr 2005 an der Universität zu Köln abgehaltenen Workshop hervorgegangene Band nähert sich dem Problem der Gerechtigkeit in der mittelalterlichen Gesellschaft aus der Perspektive der Rechtsgeschichte. Der Schwerpunkt liegt dabei jedoch weniger auf den zeitgenössischen staats- wie rechtstheoretischen Überlegungen, sondern auf der in den Quellen beobachtbaren Rechtspraxis. Der Band vereint dabei rechts-, kunst- und frömmigkeitsgeschichtliche Ansätze und präsentiert sich als gelungenes Beispiel für fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Die Herausgeber präsentieren in ihrer Einleitung ihre Überlegungen zu "Gerechtigkeit und Gemeinwohl" (Petra Schulte), "Gerechtigkeit, Recht und Gnade" (Gabriele Annas) und "Theorie und Lebenswelt" (Michael Rothmann) und führen in Konzeption und Inhalt des Bandes ein. In ihrem Beitrag zur Leitidee gerechter Herrschaft bei Karl dem Kühnen widmet Petra Schulte sich dann der herrscherlichen Propaganda des Königs sowie den normativen herrschafts- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur Rolle der Gerechtigkeit als Grundlage eines funktionierenden Gemeinwesens. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie Guillaume Fillastre und seinem "Second Livre de la Thoison d'or", einem von dem Herrscher selbst in Auftrag gegebenen Fürsten- und Adelsspiegel. Einen ebenfalls ideengeschichtlichen Ansatz wählt Ulrich Meier bei seiner Interpretation des kontrovers diskutierten und interpretierten Freskenzyklus vom "Buon Governo" des Ambrogio Lorenzetti in Siena. Meier schlägt eine neue Lesart des Freskos vor, welche auf der wohlbegründeten Annahme beruht, dass in das Fresko herrschafts- und gerechtigkeitstheoretische Gedanken des Albertus Magnus zur verteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit eingeflossen sind.
Kristin Böse nähert sich dem Generalthema aus kunsthistorischer Perspektive und untersucht die weltberühmten, heute in Bern aufbewahrten Bildteppiche des Lausanner Bischofs Georges de Saluces auf das Motiv der gerechten Rechtsprechung, welche in Szenen aus der Vita des römischen, im Mittelalter als heilig verehrten Kaisers Trajan sowie des gerechten Richters Herkinbald dargelegt wird. Anhand minutiöser Vergleiche mit den Beschreibungen der als Vorbilder geltend gemachten, heute zerstörten Bildtafeln des Rogier van der Weyden im Brüsseler Rathaus kann sie zudem zeigen, dass der Bischof bei der Gestaltung der Teppiche eigene herrschafts- und gerechtigkeitstheoretische Vorstellungen umsetzen ließ.
Zwei Studien beschäftigen sich mit der Gerechtigkeitstheorie und -praxis im deutschen Reich des ausgehenden Mittelalters. Gabriele Annas untersucht anhand zeitgenössischer theoretischer Texte zur vielbeschworenen und oft geforderten Reichsreform die dort propagierte Definition der Gerechtigkeit, die mit Recht, Frieden und Freiheit zu den "Schlüsselkategorien" (232) des Reformdiskurses zählt. Annas verortet die Diskussion, die sie am Beispiel von Schriften zur Rechtswahrung und Rechtspflege als den zentralen Instrumenten zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit nachvollzieht, im größeren diskursiven Rahmen der Diskussion um die Struktur der Reichsverfassung und die Rolle der Kurfürsten: Aus dem beobachtbaren Versagen der königlichen Gewalt leiten diese den Anspruch auf politische Partizipation ab. Der Praxis der königlichen Gerichtsbarkeit geht Franz Fuchs in einer detailfreudigen, aus den Aufzeichnungen des Hans Pirckheimer gearbeiteten Studie nach, der die Reichsstadt Nürnberg am Kammergericht vertreten hat. Fuchs geht es dabei um Gerechtigkeit in der in den Berichten vorherrschenden Bedeutung als Anspruch oder subjektives Recht, das es vor Gericht zu erlangen und umzusetzen gilt (255).
Den Schwerpunkt des Buches bilden zweifellos die Beiträge, die sich mit der spätmittelalterlichen Rechtspraxis zwischen den Polen von Recht und Gnade beschäftigen. Barbara Frenz lotet die Diskussion vor dem Hintergrund des Gleichheitsgedankens aus, der durch die Option, in der Gerichtssituation personen- und kontextabhängig andere Maßstäbe als den strengen rigor iuris anzulegen, vor schwer überwindbare Probleme gestellt wurde. So wurde die Praxis des Richtens nach Gnade, die einzelnen, oft zudem Angehörigen der städtischen Elite, Vorteile vor Gericht verschaffen konnte, schon in der Zeit als Ungerechtigkeit wahrgenommen. Michael Hohlstein verfolgt die Diskussion am Beispiel der zumal franziskanischen Pastoralliteratur und muss konstatieren, dass die Franziskaner mehrheitlich zu einer strengeren Auslegung der Gesetze und zu einer gnadenlosen Anwendung der Rechtsnormen rieten, welche nach ihrer Meinung das Gemeinwohl schützen und zur Besserung der Menschen beitragen konnten (194). Hagen Keller widmet seinen Beitrag dem tiefgreifenden Wandel, den die Entstehung der italienischen Stadtkommunen im 12. Jahrhundert für das zeitgenössische Bewusstsein der Interdependenz von Norm, Rechtsbruch und Strafe in den neu entstandenen Gemeinwesen bedeutet hat. Klaus Schreiner liefert mit seinem magistralen Aufsatz zu theologischer Grundlegung, gedanklicher Durchdringung und geschichtlicher Praxis der Gnadenjustiz eine so umfassende wie lesenswerte Einführung und Diskussion des Themas. Er plädiert für einen offenen Blick auf das Richten nach Gnade als eines der vielen ungelösten Probleme der mittelalterlichen Strafrechtsgeschichte, der neben den rechtshistorischen auch sozial- und religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten Raum gibt.
Den Herausgebern ist dafür zu danken, jeden Beitrag mit einem separaten Literatur- und Quellenverzeichnis versehen zu haben. Der Band gewinnt dadurch geradezu Handbuchcharakter für das Thema der Gerechtigkeit, insbesondere der Gnadenjustiz, in der spätmittelalterlichen Gesellschaft und Rechtspraxis. Das Werk vermittelt einen differenzierten und vielschichtigen Einblick und sensibilisiert für die Diskrepanzen zwischen den oft rigorosen Strafandrohungen mittelalterlicher Rechtssammlungen und der geübten Praxis, die Gerechtigkeit oft gerade nicht in der strengen Anwendung der kodifizierten Rechtsnormen verwirklicht sah.
Kerstin Hitzbleck