Michael Wettern / Daniel Weßelhöft: Opfer nationalsozialistischer Verfolgung an der Technischen Hochschule Braunschweig 1930 bis 1945 (= Veröffentlichungen der TU Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig; Bd. 5), Hildesheim: Olms 2010, 252 S., ISBN 978-3-487-14359-0, EUR 24,80
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Mit dem vorliegenden Band zur Geschichte der TU Braunschweig wird ein Trend der letzten Jahre in der Universitätsgeschichtsschreibung, die Bearbeitung der eigenen NS-Vergangenheit, bestätigt. Die Autoren greifen dabei ein Thema auf, das bereits über 15 Jahre zuvor behandelt [1] und nun auf Grund neu zugänglicher Quellen aufgearbeitet wurde. Den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung an der damaligen TH Braunschweig wird damit ein bleibender Raum zur Verfügung gestellt und ihr Andenken gewahrt. Das Buch besitzt erwartungsgemäß einen biografischen Ansatz und beinhaltet 51 Biogramme. Diese behandeln nicht lediglich eine Berufsgruppe (bspw. Professoren), sondern widmen sich den Hochschullehren, Assistenten, dem nicht-wissenschaftlichen Personal und den Arbeitern der TH. Studenten, wie es irrtümlich im Vorwort erwähnt wird (8), konnten auf Grund der verloren gegangenen Matrikel 1926-1944 nicht untersucht werden. Neben den Biografien, die den größten Teil einnehmen (81-219), bietet das Werk eine umfassende themenrelevante Einführung in die Universitätsgeschichte Braunschweigs (11-80), einen Epilog von Hans-Ulrich Ludewig (220-224) und einen informativen Anhang (225-241), der wichtige Beispiele nationalsozialistischer Gesetzestexte bietet, die auf die Vertreibung der betroffenen Personen angewandt wurden.
Die TH Braunschweig bot für die Untersuchung eine interessante Besonderheit, weil an ihr bereits ab 1930 Entlassungen durchgeführt wurden. Im genannten Jahr wurde die SPD, die von 1927 bis 1930 im Land die Alleinregierung besaß, von einem bürgerlich-rechtskonservativen Bündnis mit der NSDAP abgelöst. Die NSDAP stellte den Innenminister, der zugleich auch Volksbildungsminister war. Die neue Regierung bemühte sich schnell, die vorherigen Personalentscheidungen an der TH rückgängig zu machen. Hier war vor allem die von der SPD initiierte Gründung der Kulturwissenschaftlichen Abteilung den neuen Machthabern ein Dorn im Auge, weshalb dort zwangsläufig die meisten Entlassungen stattfanden. Die Initiative ging dabei hauptsächlich vom Ministerium aus, das im Juli 1931 durch Dietrich Klagges übernommen wurde, der besonders rücksichtslos und aggressiv an sein Werk ging. In der Hochschulleitung selbst spielte die NSDAP bis 1933 keine Rolle und an der TH waren bis 1932 lediglich vier NSDAP-Mitglieder im Lehrkörper vertreten, wobei hier das Pharmazeutische Institut besonders hervorstach.
Bei der Lektüre fällt immer wieder die dominante Rolle des Volksbildungsministers Klagges auf, der bspw. die Gründung der "Harzburger Front" im Land Braunschweig ermöglichte. Des Weiteren war Klagges verantwortlich für die Einbürgerung Hitlers. Anfangs setzte er sich für die Verleihung einer Professur (für organische Gesellschaftslehre und Politik) an der TH ein (33-35), was aber am Widerstand in der Koalition und an der TH scheiterte. Letztlich wurde Hitler zum Regierungsrat bei der Braunschweiger Gesandtschaft in Berlin ernannt und erhielt somit die Staatsbürgerschaft, was ihm eine Kandidatur zum Reichspräsidenten ermöglichen sollte. Klagges' führende Rolle in Braunschweig wurde ab dem 30.01.1933 noch verstärkt. Der Terror gegen SPD- und KPD-Anhänger wuchs rasant an und auch gegen Juden ging die Braunschweiger NSDAP aggressiv vor, was sie noch vor der Reichsregierung tat. Mit der "feierlich zelebrierten 'Unterwerfung' der TH" vor Klagges wurde ein "trauriger Höhepunkt" erreicht und kam einer "Kapitulation" (47) der Hochschule gleich. Die anschließende sogenannte Gleichschaltung der TH zeigt dem Leser typische NS-Verfahrensweisen der folgenden Jahre auf, die angewandt wurden, um Hochschulangehörige aus politischen und rassistischen Gründen zu entlassen (55-71). Interessant ist dabei auch die Darstellung der handelnden Rektoren Paul Horrmann (1933-1936) und Emil Herzig (1936-1943), in deren Zeitraum die meisten Entlassungen fielen. Ersterer wirkte dabei als "vorauseilend gehorsame[r] Untergebener des Volksbildungsministers" (51), während Herzigs Entlassungen "zum größten Teil auf persönliches Eingreifen seinerseits zurückzuführen" (51) waren.
