Nile Green: Making Space: Sufis and Settlers in Early Modern India, New Delhi: Oxford University Press India 2012, XVII + 339 S., ISBN 978-0-19-807796-1
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Nile Green legt mit "Making Space" eine Monographie vor, die aus einer Sammlung zuvor an unterschiedlicher Stelle publizierter Artikel und Beiträge des Autors entstanden ist. Jedoch beschränkt sich der Autor nicht auf eine bloße Aneinanderreihung früherer Arbeiten, sondern fügt die einzelnen Beiträge in einen gemeinsamen Rahmen ein, den er zwischen der Wahrnehmung des vormodernen Indiens als world on the move [1] und dem Konzept des Gedächtnisraums (er bezieht sich hier auf Kaschuba 2004 u.a.) [2] aufspannt. Der Band ist dem Ziel gewidmet, die Auswirkungen der Mobilität und Migration sowohl von Menschen als auch von Ideen oder Ritualen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Indien in Bezug auf die Aus- und Umgestaltung von Räumen - geografischen, sozialen, narrativen - zu beleuchten. Dabei konzentriert sich der Autor wie bereits in seinem 2006 erschienenen "Indian Sufism since the Seventeenth Century" [3], auf den Dekkan, wobei er jedoch stets parallele Entwicklungen in anderen Gebieten der "islamischen Welt" im weitesten Sinne und des Subkontinents im engeren Kontext im Blick behält. Dieser enormen, gleichzeitig sehr ausdifferenzierten Fragestellung nähert sich Green in acht Kapiteln, die zum größten Teil im Sinne einer case study einen Aspekt der Fragestellung an einem Beispiel erörtern. Die einzelnen Beiträge fußen auf einer breiten Datenbasis, die neben Texten auch Architektur und orale Traditionen mit einbezieht. Im ersten Kapitel legt der Autor seine der Monographie zugrundeliegende These dar. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen lebenden blessed men, also z.B sufischen Shaikhs, die von ihrem sozialen und historischen Umfeld als mit besonderem Kontakt zum Transzendenten anerkannt werden, und saints, Heiligenfiguren, die nach dem Tod eines blessed man dessen soziale Funktion dauerhaft machen. Die Transformation eines lebenden Sufis zu einem die Zeit überdauernden Heiligen geschieht dabei durch ein Zusammenwirken von Narrativen und Architektur, die sich gegenseitig beeinflussen und gemeinsam einen sacred space formen, in dem die Erinnerung an den Heiligen und seine Klientel z.B. durch Rituale, aber auch durch weitere Textproduktion oder architektonische Veränderungen lebendig erhalten wird. Auch das Thema Migration, das bereits in "Indian Sufism" ein Leitmotiv war, ist in "Making Space" zentral. Green postuliert hier eine wechselseitige Beziehung zwischen Texten und Migration: Einerseits verbinden Texte weit auseinanderliegende Orte und schaffen so geografische Beschränkungen überspannende Räume der Rezeption. Andererseits werden Texte auch durch geografische Entfernung und Migration geprägt, da sie als Mittel der Erinnerung und Selbst-Repräsentation migrierender Individuen und Gruppen entstehen. Solche Texte, die im doppelten Sinne geografische Entfernungen überspannen, benötigen einen Ankerpunkt, von dem aus sie wirken können. Die Aufgabe dieses Ankers nehmen laut Green für Texte ebenso wie für migrierende Gruppen im indischen Kontext sufische Schreine ein.
Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, die vielschichtigen Interpretationen und Verbindungen nachzuzeichnen, die Green in den folgenden Kapiteln anhand verschiedener Aspekte seines großen Themas präsentiert. Daher wird hier nur auf einige prägnante Aspekte der einzelnen Themen eingegangen.
