Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek: Rowohlt Verlag 2011, 859 S., 5 Kt., ISBN 978-3-498-02127-6, EUR 34,95
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Im Jahr 1985 lobte der Bürgermeister von Gauting, einer Gemeinde südlich von München, durch die der Todesmarsch der Dachauer Häftlinge in den letzten April- und ersten Maitagen des Jahres 1945 geführt hatte, einen Wettbewerb für ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Verbrechens aus. Zu diesem Zeitpunkt waren außer drei Fotoaufnahmen einer Marschkolonne, die ein junger Mann heimlich aus seinem Elternhaus aufgenommen hatte, und der Aufstellung aus der Dachauer Lagerschreibstube vom 26. April 1945 über den Abmarsch von drei Marschgruppen mit insgesamt 6.887 Gefangenen so gut wie nichts über den Dachauer Todesmarsch bekannt. Im Laufe der darauf folgenden zwei Jahrzehnte wurde das "Projekt Denkmal Dachauer Todesmarsch" zu einem Lehrstück politischer Bildung und historischer Aufklärung. Es führte zur Errichtung von 23 identischen Mahnmalen entlang der Marschroute, der zum Teil äußerst kontroverse Debatten in den betroffenen Gemeinden vorausgegangen waren. Darüber hinaus wurde es zur Brücke nach Israel, zu Überlebenden des Dachauer Marsches, die sich nach Jahrzehnten der Abkehr von Deutschland zu Besuchen in Bayern und zum Dialog mit jungen Deutschen bereitfanden.
Eine überraschende Erkenntnis der historischen Recherchen zu diesem Schlusskapitel der Geschichte des Konzentrationslagers Dachau war die Präsenz der Geschehnisse im Gedächtnis der Bewohner der Orte, die den Marsch der Häftlinge gesehen hatten. Die Erinnerungen waren zwar verschüttet und verdrängt, sie kehrten jedoch bei Befragungen in großer Lebendigkeit zurück. Immer wieder wurde das Geräusch der Holzpantinen geschildert, das Bild der Elendsgestalten und der Schrecken über die erbarmungslose Brutalität der Bewacher, die jeden Gefangenen erschossen, der nicht weitergehen konnte. Es gab aber auch Berichte über die heimliche Verteilung von Wasser und Brot durch die Bevölkerung trotz des strikten Verbots der Bewacher und über einige erfolgreiche Fluchtversuche, vor allem einer größeren Gruppe von Geistlichen, die bis zum Eintreffen der amerikanischen Befreier versteckt werden konnten.
Die im Januar 2011 vorgelegte Studie des israelischen Historikers Daniel Blatman zu den Todesmärschen 1944/45 stellt nun zum ersten Mal eine umfassende Chronologie der Verbrechen vor, die im Zusammenhang mit der Evakuierung und Ermordung von Häftlingen im Zuge des deutschen Rückzugs 1944/1945 begangen wurden. Die detailreiche Schilderung grauenhafter Gewalttaten von mörderischer Brutalität, mit der Insassen der Konzentrationslager zu Zehn- ja zu Hunderttausenden zu Tode gebracht wurden, lässt den Leser fassungslos zurück. Selbst wenn man mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen, des Lagersystems und des systematischen Judenmords vertraut ist, fällt es schwer, diese Aneinanderreihung entsetzlicher Verbrechen aufzunehmen. Auch das schrumpfende 'Dritte Reich' verwandelte sich ab Sommer 1944 von Ost- bis Westeuropa und von Nord bis Süd in das, was der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seiner neuen Studie als "Bloodlands" bezeichnete. Anders als Daniel Goldhagen, der in seiner Studie die Todesmärsche als Teil der 'Endlösung' einordnete, sieht Blatman die Todesmärsche jedoch als eigenständiges Genozidverbrechen, das bisher weder von Seiten der Justiz noch von der Geschichtswissenschaft in ausreichendem Maße gewürdigt wurde.
Die Studie ist in zwei Teile gegliedert. In Teil 1 "Das System bricht zusammen" schildert Blatman zunächst die Errichtung des KZ-Systems und seiner Entwicklung bis zum Jahr 1944, dann die Evakuierungen der Konzentrationslager Majdanek und Natzweiler-Struthof vom Sommer und Herbst 1944 und die im Zusammenhang damit begangenen Morde. Es folgt die Darstellung der Verbrechen während der Auflösung der Lagerkomplexe Auschwitz, Groß-Rosen und Stutthof und schließlich im Frühjahr 1945 das mörderische Geschehen in Norddeutschland. Den Abschluss bildet die Geschichte der Evakuierungen der Lagerkomplexe Dachau und Mauthausen, die in den ersten Maitagen 1945 ihr Ende fand.