Mit dem Abschnitt "Nach 1945 - Wiedergutmachung und Rehabilitation" (75-79) gehen die Autoren einen erfreulichen Weg, indem sie über die Zeit der NS-Herrschaft hinausblicken. Gleichzeitig beschreiben sie ein bekanntes Dilemma, welches typisch für die deutsche Hochschullandschaft nach Kriegsende war. Engagierte sich der wieder eingesetzte Rektor Gustav Gassner (1945-1947) noch für seine Leidensgenossen und mühte sich um die Rückkehr und Rehabilitation seiner vertriebenen Kollegen, so bestand schon kurz darauf nur wenig Interesse an diesem Thema. Spätere Rektoren reagierten nur noch nach Anfragen Betroffener. Die jeweiligen Stellen waren jedoch zumeist längst wieder besetzt oder viele der nach 1945 Entlassenen kehrten an die TH und damit auf ihre Posten zurück.
Bei der Auswahl der Biografien standen die Autoren vor dem bekannten Problem, wer denn eigentlich in die Übersicht aufgenommen werden soll. Nicht immer war eindeutig, wer politisches oder rassistisches Opfer war, da nicht alle Betroffenen auf Grundlage nationalsozialistischer Gesetzgebung entlassen wurden. Einige kündigten selbst, bei anderen wurden fachliche Gründe vorgeschoben. Die Autoren konnten jedoch auf eine gute Aktenlage hinsichtlich der Entlassungen zurückgreifen, weshalb sie davon ausgehen, dass es sich bei den betroffenen Personen "um eine vollzählige Auflistung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung an der TH Braunschweig handelt" (85). Für die meisten Leser mag der Großteil der aufgeführten Personen unbekannt sein, nichtsdestotrotz entdeckt man natürlich lesenswerte Biographien und Schicksale. So finden sich bspw. der bekannte Psychologe und Pädagoge Helmuth von Bracken (93-95), der Geograph Kurt Brüning (98-101), Gerhard von Frankenberg, an dem der nationalsozialistische Terror besonders deutlich wird (59-60; 114-117), der Reformpädagoge Adolf Jensen (138-140), der Philosoph und Psychologe August Riekel (174-178), der nach seiner Entlassung unter dem Pseudonym Harald Bratt Drehbücher für das Theater und die Ufa schrieb oder Gustav Schmidt (186-188), der bereits 1933 von SS-Leuten beim Rieseberg-Massenmord getötet wurde, im Buch wieder.
Mit der Geschichte der NS-Opfer an der TH Braunschweig ist den Autoren ein wichtiges und lesenswertes Buch gelungen, das einen interessanten Überblick über einen Teil deutscher Universitätsgeschichte vom Ende der Weimarer Republik bis in die frühe Nachkriegszeit bietet. Die Ankündigung über weitere Forschungen über die Täter und Mitläufer erfreut deshalb umso mehr, ist aber auch wichtig, um dem Eindruck zu entgehen, dass lediglich die Person Dietrich Klagges und die Rektoren Horrmann und Herzig für die Vertreibungen verantwortlich zu machen sind. Auf Grund der Qualität der besprochenen Publikation ist in dieser Hinsicht aber berechtigte Zuversicht angebracht.
Anmerkung:
[1] Walter Kertz (Hg.): Technische Universität Braunschweig. Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745-1995, Hildesheim 1995, hier vor allem 443-465.
Matthias Glasow