Markus Würz: Kampfzeit unter französischen Bajonetten. Die NSDAP in Rheinhessen in der Weimarer Republik (= Geschichtliche Landeskunde; Bd. 70), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 270 S., ISBN 978-3-515-10288-9, EUR 49,00
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Mit der Entstehung und der Geschichte der NSDAP in Rheinhessen bis zum Jahr 1933 beschäftigt sich die regionalhistorische Studie von Markus Würz, die gleichzeitig die 2010 an der Universität Mainz angenommene Dissertation des Autors ist. Das Gebiet zwischen Bingen, Alzey, Worms und Mainz stand 1918 bis 1930 unter französischer Besatzungsherrschaft. Diese spezifischen Bedingungen, so eine These von Würz, blieb nicht ohne Einfluss auf die Gründung und Entwicklung von Ortsgruppen der NSDAP und der nationalsozialistischen Verbände.
Würz hofft, die Sicht der Forschung zu erweitern, indem er die im Vergleich zum übrigen Reichsgebiet "andere[n] lebensweltliche[n] Problemkonstellationen" und den abweichenden "Interaktions- und Erfahrungsraum der Menschen in den besetzten Gebieten" (20) in den Blick nimmt. Welche Auswirkungen hatte die französische Präsenz auf die Bereitschaft der Bevölkerung, sich für den Nationalsozialismus zu engagieren? Wie wirkte sie sich auf die räumliche Ausbreitung der Partei, und wie veränderte sie die Handlungsspielräume für die Parteiarbeit? Neben den Städten Mainz, Worms und Alzey untersucht Würz weitere 31 Gemeinden näher, die er aufgrund der archivalischen Überlieferungssituation, ihrer konfessionellen Strukturen, ihrer Lage und ihrer Einwohnerzahl ausgewählt hat. Anhand dieser Kriterien gelingt dem Autor eine für das konfessionell und sozioökonomisch heterogene Rheinhessen überzeugende Auswahl. Als Quellen zieht Würz Archivalien aus kommunalen und regionalen Archiven, die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs sowie die in Paris lagernden Akten der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission und des Hohen Französischen Kommissars für die Rheinprovinz heran. Auf dieser breiten, durch die Auswertung von lokalen Zeitungen weiter angereicherten Grundlage zeichnet der Autor ein detailreiches Bild der Entstehung und Entwicklung der NSDAP in Rheinhessen.
Der Einleitung folgt ein knapper Abriss der Rahmenbedingungen der Region sowie der allgemeinen Besatzungsgeschichte, ehe sich Würz seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand zuwendet. Die Unterkapitel des Hauptteils sind chronologisch gegliedert und folgen einem 3-Phasenmodell, das Würz aufgrund der französischen Besatzungspolitik und der Entwicklung der NSDAP entwickelt und das Zäsuren in den Jahren 1925 und 1930 setzt. Mit einer kurzen Zusammenfassung lässt Würz sein Werk enden.
Als eine der Wurzeln der NSDAP berücksichtigt die Studie auch die "völkischen" Gruppierungen der Weimarer Republik. Vor allem der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der Alldeutsche Verband sowie die Deutsch-Soziale Partei fanden in der Region Unterstützer. Die erste rheinhessische NSDAP-Ortsgruppe wurde im Herbst 1922 in Worms gegründet. Durch das temporäre Verbot öffentlicher Versammlungen bzw. aller nationalistischen Parteien drängte die französische Besatzungsherrschaft die Nationalsozialisten und ihre Organisationen in die Illegalität. Fortgesetzte Agitation durch Mund-zu-Mund-Propaganda, heimliche Treffen und die Gründung von Tarnvereinen führten zu Festnahmen, Verurteilungen und Ausweisungen durch die Besatzungsmacht. Anhand der Untersuchung von NSDAP-Ortsgruppengründungen in rheinhessischen Landgemeinden versucht Würz seine These von der radikalisierenden Wirkung der französischen Besatzungsherrschaft zu untermauern. Dass die Entwicklung der einzelnen Ortsgruppen stark von den lokalen Gegebenheiten und besonders von einzelnen lokalen Funktionären abhing, kann der Autor eindrucksvoll anhand der erfolgreichen Wormser und der zerstrittenen Mainzer Organisation aufzeigen. Aufschlussreich sind die Schilderungen der parteiinternen Cliquenbildungen, Kabalen und Machtkämpfe, bei denen selbst vor dem Mittel des NSDAP-Ausschlusses wegen angeblich parteischädigenden Verhaltens nicht zurückgeschreckt wurde.
