Jon Mathieu: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit (= Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU); Bd. 3), Basel: Schwabe 2011, 242 S., 16 Farbabb., ISBN 978-3-7965-2711-1, EUR 40,60
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Jon Mathieus "Geschichte der Berge in der Neuzeit" untersucht die Dreidimensionalität der Erde aus historisch-humanwissenschaftlicher Sicht. Im Fokus Mathieus, der an der Universität Luzern und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrt, liegen die Gemeinsamkeiten des menschlichen Lebens in den Gebirgsregionen der Welt in den letzten fünfhundert Jahren. Er kann sich auf umfangreiche eigene Forschungsarbeiten [1] sowie auf vorwiegend europäische und angelsächsische Literatur stützen, welche einzelne Gebirgsregionen der Erde unter historischen, geographischen, biologischen, soziologischen und ökonomischen Faktoren analysiert. Mathieu räumt zu Beginn ein, dass die stark differenzierte Bergwelt nicht flächendeckend abgehandelt werden kann, da Quellenlage und Forschungsstand sowohl von Gebirge zu Gebirge als auch je nach Fragestellung sehr verschieden sind. Dieses methodische Problem löst Mathieu, indem er je nach Fragestellung "variable samples" von Bergregionen berücksichtigt.
Der Autor beginnt damit, zu zeigen, wie sich die Wahrnehmung der Berge globalisierte (13-80). Mit der europäischen Expansion der Frühen Neuzeit und dem späteren Imperialismus begannen westliche Forscher, nicht nur die Alpen, sondern Gebirgsregionen weltweit zu betrachten (u.a. Alexander von Humboldt). Im zweiten und dritten Teil des Buches werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Bergregionen im Hinblick auf die Besiedlung und Verstädterung (81-122) und im Hinblick auf Landwirtschaft, Familienformen und Mobilität (123-160) in historischer Perspektive untersucht. Gemeinsame Charakteristika von Bergregionen waren und sind die begrenzten Ressourcen und die weiten Entfernungen von den Zentren des jeweiligen Landes, wobei es immer wieder bemerkenswerte Ausnahme gab und gibt, wie beispielsweise die bolivianische Hauptstadt La Paz oder Mexico City - zwei Städte, die sich trotz ihrer Gebirgslage zu Zentren ihrer Länder entwickelten.
Zu Beginn des letzten Teils des Buches (161-200) werden der europäischen Wahrnehmung der Berge seit der Neuzeit andere Wahrnehmungen zur Seite gestellt, wie beispielsweise die Berge als Ort von Gottheiten im asiatischen Raum. Darüber hinaus werden Entwicklungen mit besonderer Bedeutung für Gebirgsregionen diskutiert, wie etwa der Alpinismus, der Tourismus oder die Olympischen Winterspiele. In der Mitte des Bandes befindet sich ein Abbildungsteil mit historischen Darstellungen, Illustrationen, Inschriften und Fotos verschiedenster Provenienz, etwa eine Zeichnung von Berggipfeln in verschiedenen Hochgebirgen oder eine historische Ansicht von Mexiko-City, welche auf einer Karte des spanischen Eroberers Hernán Cortés basiert.
Wenn ein globales Phänomen über mehrere hundert Jahre in einem Band abgehandelt wird, der kaum mehr als 200 Seiten umfasst, werden notwendigerweise viele Themen nur schlaglichtartig angerissen und müssen viele Fragen offen bleiben. Gerne hätte der Historiker beispielsweise noch mehr über den seit dem Ende des 13. Jahrhunderts geführten Diskurs über die Besonderheiten der Berge (117-120) gelesen, da diese Diskussion Auswirkungen bis in unsere heutige Wahrnehmung der Gebirgswelt hat. Im Gegensatz dazu erscheinen manche Ausführungen des Buches in ihrer Länge entbehrlich: Auf einen vierseitigen Abschnitt, in dem hauptsächlich ein Resümmée über die Veranstaltungen im Rahmen des von der UN ausgerufenen "Internationalen Jahrs der Berge" im Jahre 2002 gegeben wird, hätte verzichtet werden können. Auch die ausführliche Darlegung der Genese des Gebirgskapitels in der Agenda 21 (14-19) führt den Leser gleich zu Beginn des Buches in eine falsche Richtung. Sicherlich ist es bemerkenswert, wenn das Gebirgskapitel in der Agenda 21, dem Abschlussdokument der UN-Umweltkonferenz in Rio im Jahre 1992, die Wahrnehmung der Bergwelt als eigenes Großökosystem neben dem "Meer" und der "Wüste" etabliert. Dass dieses Ergebnis nicht nur dem Eifer der Autoren, einem kleinen Netzwerk aus besorgten Wissenschaftlern, der sogenannten Mountain Agenda mit dem Schweizer Geographieprofessor Bruno Messerli und dem indischen Ingenieur Jayanta Bandyopadhya, sondern auf günstige diplomatische Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, ist spannend zu lesen. Andererseits erscheint so das Großökosystem "Gebirge" als beliebiges Konstrukt, dessen Probleme aufgrund einer zufälligen günstigen Situation auf diplomatischem Parkett thematisiert wurden. Worin aus anthropologischer Sicht die Gemeinsamkeiten von so so disparaten Gebirgsregionen wie den Rocky Mountains, dem Himalaya und den Alpen bestehen, wird zu wenig deutlich.
Dabei liefert Mathieu selbst Ansätze, welche Vorgeschichte das Großökosystem "Gebirge" wissenschaftshistorisch hat. Gerade in diesen Passagen liegen die Stärken des Buches, wenn anschaulich die Ergebnisse so unterschiedlicher Forscher wie Alexander von Humboldt (1769-1859), Jules Blache (1893-1970) oder Carl Troll (1899-1975) dargelegt werden. Es wird deutlich, dass sie es sind, die unsere Gebirgswahrnehmung bestimmen: Mehr als es ein Kapitel in einem offiziellem Abschlussdokument einer internationalen Konferenz es vermag.
Anmerkung:
[1] Jon Mathieu: Geschichte der Alpen 1500 - 1900. Umwelt, Entwicklung und Gesellschaft, Wien 1998.
Anselm Tiggemann