Rezension über:

Jakub Poznański: Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt, Berlin: Metropol 2011, 354 S., ISBN 978-3-86331-015-8, EUR 24,00
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Rezension von:
Miriam Y. Arani
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Miriam Y. Arani: Rezension von: Jakub Poznański: Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt, Berlin: Metropol 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/24261.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Jakub Poznański: Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt

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Vor dem deutschen Angriff auf Polen 1939 war ein Drittel der Einwohner der polnischen Stadt Łódź jüdisch. Im Jahr 1940 errichtete die nationalsozialistische Besatzungsmacht hier eines der beiden größten geschlossenen Ghettos im deutsch besetzten Polen, das als einziges bis August 1944 bestand. Die einschlägigen schriftlichen Quellen zum Ghetto Litzmannstadt (Łódź) sind neben den amtlichen Dokumenten vor allem autobiografische Texte der jüdischen Ghettoinsassen. Im Vergleich zu den nach dem Krieg verfassten Erinnerungen sind die Tagebücher wegen ihrer größeren Zeitnähe von höherem Quellenwert. Bisher war nur das Tagebuch des jugendlichen Dawid Sierakowiak in deutscher Sprache zugänglich. Nun liegt mit dem Tagebuch von Jakub Poznański (1890-1959) ein singuläres, ursprünglich in polnischer Sprache verfasstes Selbstzeugnis auf Deutsch vor, das dieses Ghetto aus der Perspektive eines der polnischen Sozialdemokratie nahestehenden jüdischen Bewohners darstellt.

Poznański war nach seinem Studium der Agrarwirtschaft und Chemie in seine Geburtsstadt Łódź zurückgekehrt. Von Oktober 1941 bis kurz nach der Befreiung der Stadt führte er ein Tagebuch, das einen Zeitraum abdeckt, zu dem nur sehr wenige jüdische Selbstzeugnisse vorliegen. Eine Besonderheit seiner Aufzeichnungen liegt in ihrem betont sachlichen Stil und dem breiten Themenspektrum, das sich unter anderem auf seine verschiedenen Funktionen und Kontakte im Ghetto zurückführen lässt, über die er vielfältige Informationen bezog. Nachdem Poznański zur Aufgabe seiner Arbeit in der Firma seines früheren deutschen Schulkameraden Haessler gezwungen worden war, leitete er 1940 vorübergehend eine der jüdischen Ghettoverwaltung unterstehende Plantagenabteilung, war dann als Kontrollinspektor der Sanitäraufsicht tätig und arbeitete anschließend als Saalaufseher im Ressort für Papiererzeugnisse; daneben fungierte er zeitweilig als Vorstandsmitglied einer Kommission, die der Sparkasse des Ghettos unterstand.

Seine Aufzeichnungen legte Poznański in insgesamt 13 karierten Schulheften nieder, von denen sieben verloren gingen. Der Herausgeber Ingo Loose hat die noch erhaltenen Hefte übersetzt und den Text der verlorenen unter Zuhilfenahme der ersten polnischen Buchausgabe des Tagebuchs aus dem Jahr 1960 rekonstruiert. Zum besseren Textverständnis hat er das Tagebuch mit Anmerkungen zu verschiedenen historischen Sachverhalten versehen, die Poznański selbst zum damaligen Zeitpunkt nicht eingehender überprüfen konnte. Das betrifft beispielsweise von Poznański erwähnte Bahntransporte aus dem Ghetto, die nach heutigem Kenntnisstand in das Todeslager Kulmhof führten. Poznański wollte den im Ghetto kursierenden Gerüchten über die Vernichtung der Juden zunächst keinen Glauben schenken. Sein Tagebuch dokumentiert vielmehr, dass und wie die jüdischen Ghettoinsassen von den Repräsentanten der deutschen Ghettoverwaltung über Ziel und Zweck dieser Transporte belogen wurden. Erst im letzten Quartal 1944 erlangte Poznański Gewissheit, dass die aus dem Ghetto abtransportierten Juden ermordet werden.

Poznańskis Skepsis erstreckte sich nicht allein auf Gerüchte über die Vernichtung der Juden; er überprüfte die ihm mündlich zugetragenen Neuigkeiten kritisch auf ihre Zuverlässigkeit hin. Sein Bestreben, nur objektive Fakten als Grundlage seines Urteils über die Welt gelten lassen zu wollen, kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass er in seinem Tagebuch regelmäßig den aktuellen Sachstand zu den Lebensmittelzuteilungen im Ghetto und den Frontverläufen festhält; die Kriegsereignisse verfolgte er laufend anhand von Zeitungsmeldungen und Radiosendungen. In diesem von der Nahrungsmittelversorgung einerseits und der Entwicklung des Kriegsverlaufs andererseits gesetzten Rahmen beschreibt Poznański verschiedenartige Vorkommnisse und die Zustände im Ghetto. Wiederholt versucht er, die Wirtschaftslage im Ghetto zu analysieren, wobei die meisten seiner Überlegungen der Frage nach den Ursachen für den chronischen Geldmangel in der Hauptkasse gelten.

