Rezension über:

Tim Buchen / Maria Luft (Hgg.): Breslau / Wrocław 1933-1949. Studien zur Topographie der Shoah, Berlin: Neofelis Verlag 2023, 621 S., ISBN 978-3-95808-422-3, EUR 44,00
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Rezension von:
Rüdiger Ritter
Dokumentationszentrum Haren/Macków
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Ritter: Rezension von: Tim Buchen / Maria Luft (Hgg.): Breslau / Wrocław 1933-1949. Studien zur Topographie der Shoah, Berlin: Neofelis Verlag 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/06/40322.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Tim Buchen / Maria Luft (Hgg.): Breslau / Wrocław 1933-1949

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Die Fakten der Judenvernichtung sind allgemein bekannt. Was aber bedeutete das konkret, vor Ort? Wie veränderten sich städtische Räume, wie veränderten sich Nutzungen von Gebäuden, Plätzen und Straßenzügen? Fragen dieser Art sind nicht nur für Lokalhistoriker von Interesse, sondern sie haben auch eine eminent wichtige Bedeutung für die Schaffung von Erinnerungs- und Gedenkorten.

An diesem Punkt setzen Projekte an, die die Judenvernichtung in konkreten Städten in ihren Auswirkungen auf die jeweilige Topografie beschreiben. Die hier zu besprechende Publikation ist das Ergebnis eines solchen auf die Stadt Breslau bezogenen Projekts, die nach 1945 als Wrocław weiterexistierte. Das Projekt wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert und unter Leitung von Tim Buchen an der TU Dresden und in Kooperation mit Marcin Wodziński, Leiter des Lehrstuhls für Judaistik an der Universität Wrocław, durchgeführt. Den Anstoß dazu hatten zuvor Überlebende aus Breslau gegeben, nach dem Vorbild einer ähnlichen Unternehmung für Wien. [1]

Wie in so vielen Städten im östlichen Mitteleuropa wurde in Breslau nicht nur die ortsansässige jüdische Bevölkerung vernichtet, sondern der Wandel von Breslau zu Wrocław war auch mit einem so gut wie vollständigen Austausch der Einwohnerschaft verbunden. Nicht nur die breite Stadtbevölkerung, sondern auch die städtischen Eliten Wrocławs hatten nach 1945 zunächst keine innere Verbindung zur Geschichte ihres neuen Wohnorts, sondern diese wurde sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte in einem wechselvollen Prozess angeeignet.

Maria Luft weist in ihren einleitenden Worten darauf hin, dass dieses Phänomen zu einer Forschungslücke zum Breslau der NS-Zeit geführt habe, insbesondere bezüglich der jüdischen Bevölkerung. In der DDR galt die Beschäftigung mit Breslau als hochbrisantes Thema, so dass hier wenig mehr als die offizielle Lesart reproduziert wurde. Als in Westdeutschland nach einiger Zeit die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord wieder einsetzte, war Breslau außerhalb der Vertriebenenverbände in der Öffentlichkeit kaum mehr präsent. Im sozialistischen Polen erlaubten die Prämissen des Staates nur in begrenztem Maße eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen und jüdischen Breslaus, eine intensivere Beschäftigung damit setzte somit erst nach der politischen Wende von 1989 ein. Stimmen in der jüdischen Diaspora, sich dieses Thema anzunehmen, blieben in dieser Situation lange ohne Gehör.

Das hier vorliegende Projekt wirkt also in drei Richtungen: Erstes rekonstruiert es die Endphase jüdischer Präsenz in Breslau, zweitens korrigiert es die unvollständige deutsche Erinnerung an Breslau, und drittens liefert es wesentliche Bausteine für eine Aneignung dieses Teils der Breslauer Stadtgeschichte für das heutige Wrocław - und zwar nicht nur für die polnische Bevölkerung, sondern auch für die in Wrocław wieder existierende jüdische Bevölkerung.

Die theoretischen Implikationen des Konzeptes einer Topografie werden von Buchen breit dargelegt. Er zeigt, wie sich imaginäre und reale Räume bilden und überschneiden, wobei er insbesondere auf die Liminalität des Konzepts "Raum" hinweist. Ein weiteres theoretisches Konzept scheint durch die einzelnen Beiträge und Aufsätze des Bandes immer wieder durch, wird aber nicht im gleichen Maße theoretisch unterfüttert: Die topografische Betrachtung gestattet nämlich auch, die Mechanismen der Judenvernichtung an konkreten Orten durch konkrete Personen in konkreten Situationen darzustellen. Dabei erlaubt die Kenntnis der Mechanismen in den Einzelheiten weitreichende, über die einzelne Situation hinausgehende Erkenntnisse: So weist Buchen mit Blick auf die neuere Holocaustforschung darauf hin, dass es in Ghettos keinesfalls nur ein Warten auf den Tod gab, sondern dass die jüdischen Bewohner bis zuletzt den Alltag in all seinen Facetten bis hin zum Widerstand aufrechtzuerhalten suchten.

Positiv hervorzuheben ist, dass das Projekt nicht nur den Zeitraum der Judenvernichtung im engeren Sinne umfasste, sondern die ersten Nachkriegsjahre bis 1949 ausdrücklich miteinbezog. Das ist deswegen wichtig, weil nur so deutlich wird, auf welchen Grundlagen der Aufbau des polnischen Wrocław erfolgte. Beiträge im vierten Kapitel weisen darauf hin, dass durch die Auslöschung jüdischer Orte in der Kartografie Breslaus die Stadtväter von Wrocław mangels entsprechenden Wissens mit diesen Orten ganz anders umgingen. Das zeigt auf beklemmende Weise, wie erfolgreich die damnatio memoriae der Nationalsozialisten war, und es beweist einmal mehr, wie notwendig das hier besprochene Projekt ist, da erst durch diese Forschungen derartige weiße Flecken wieder ins Blickfeld gerückt wurden.