In Teil 2 "Kriminelle Gemeinschaften" nimmt der Autor die an den Verbrechen beteiligten Personen in den Blick. Als wichtigstes Beispiel dient ihm die Geschichte des Todesmarsches von Hannover-Stöcken, einem Außenlager des KZ Neuengamme, nach Gardelegen, der mit einem Massaker an mehr als tausend Häftlingen, die in eine brennende Scheune gesperrt wurden und der Erschießung all derer, die zu entkommen suchten, ein schreckliches Ende fand. Blatman zeichnet den Ablauf minutiös nach, wobei der entscheidende Unterschied zu den Mord- und Vernichtungsaktionen der vorangegangenen Jahre deutlich wird: Nicht nur KZ-Verbrecher, von den Lagerkommandanten bis zu den SS-Wachmännern, waren auf Befehl der Berliner Zentrale an den Mordaktionen beteiligt. Als am Ende des "tausendjährigen Reiches" die Häftlinge nicht mehr hinter Stacheldraht verborgen waren, sondern als kranke und verhungernde Elendsgestalten durch Städte, Dörfer und Landschaften getrieben wurden, geschah dies vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit. Aber dort begegnete ihnen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - weder Empathie noch Mitleid, sondern Ablehnung, Furcht und Hass, der seinen Ausdruck in exzessiver Gewalt fand. "Normale Volksgenossen", Angehörige des Volkssturms, der Gendarmerie und Polizei, auch Mitglieder der Hitlerjugend - Blatman geht von Zehntausenden aus - beteiligten sich an den Massakern oder sahen ihnen gleichgültig oder zustimmend zu. Blatman erklärt dies unter anderem mit einer "genozidären Mentalität", von der die gesamte deutsche Gesellschaft schon lange beherrscht gewesen sei. Die Opfer wurden als Fremde gesehen, die ein Gefühl von Bedrohung und Gefahr evozierten, welche das Morden ermöglichte und offenbar rechtfertigte. Als jeder wusste, dass der Krieg verloren war und das "Tausendjährige Reich" vor dem Zusammenbruch stand, verfiel das Land nahezu vollständig der Barbarei.
Ebenfalls am Beispiel Gardelegen zeichnet Blatman den Umgang mit dem Verbrechen nach 1945 nach. Nachdem amerikanische Militärbehörden die Bergung und Bestattung der Opfer veranlasst hatten, führten sie Ermittlungen vor Ort durch. Nach der Übernahme der Region am 1. Juli 1946 durch sowjetische Besatzungsbehörden leiteten die Amerikaner ihre Ermittlungsergebnisse an die sowjetischen Behörden weiter. Bis Mitte der 1950er Jahre wurden einige wenige Täter vor sowjetischen Gerichten angeklagt. Gardelegen wurde zum Ort antifaschistischen Gedenkens. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR begann eine erneute Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Verbrechens und seiner Opfer. 1991 nahm die Staatsanwaltschaft Magdeburg erneut Ermittlungen auf, die aber zu keinen Strafverfahren mehr führten. "Wie in unzähligen anderen Fällen auch, in denen Häftlinge während der Todesmärsche und Lagerräumungen ermordet worden waren, wurde die überwiegende Mehrheit der Mörder von Gardelegen niemals vor Gericht gestellt", bilanziert Blatman.
Leider enthält die Studie auch einige gravierende Fehler, die bei genauer Recherche zu vermeiden gewesen wären. So schreibt Blatman fälschlicherweise, in Dachau sei erst im Februar 1945 eine Gaskammer installiert worden. Tatsächlich war sie schon ab 1942 im Bau gewesen und wohl 1943 fertiggestellt, allerdings nie zu Massentötungen benutzt worden. Blatman hingegen hält es für bewiesen, dass dort Vergasungen in großem Umfang stattgefunden haben. Dabei beruft er sich auf die Aussage eines österreichischen politischen Gefangenen, der bereits in Auschwitz selektiert habe, und schreibt, dieser "tat dies auch in Dachau". Blatman ordnet kurzerhand die Toten der Typhusepidemie der letzten Monate als Opfer der Dachauer Gaskammer ein und behauptet: "Wie andernorts wurde in der Gaskammer in Dachau das Gas Zyklon B verwendet."
Der Befehl Heinrich Himmlers vom 14. April 1945, nach dem kein Häftling lebend in die Hände des Feindes fallen durfte, ist unvollständig zitiert. Er meint überdies, dass von den 16.300 Häftlingen in den Dachauer Außenlagerkomplexen Kaufering und Mühldorf 7.500 Juden gewesen seien, obwohl die nichtjüdischen Häftlinge dort nur etwa 10 Prozent ausmachten.
Auch wenn man dem Autor nicht in all seinen Schlussfolgerungen zustimmen kann, so leistet seine Untersuchung doch einen bedeutsamen Beitrag zur Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen. Er entwirft ein erschütterndes Bild von der Ausweglosigkeit der Opfer und zeichnet ein schwer zu ertragendes Panorama von der Erbarmungslosigkeit der Täter, von denen am Ende so viele aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kamen. Nur ein Bruchteil von ihnen wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.
Barbara Distel