Migration ist das Leitmotiv des zweiten Kapitels. Hier zeigt der Autor am Beispiel des ʿurs, der Feierlichkeiten zum Todestag eines Heiligen, auf wie viel verschiedenen Ebenen - vom geografischen Aspekt der Wanderung des Rituals von seinem Ursprungsort Khurasan nach Anatolien und Indien bis hin zur Zirkulation poetischer Werke, die in ihrer Symbolik auf das Ritual Bezug nehmen - wie "Migration" im Zusammenhang mit dem Ritual eine prägende Rolle spielt. Im Sinne einer case study widmet Green das dritte Kapitel dem Verhältnis der afghanischen Stämme auf dem Subkontinent zu sufischen Heiligen und ihren Schreinen. Insbesondere betrachtet er Vertreter der Lodi und Suri Dynastien sowie ihrer Nachfahren. Dabei wird deutlich, dass die Affiliation mit einem Heiligen über die Zeit hinweg immer als Mittel der Gruppen-Identifikation genutzt wurde. Das Thema Migration von blessed men und ihre Transformation zu Heiligen wird im vierten Kapitel wieder aufgegriffen. Hier zeigt Green anhand verschiedener kleiner Beispiele, wie durch Narrative die Heiligen an (behauptete) Herkunftsorte gebunden werden und so der Identifikation von migrierten Gruppen mit (u.U. ebenfalls behaupteten) Herkunftsorten dienen. Solche Zuschreibungen können sich durch z.B. einen Wechsel der Klientel eines Schreins ändern. Implizit wird hier deutlich, wie historische und soziale Situation, in der ein Narrativ generiert und tradiert wird, selbiges beeinflusst und formt. Eine Betrachtung der Architekturgeschichte verschiedener Schreine auf dem Dekkan dient im fünften Kapitel dem Ziel, die Interdependenz von Schrein und Patronage durch Herrscher und Privatpersonen darzustellen. Hier wäre ein Aufbau des Kapitels nach analytischen Kategorien wohl hilfreicher, da in den meist rein deskriptiven Partien zu den einzelnen Beispielen die Analyse etwas verloren geht. Aus der Darstellung einzelner Aspekte der Architektur und der damit verbundenen Patronage ist erkennbar, wie vielfältig die Schreine sozial verflochten waren. Im sechsten Kapitel wendet sich Green der Buchkultur innerhalb der von ihm untersuchten Schreine zu. Er stellt hier zunächst zwei unterschiedliche Wissenskulturen einander gegenüber: Während im Kontext der islamischen Gelehrsamkeit und Mystik durch das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein Wissen als personenzentriert wahrgenommen und innerhalb eines Meister-Schüler-Verhältnisses weitergegeben wurde, sieht Green in der Entwicklung von Bürokratie-Schulen ab Beginn der Asaf Jāhī-herrschaft im Deccan eine Hinwendung zur Buchkultur. Die Ausbildung größerer Studentengruppen erforderte hier schlicht eine Abwendung von der stark personalisierten Lehre. Die entstehende Buchkultur aus dem Kontext der Bürokratie - einer wichtigen Klientelgruppe der Schreine - wirkte dann auch in die Wahrnehmung von Wissen im religiösen Kontext hinein und führte so zum Entstehen einer sufischen Buchkultur. Diese Entwicklung setzt der Autor bereits vor dem Aufkommen des Buchdrucks in Indien an und stellt somit die gängige These in Frage, eine breite Buchnutzung sei erst durch "die Moderne" auf dem Subkontinent entstanden. Die beiden letzten Kapitel sind wiederum als case studies angelegt und befassen sich mit dem Ausdruck von Konkurrenzsituationen innerhalb von Narrativen, die mit einer sacred landscape verbunden sind. Zunächst zeigt Green am Beispiel der Festung Deogiri/ Daulatabad Parallelen in der Darstellung und der Interpretation der sacred landscape der Festung in drei islamischen und einem brahmanischen Text. Der Autor kommt hier zu dem Schluss, dass die Darstellungen unterschiedliche Interpretationen der gleichen Aspekte mit ähnlichen Erklärungsmustern seien, die nur durch den sozialen, religiösen und historischen Kontext der jeweiligen Autoren beeinflusst Unterschiede aufwiesen. Schließlich wendet sich der Autor im letzten Kapitel oralen Traditionen zu, die er selbst Ende des 20. Jahrhunderts in Aurangābād, offenbar im Rahmen seiner Forschung über die im Zentrum seiner Arbeit stehenden Schreine, gesammelt hat. Die Analyse ausgewählter Beispiele beschränkt er auf eine Oberflächenanalyse der Erzählungen, die er als zusammenhängenden Text, nicht als Interviewprotokoll wiedergibt. Die oralen Narrative zeigen sich einerseits als Ausdruck eines desired past (Sandra Scham) [4] und tragen für die nunmehr in Bedeutungslosigkeit versunkene Klientel die Glorie der Vergangenheit weiter. Andererseits zeigt sich auch hier wieder, dass die Narrative sich veränderten Bedürfnissen der Klientel anpassen können, sodass z.B. für einen Heiligen mit der Zeit "Spezialisierungen" auf bestimmte Bedürfnisse der Klientel entstehen und durch entsprechende Narrative unterstützt werden.
Negativ anzumerken an diesem bemerkenswerten Band ist lediglich, dass ein zusammenfassendes Schlusskapitel fehlt. Gerade bei der Fülle der angeschnittenen Themen und der verwendeten Zugänge wäre ein Fazit des Autors wünschenswert und hilfreich gewesen. Sein Fehlen raubt dem Leser die Möglichkeit, die kapitelübergreifenden Themen und Argumentationslinien des Autors an einer Stelle komprimiert und gegliedert nachzuvollziehen. Davon abgesehen kann auch für diesen Band nur eine unbedingte Leseempfehlung ausgesprochen werden. Der disziplinenübergreifende Ansatz, den Green hier wählt, ist beispielhaft für Forschung auch in Gebieten außerhalb des Subkontinents und kann auch für den indischen Kontext noch ausgeweitet und vertieft werden.
Anmerkungen:
[1] André Wink: Al-Hind: The Making of the Indo-Islamic World: The Slave Kings and the Islamic Conquest, Leiden 1997.
[2] Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz: Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 2004.
[3] Nile Green: Indian Sufism since the Seventeenth Century. Saints, Books and Empires in the Muslim Deccan, London and New York 2006.
[4] Sandra Scham: Diplomacy and Desired Pasts, In: Journal of Social Archaeology 9,2 (June 2009), 163-199.
Anna Kollatz