Rudolf Jaworski / Florian Peters: Alltagsperspektiven im besetzten Warschau. Fotografien eines deutschen Postbeamten (1939-1944). Perspektywy codzienności w okupowanej Warszawie. Fotografie niemieckiego urzędnika pocztowego (1939-1944) (= Materialien zur Kunst, Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas; 2), Marburg: Herder-Institut 2013, V + 74 S., ISBN 978-3-87969-380-1, EUR 25,00
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Der schmale Fotoband versteht sich als notwendige Ergänzung zu Veröffentlichungen der letzten Jahre über die deutsche Besatzung Polens, in denen der Aspekt der Gewalt einseitig im Vordergrund stand.[1] Als Ausgangspunkt dient den beiden Kieler Historikern der fotografische Nachlass des Ingenieurs Hermann Beyerlein (1910-2004), der zwischen 1939 und 1944 als Beamter der "Deutschen Post Osten" (DPO) tätig war und von 1942 an das Warschauer Fernsprechamt leitete. Der passionierte Hobbyfotograf hinterließ rund 300 Aufnahmen, von denen der Band eine auf weniger als ein Drittel reduzierte Auswahl enthält (die Originale wurden dem Archiv des Herder-Instituts in Marburg übergeben). Die letzte Phase der nationalsozialistischen Herrschaft dokumentieren Fotos des Architekten und Postbaurats Heinz Körner (*1912), der nach der rücksichtslosen Niederschlagung des Warschauer Aufstands das ungeheuerliche Vernichtungswerk im Stadtbild in 61 Fotografien festhielt, von denen für den Band 13 ausgewählt wurden.
Beyerleins Fotos zeigen die Lebenswelt eines karrierebewussten höheren Beamten, der sich Ende 1939 von Kiel nach Warschau versetzen ließ; 1937 war er in die NSDAP eingetreten. Fotografiert hat er vor allem die nach den Zerstörungen vom September 1939 rasch wiederhergestellten und modernisierten technischen Anlagen, die sozialen Räumlichkeiten der deutschen Mitarbeiter des Fernsprechamts innerhalb und außerhalb von Warschau und die mehr als standesgemäße Dienstwohnung des Ehepaars Beyerlein (1942 erfolgte die Heirat mit einer aus Westpolen stammenden Volksdeutschen). Die Beschäftigung von einigen Polen im militärisch sensiblen Bereich des Fernsprechamts galt als ein notwendiges Übel, denn sie wurden verdächtigt, mit dem polnischen Untergrund zusammenzuarbeiten. Beyerleins Kontakt mit Polen beschränkte sich weitgehend auf den öffentlichen Raum der Straße, wo sie nebenbei auf seinen touristischen Fotos erscheinen. Erst mit dem Aufstand von 1944 treten sie als eigene Motive hervor: Gruppen, die mit erhobenen Händen an Häuserwänden stehen müssen, die gesammelt und abgeführt werden, Leichen, die auf dem Straßenpflaster vor dem Amt liegen. Dieses war im August 1944 eine wichtige Basis der deutschen Truppen, die im Innenhof 18 Aufständische erschossen.
Die Juden Warschaus sind dagegen kaum sichtbar, wenn man von einer Menge Straßen fegender Zwangsarbeiter (ca. 1940), dem Motiv eines nicht identifizierten jüdischen Friedhofs außerhalb von Warschau und zwei Aufnahmen der Rauchwolken über dem brennenden Getto im Mai 1943 absieht. Die Vorgaben der nationalsozialistischen Ideologie spielten für Beyerlein, der immer wieder Sehenswürdigkeiten und Kulturdenkmäler seiner "Wahlheimat" ablichtete, offenbar keine große Rolle. Dabei hat er die antijüdischen Verbrechen nicht wahrgenommen - oder sie verdrängt.
Insgesamt bildet also das Unspektakuläre den Schwerpunkt der Sammlung, die sich klaren Täter-Opfer-Perspektiven nicht unterordnen lässt. Im Zentrum steht vielmehr der alltägliche "persönlich-dienstliche Binnenraum rund um das Fernmeldeamt". Ein derart eingeschränkter Wahrnehmungshorizont dürfte - wie die Verfasser andeuten - für "viele seiner Berufskollegen" typisch gewesen sein (63).
Die ausgewählten Aufnahmen werden von Rudolf Jaworski und Florian Peters eingehend kommentiert, wobei für weitergehende Recherchen auch Archive aufgesucht wurden. Nicht allen Äußerungen mag man hier zustimmen, wenn etwa der Zweite Weltkrieg als anonymer Akteur erscheint, der "Millionen von Menschen [...] ihrer Würde und millionenfach auch ihres Lebens" beraubte (3), denn das Abhandenkommen der Würde setzte in Deutschland bekanntlich spätestens im Januar 1933 ein. Wenngleich Warschau im wiedererstandenen Polen als Hauptstadt unstrittig einen enormen Entwicklungsschub erfuhr, so war sie doch unter der russischen Herrschaft keine bloße "Provinzstadt" (4), sondern die drittgrößte und westlichste Metropole des Zarenreichs. Die Mauer um das Getto wurde nicht im November 1940 errichtet, sondern das jüdische Stadtviertel hinter den seit April 1940 planmäßig erbauten Begrenzungsmauern von der Außenwelt handstreichartig abgeriegelt. Die Benennung des deutschen Angriffskriegs vom September 1939 als "Polenfeldzug" (64) sollte endgültig unter die historisch tendenziösen Begriffe ausgemustert werden. Schließlich fragt man sich, welche Folgen die auf Seite 36 abgebildete Dienstanweisung des Leiters der DPO, Richard Lauxmann (1898-1959), vom 12. Februar 1941 hatte, "Erlebnisse beim Einsatz Osten [...] im Umgang mit Polen und Juden" zu sammeln.
Alles in allem bietet der Fotoband neue Einblicke in das Geschehen im Generalgouvernement. Es wäre daher wünschenswert, wenn noch weitere ähnliche Sammlungen das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnten. Dies würde jedenfalls unser Verständnis der nationalsozialistischen Okkupation vertiefen.
Anmerkung:
[1] Siehe unter anderem Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944, München 2010, und die kritische Rezension von Armin Nolzen in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: http://www.sehepunkte.de/2011/03/19167.html.
Klaus-Peter Friedrich