Alwin Meyer: Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz, Göttingen: Steidl-Verlag 2015, 759 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86930-949-1, EUR 38,80
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70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz legt der Autor und Filmemacher Alwin Meyer sein Werk über die Kinder von Auschwitz vor. Er hatte über nahezu vier Jahrzehnte hinweg die Geschichten der wenigen Kinder, die das Vernichtungslager überlebt hatten, gesammelt und die historischen Fakten, die den Kontext dieser Schicksale bilden, zusammengetragen. Das Ergebnis ist ein 760 Seiten umfassender Band, der die Schicksale der Geretteten bündelt. In drei chronologisch aufeinander folgenden Abschnitten zeichnet der Autor Eindrücke der Lebenswelten der Kinder vor ihrer Deportation, im Vernichtungslager und ihres Lebens nach dem Krieg nach.
Die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger, die Auschwitz überlebte, schrieb später: "Nach den Richtlinien der SS brachte jedes jüdische Kind automatisch seiner Mutter den Tod. Das Lager nahm, abgesehen von einzelnen Zufällen keine Judenkinder an. Sie gingen sofort nach der Ankunft lebend oder gegast (sic!) ins Feuer, und nicht die Kinder allein, sondern mit ihnen die Mutter. Jede Frau, die ein Kind bei sich hatte, auch wenn es nicht ihr eigenes war, sondern ein fremdes, das sie zufällig führte, war dem Tode geweiht." [1] Trotzdem gab es vereinzelte Geburten im Lager, auch wenn diese Neugeborenen kaum eine Überlebenschance hatten. Für die kleine Zahl der geretteten Kinder gab es im späteren Leben keine Erinnerungen an ein behütetes Familienleben, an liebende Eltern, an unbeschwerte Kinderjahre.
Alwin Meyer zeichnet im ersten Teil seiner Studie Bilder jüdischen Lebens vor Auschwitz in den Ländern Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Griechenland, wie sie sich in den Erinnerungen der Überlebenden erhalten haben. Die Kindheit war das verlorene Paradies, die Rückerinnerungen blieben jedoch im späteren Leben immer schmerzhaft, oftmals nahezu unerträglich. Es folgen Erfahrungen jüdischer Kinder im Deutschland der 1930er Jahre. Sie waren die ersten, die unter der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu leiden hatten, die geächtet und vom Schulunterricht ausgeschlossen wurden, deren Leben lange vor der Deportation durch Angst und Bedrohung gekennzeichnet war.
Der zweite und umfangreichste Teil des Buches ist den Wegen der Deportation und den Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen im Todeslager gewidmet. Für deutsche und fast alle tschechisch-jüdischen Kinder war Theresienstadt Zwischenstation dorthin, für Kinder und Jugendliche polnischer Staatsangehörigkeit waren es das Ghetto Lodz oder Zwangsarbeitslager. Im Zentrum all dieser Lebensgeschichten steht jedoch das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo die Massentötungen mit Giftgas im Frühjahr 1942 begannen. Waren die Ankunft im Lager, die zumeist sofortige gewaltsame Trennung von den Angehörigen, die pausenlose, allgegenwärtige Gewalt, die Tatsache der sofortigen Ermordung fast aller Kinder, Frauen und alten Menschen in den Gaskammern schon für Erwachsene unvorstellbar und unbegreiflich, so galt dies in viel stärkerem Maße für Kinder und Jugendliche. Alwin Meyer reiht Bruchstücke der Erinnerung aneinander, die diese Kinder und Jugendlichen, die zu Lagerinsassen geworden waren, in ihrem späteren Leben in sich trugen. Ihr Lageralltag war wie der Alltag von erwachsenen Häftlingen gekennzeichnet durch Hunger, Kälte, Schmutz, Angst und die tägliche Zeugenschaft von Tod und Gewalt. Bei den älteren Jugendlichen kam die kräftezehrende Zwangsarbeit hinzu. "Als man uns von unseren Eltern weggenommen hatte und wir genau wussten, wann sie ins Krematorium gehen würden, da konnte niemand von uns weinen", schreibt Yehuda Bacon, der nach seiner Ankunft in Auschwitz noch einige Monate im so genannten Theresienstädter Familienlager mit seinem Vater zusammen gewesen war. Meyer schildert die Geschichten der Geburten in Auschwitz sowie das Schicksal der Zwillinge, die zunächst vor dem Tod in der Gaskammer bewahrt wurden, um für grausame medizinische Experimente des Dr. Josef Mengele missbraucht zu werden.