Die Beiträge des Bandes greifen mitunter weit vor das Jahr 1933 zurück. Auch das hat seine Berechtigung, denn so wird deutlich, welche Entwicklungen zur Judenvernichtung in Breslau hinführten, welche Vorboten, aber auch welche Gegenkräfte es gab. Zu untersuchen wäre (nicht nur für Breslau), ob sich gesellschaftliche Kipppunkte identifizieren lassen, an denen ein vorhandener Antisemitismus zu der von der Stadtgesellschaft akzeptierten Judenvernichtung umschlug.

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert, in denen die Stationen der jüdischen Gesellschaft Breslaus von der Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung beispielhaft nachgezeichnet werden. Auch weisen einige Beiträge darauf hin, dass jüdisches Leben in Wrocław mit dem Jahr 1945 keineswegs beendet war. Das erste Kapitel beschreibt die "Ausgrenzung von Juden aus dem öffentlichen Raum" und zeigt, wie durch konkrete Maßnahmen, wie etwa der Einrichtung sog. Judenhäuser, jüdischer Lebensraum immer mehr beschnitten wurde, aber auch, wie lange jüdische Organisationen wie etwa der "Landesverband Niederschlesien des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" ihre Tätigkeit noch fortsetzen konnten, bis das Novemberpogrom von 1938 ihrer Arbeit ein Ende setzte. Das zweite Kapitel widmet sich unter dem Titel "Religion und Politik - Räume und Zwischenräume" einigen zentralen Orten des Breslauer Judentums wie etwa dem Jüdisch-Theologischen Seminar, der Neuen Synagoge und dem Jüdischen Friedhof. Die Vernichtung der architektonisch beindruckenden Neuen Synagoge in der Reichspogromnacht führt auch dem ansonsten mit dem Thema wenig vertrauten Leser deutlich vor Augen, welch tiefen Einschnitt der Kampf gegen das Breslauer Judentum für die Topografie Breslaus tatsächlich bedeutete.

Das dritte Kapitel behandelt "Jüdische Kunst- und Kultur-Räume und ihre Zerstörung". Hervorzuheben sind insbesondere die Untersuchungen zu den jüdischen Museumssammlungen und zur Rolle des Rundfunks für die Breslauer Juden - ein selten betrachtetes, aber dennoch wichtiges Gebiet. Das vierte Kapitel schließlich thematisiert "Endstationen: 'Euthanasie', Zwangsarbeit, Lagerhaft, Sammelstellen und Deportationen." Die Autoren der hier enthaltenen Beiträge weisen darauf hin, dass Orte einer vermeintlichen Zuflucht und Rettung sich vielfach auch als Orte der Vernichtung erweisen konnten wie etwa Krankenhäuser oder Bahnhöfe, von denen aus entweder eine geglückte Ausreise oder eine Deportation in ein Vernichtungslager beginnen konnte. Noch weitgehend unerforscht ist die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in Breslau sowie in den umliegenden Orten und Zwangsarbeiterlagern wie etwa Breslau-Klettendorf oder Groß-Masselwitz, der sich ein weiterer Beitrag in dieser Abteilung widmet.

Das letzte Kapitel behandelt "Orte der Shoah in Breslau/Wrocław, betrachtet aus der Distanz". Hier zeigen die Beiträge u. a., dass die physische Auslöschung von Orten und Gebäuden fatale Auswirkungen auf das historische Gedächtnis hatte, da sie schon bald nicht mehr nur physisch verschwunden, sondern auch aus dem Gedächtnisraum getilgt waren. Allerdings gibt es auch Beispiele dafür, wie so zentrale Orte wie die Jüdischen Friedhöfe bis in die Gegenwart hinein von einzelnen Akteuren der Stadtgesellschaft jeweils neu angeeignet wurden. Sehr wichtig zum Verständnis des Umgangs mit der jüdischen Vergangenheit Breslaus in Wrocław sind die Hinweise auf Formen der Ausgrenzung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur auch nach 1945. Das wirft die Frage auf, wie die neue polnische Administration mit dem Erbe des jüdischen Breslau umging, als es um den Wiederaufbau der Stadt als Wrocław ging - eine Frage, die ein weiteres wichtiges Forschungsfeld eröffnet, das den Rahmen der hier zu besprechenden Publikation sicherlich gesprengt hätte. Schließlich informiert ein Beitrag über die Recherchemöglichkeiten zur Rekonstruktion der Verfolgung der Breslauer Juden vor allem in den Arolsen Archives.

Die Beiträge sind ausnahmslos akribisch recherchiert und präsentieren eine Fülle von Details nicht nur zur jüdischen Kultur, sondern auch zur Stadtgeschichte Breslaus allgemein. Hervorzuheben ist, dass in vielen Beiträgen Zeitzeugenberichte oder Zitate eingefügt wurden, die das Geschehene über die wissenschaftliche Aufarbeitung hinaus plastisch nachvollziehbar machen. Dem Band sind zwei längere Erinnerungsberichte beigefügt, die zusätzlich einen summierend-retrospektiven Charakter haben. Seinem Anspruch, nämlich die Topografie Breslaus/Wrocławs und ihren Wandel als Folge der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Detail darzustellen, wird das Buch auf beeindruckende Weise gerecht.


Anmerkung:

[1] https://www.oeaw.ac.at/ikw/forschung/abgeschlossene-projekte/abgeschlossene-projekte-orte-des-gedaechtnisses-erinnerungsraeume/topographie-der-shoah-gedaechtnisorte-des-zerstoerten-juedischen-wien (16.09.2024).

Rüdiger Ritter