Seiner auf die Bearbeitung externer Daten ausgerichteten Ausbildung entsprechend, beschreibt Poznański das Geschehen im Ghetto zunächst möglichst neutral als Prozesse und Strukturen außerhalb seiner Person. Dass er auch subjektiv und emotional in das Geschehen verwickelt ist, kommt anfangs in erster Linie durch seine Sorgen um den Gesundheitszustand seiner Tochter zum Ausdruck. Im weiteren Zeitverlauf veranlassen ihn vor allem die Machtverhältnisse und organisatorischen Abläufe in der jüdischen Ghettoverwaltung zur Niederschrift seiner Gedanken und zur Artikulation seines Ärgers. Seine Kritik richtet sich dabei in erster Linie gegen den Führungsstil des "Judenältesten" Chaim Mordechai Rumkowski, unter dem sich ein hohes Maß an Nepotismus und Klientelismus zu Ungunsten der Mehrheit der Ghettoinsassen entfaltete. Vor diesem Hintergrund erscheinen Poznański zunächst sogar manche Maßnahmen Hans Biebows, des Leiters der deutschen Ghettoverwaltung, als gerechtfertigt, wobei er von einer zunächst ambivalenten schließlich zu einer negativen Bewertung Biebows gelangt.

Die großen Deportationen aus dem Ghetto 1942 beschreibt Poznański noch mit großer innerer Distanz. Doch diese Haltung gibt er in der folgenden Zeit allmählich auf. Von Ende 1943 an beschreibt er öfter an sich selbst feststellbare körperliche und seelische Folgen der Ghettoisierung: "Ich verberge meinen Hunger vor Frau und Kind. Seit einigen Tagen bemerke ich, dass ich nur noch Haut und Knochen bin. Auf dem Kopf liegt die Haut direkt auf dem Schädel, ohne jede Fettschicht, bei Berührung ist das ein sehr trauriges Gefühl" (183). Nach Reflexion seiner eigenen Erfahrungen mit dem Hunger bereut er seine Fehlurteile über andere, die früher als er darunter litten: "Noch im Sommer und Herbst konnte ich Leute nicht verstehen, die über einen Druck im Magen klagten. Sogar meiner Tochter warf ich Überempfindlichkeit vor. [...] Heute entschuldige ich mich vielmals bei ihr. Erst das eigene Hungergefühl hat mir vollständig zu Bewusstsein gebracht, dass ich unrecht hatte" (190). Im April 1944 stellte er fest: "Ich denke, dass ich tatsächlich infolge des Hungers ständig nervös bin. Die geringfügigste Kleinigkeit bringt mich aus dem Gleichgewicht" (211).

Im Verlauf des letzten Kriegsjahres findet Poznański zu einer flüssigeren Darstellung der von ihm beobachteten und erlebten Extremsituationen im Ghetto jenseits der anfänglichen Faktografie. Ausführlich beschreibt er im Sommer 1944, wie er bei der deutschen Kriminalpolizei in Litzmannstadt "verhört" wurde. Es handelt sich um die längste Textpassage zur deutschen Polizei in seinem Tagebuch. Poznański war im Bewusstsein des völligen Fehlens persönlicher Kontakte zu Deutschen außerhalb des Ghettos sehr darum bemüht, diesen keine schlechten Absichten zu unterstellen, sondern zunächst von ihrer Vertrauenswürdigkeit auszugehen, was 1944/45 in einer umso stärkeren Enttäuschung mündete.

Da Poznański den größten Teil seines Lebens in Łódź verbrachte, ist seine abschließende Einschätzung, das nationalsozialistische Besatzungsregime habe den Antisemitismus in Polen breitenwirksam popularisiert, nicht als aus der Luft gegriffen von der Hand zu weisen. Poznańskis Tagebuch wurde vom Herausgeber mit einem Personenverzeichnis und einer Bibliografie weiterführender Literatur zum Ghetto Litzmannstadt versehen und ist damit als ein singuläres Selbstzeugnis einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit in geeigneter Form zugänglich gemacht worden.

Miriam Y. Arani