Zwischen August 1944 und Januar 1945, als die Rote Armee immer näher kam, wurden das Lager Auschwitz und seine Außenlager geräumt, auch ein Teil der Jugendlichen wurde auf Fußmärschen oder in Güterzügen nach Westen evakuiert, wo die Befreier erst im Frühjahr 1945 eintrafen. In Auschwitz selbst trafen die Einheiten der Roten Armee am 27. Januar 1945 noch auf 416 Kinder unter 13 Jahren, darunter Säuglinge und Kleinkinder und 234 Jugendliche bis zu 17 Jahren. Nicht wenige starben noch nach ihrer Befreiung an Unterernährung, Krankheiten oder körperlicher Erschöpfung.
Der dritte und letzte Teil des Buches ist den Lebenswegen der geretteten Kinder nach Auschwitz gewidmet. Es gibt zwar bereits publizierte Erinnerungen und Aufzeichnungen lebensgeschichtlicher Interviews von einigen dieser "Auschwitz-Kinder". Zum ersten Mal macht jedoch Alwin Meyer in seinem Buch die Gemeinsamkeiten deutlich, die das weitere Leben Aller aufs Schwerste belastete. Er nennt sie: "Sich erinnern müssen", "Das Gefühl der Verlassenheit", "Niemandem erzählen dürfen", "Das Überleben seelisch überleben". Neben den physischen Schäden durch die Haft, von denen sich manche schnell, andere erst nach Jahren und manche nie mehr erholen konnten, wurden jedoch alle für den Rest ihres Lebens von den psychischen Belastungen der Erinnerungen an Schrecken und Todesangst, des Verlustes von Angehörigen und Freunden verfolgt und gequält. Es gab für keinen der Überlebenden die erträumte Rückkehr in das Leben vor der Deportation, sie fühlten sich im Gegenteil nirgendwo willkommen, blieben der "normalen" Welt der Erwachsenen fremd, wo außer den ehemaligen Mithäftlingen niemand eine Vorstellung davon hatte, was sie durchleiden mussten.
Kinder, die nichts über ihre Herkunft wussten und die nach der Befreiung bei Pflegeeltern oder in Waisenhäusern aufwuchsen, begannen als Erwachsene nach ihrer Herkunft zu forschen und nach Angehörigen zu suchen. Der polnische Auschwitz-Überlebende Tadeusz Szymanski, der die Gedenkstätte Auschwitz mit aufgebaut hatte und der bis zu seinem Tod im Jahr 2002 auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslager lebte, war der erste Ansprechpartner für die überlebenden "Kinder von Auschwitz", die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln machten. Er unterstützte sie über viele Jahre hinweg mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen bei den Nachforschungen nach Eltern und Familie. Er war ihnen Freund und Berater wenn sich Kontakte mit potentiellen Angehörigen entwickelten, die gelegentlich zu schmerzhaften Konflikten mit den Adoptiveltern führten. Alwin Meyer bewahrt mit diesen Kapiteln auch die Erinnerung an Tadeusz Szymanski, der wie kein anderer sein Leben nach der Befreiung der Bewahrung der Erinnerung an Auschwitz gewidmet hat.
Trotz all der durchlebten Schrecken gelang es den meisten überlebenden Kindern ihren Platz im Leben zu finden, einen Beruf zu erlernen, eine Familie zu gründen. Aber das Trauma "Auschwitz" hat sie nie wieder verlassen, jeden Tag mussten sie um ein fragiles Gleichgewicht kämpfen um nicht von der Vergangenheit beherrscht zu werden. Sie lebten und leben noch immer im Schatten der Toten - die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem schätzt, dass eineinhalb Millionen jüdischer Kinder im Holocaust ermordet wurden. Hinzu kommen die nichtjüdischen Kinder vor allem polnischer und russischer Herkunft sowie Sinti und Roma.
Die Fülle der oftmals schwer erträglichen Einzelheiten droht den Leser gelegentlich zu überwältigen. Dennoch wird man dieses Buch zu Ende lesen, denn das Leid der Kinder, dessen Ausmaß hier zum ersten Mal zusammenfassend in den Blick genommen wird, ergreift und bewegt auf nachhaltige Weise. Alwin Meyer ist es gelungen, das Vertrauen dieser Geretteten zu gewinnen und aus Bruchstücken ihrer Erinnerungen ein Werk zu schaffen, das zugleich Aufklärung, Vermächtnis und Denkmal für die "Kinder von Auschwitz" ist. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung.
Anmerkung:
[1] Lucie Adelsberger: Auschwitz. Ein Tatsachenbericht, Berlin 1960, 247.
Barbara Distel