Erste größere politische Erfolge erzielte die NS-Bewegung in Rheinhessen bei den Kommunalwahlen im November 1929 - also noch vor dem Ende der französischen Besatzungsherrschaft. Allerdings war der Stimmenanteil der NSDAP stark vom konfessionellen Bekenntnis vor Ort abhängig. So gelang es der Partei bis 1933 nicht, in mehrheitlich katholischen Ortschaften nennenswerte Wahlerfolge zu erzielen. Ob die insgesamt in der Region wachsende Zustimmung zum Nationalsozialismus auf die durch das Ende der Fremdherrschaft aufgehobenen "psychologischen Barrieren in den Köpfen der rheinhessischen Bevölkerung" (166 f.) zurückzuführen ist, wie Würz annimmt, oder ob dies nicht eher einem reichsweiten Trend entsprach, bleibe dahingestellt. Ab 1930 befand sich die NSDAP jedenfalls im Aufwind, was sich in einer Welle von Ortsgruppenneugründungen und in den Ergebnissen bei den verschiedenen Wahlen niederschlug. Einige kleine Landgemeinden wie Dintesheim, Engelstadt, Gau-Odernheim, Nierstein oder - das zeitgenössisch als "Hitlerhausen" (184) titulierte - Stadecken entwickelten sich bereits bei den Reichstagswahlen 1930 zu "Wählerhochburgen der NSDAP" (177). Hier errang die Partei teilweise weit über 40 % der abgegebenen Stimmen. Einen bedeutenden Faktor für die nationalsozialistische Durchdringung der agrarisch geprägten Region sieht Würz in der Infiltration der Freien Rheinhessischen Bauernschaft. Zu Beginn der 1930er Jahre näherte sich die gut vernetze bäuerliche Lobbyorganisation der NSDAP und ihrer Ideologie immer stärker an. Dadurch konnten die Nationalsozialisten nicht nur auf einflussreiche Multiplikatoren vor Ort zurückgreifen, sondern sie verfügten auch über die Möglichkeit, das Presseorgan der Bauernschaft für ihre Propagandazwecke zu nutzen. Überhaupt sei, so Würz, die "Unterstützung durch lokale Honoratioren" (209) - seien es evangelische Pfarrer, Lehrer, Ärzte oder einflussreiche Landwirte - besonders bedeutsam für den Aufstieg der NS-Bewegung gewesen.
Markus Würz kommt das Verdienst zu, erstmals umfassend die Frühgeschichte der NSDAP in der politisch interessanten Region Rheinhessen untersucht zu haben. Seine Ergebnisse stellen einen Gewinn vor allem für die regionalhistorische Forschung dar. Allerdings stützen sich seine Befunde - auch wegen der rudimentären Quellenlage - oftmals auf Einzelfälle. Inwieweit sie für das besetzte Gebiet generalisierbar sind und wie sich die Besatzungsherrschaft tatsächlich auswirkte, bleibt letztlich ungeklärt. Zudem gelingt es dem Autor nicht, die Unterschiede zwischen der Entwicklung der NSDAP im französisch besetzten Rheinhessen und der in anderen (unbesetzten) Reichsgebieten herauszuarbeiten. Hierfür hätte sich zum Beispiel die rechtsrheinische Provinz Starkenburg, die zum gleichen NSDAP-Gau gehörte, für einen Vergleich angeboten. Eine entsprechende regional-komparative Studie kann somit weiterhin als ein Forschungsdesiderat gelten.
Leider wird der Nutzen des Buches durch das Fehlen eines Orts- und Personenregister eingeschränkt. Angesichts von weit über hundert verschiedenen rheinhessischen Gemeinden und den unzähligen Personennamen hätten entsprechende Verzeichnisse weitere lokalhistorische Forschungen erheblich erleichtert. Am Ende steht gleichwohl eine anregende, quellengesättigte und gut zu lesende Regionalstudie zum Aufstieg der NS-Bewegung in Rheinhessen.
Jörn Retterath