Beate Meyer: Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939-1945) (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XXXVIII), Göttingen: Wallstein 2011, 464 S., ISBN 978-3-8353-0933-3, EUR 39,90
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Der Zentralrat der Juden in Deutschland gibt auf seiner Website nur wenig Auskunft über seine umstrittene Vorläufer-Institution zur Zeit des Nationalsozialismus, die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RV): Erwähnt wird ihre Gründung als Reichsvertretung im Herbst 1933, die erzwungene Umbenennung 1939 samt direkter Kontrolle durch die Gestapo, schließlich die Auflösung im Juli 1943. Was hinter diesen knappen Daten steht, beschreibt die Historikerin Beate Meyer. Ihr geht es nicht nur um den Aufbau und die Aufgaben der RV, sondern auch um Motive, Vorgehensweisen und Leistungen ihrer Funktionäre (über Auflösung und Kriegsende hinaus) - ein Vorhaben, das in beeindruckender Weise gelungen ist. Ihr Buch bildet somit ein Pendant zu Avraham Barkais souveräner Gesamtdarstellung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. [1]
Die von Hannah Arendt und Raul Hilberg angestoßenen, erbittert geführten Debatten um jüdische Selbstbehauptung und Fügsamkeit unter nationalsozialistischer Herrschaft bilden den Hintergrund für Meyers Forschung. In zahlreichen Publikationen seit 1999 hat sie sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Juden in Deutschland befasst, der wachsenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen. Die vorliegende Monografie basiert auf diesen Vorarbeiten sowie den grundlegenden Beiträgen zur RV von Otto Dov Kulka [2] und Esriel Hildesheimer [3]; sie ist die erste Auseinandersetzung einer nichtjüdischen Autorin mit dieser Organisation.
Meyer beginnt ihre Darstellung mit der Pogromnacht und schließt eine Rückblende auf die Verbandsgeschichte seit 1932 an, um dann zunächst die Jahre bis 1941 darzustellen, in denen die Emigrationshilfe den Schwerpunkt der Arbeit der RV bildete. Mit dem Auswanderungsverbot vom 23. Oktober 1941 begann dann die konkrete Mithilfe bei den Deportationen (Teile I und II). Deutlich wird, welch entwürdigende Dienste den Funktionären abverlangt wurden, nachdem die Organisation von einem Sprachrohr jüdischer Interessen zu einem bloßen Befehlsempfänger degradiert worden war (vgl. 118): Judensterne waren auszuteilen, Deportationslisten zusammenzustellen, Sammellager einzurichten oder zu deportierende Menschen abzuholen - nach Ansicht eines RV-Angestellten "das Schlimmste" (159). Meyer hebt darüber hinaus die vielfältige Unterstützung hervor, die etwa Alten, Kranken und Kindern, deren Eltern zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, in Form von Beratung und Betreuung zuteil wurde, kommt jedoch zu dem Schluss, dass die RV primär gezwungen war, "willfährige, organisatorisch einigermaßen beschlagene" Helfer zu stellen, um "das jeweilige Gebiet schnell und reibungslos 'judenfrei' zu machen" (336).
Im dritten Abschnitt werden die Handlungsspielräume der Verantwortlichen in den Bezirksstellen nachgezeichnet, die zum Teil von denen der Zentrale abwichen. Wiederholt störten sich die Funktionäre in der Provinz an den vorgegebenen Regeln sowie der Kontrolle durch die Berliner Hauptstelle. Meyers Rechercheleistung zur jeweiligen Lage vor Ort ist immens und reicht vom Rheinland bis Niederschlesien. Sie arbeitet regionale Unterschiede am Beispiel von fünf Standorten heraus und entwickelt eine Typologie, die über mehr (Hamburg, Mainz, Nürnberg) oder weniger (Frankfurt, München) große Spielräume für die jüdischen Funktionäre informiert - Spielräume, die freilich weniger das Verhindern des Unumgänglichen als das Abmildern der Umstände betrafen.
Entsprechend Meyers Absicht, das vollständige Wirken und Schicksal einzelner Funktionäre zu dokumentieren, endet ihre Darstellung nicht 1943 wie diejenigen von Kulka/Hildesheimer. Vielmehr zeigt die Autorin auf, wie jene als Inhaftierte in Theresienstadt oder als so genannte Vertrauensmänner der verbliebenen Rest-RV damit fortfuhren, ihren sozialen Aufgaben nachzukommen (Teil II/220ff.; Teil IV). Es entstehen bemerkenswerte Portraits, die eine der großen Stärken des Buches ausmachen. Nicht nur die herausragenden Persönlichkeiten wie der umstrittene, da in verschiedener Hinsicht privilegierte Paul Eppstein (ein "Büttel Eichmanns", 192) oder Leo Baeck, der mit Beginn der Deportationen eine weniger wichtige Rolle als zuvor spielte, werden differenziert dargestellt. Der Leser erfährt ferner von schillernden Figuren wie Hans Salomon Feldheim, Walter Lustig, Michel Oppenheim, Max Plaut oder der bis zu ihrem Tod 1977 angefeindeten Martha Mosse: sie allesamt waren umtriebige, nicht selten eitle, aber fraglos mutige Streiter für ihre Sache, wenngleich diese in der Regel eine verlorene war.
In einem abschließenden Ausblick auf die Zeit nach 1945 macht die Autorin deutlich, wie negativ sich für die wenigen Überlebenden unter den jüdischen Amtsinhabern das Spannungsfeld zwischen Reichssicherheitshauptamt und Gestapo einerseits und Mitgliedern andererseits im Nachhinein auf das Privat- und Berufsleben auswirkte. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR gab es Verleumdungen und Verfahren gegen die ehemaligen Funktionäre wegen ihrer Kooperation mit den Instanzen des 'Dritten Reichs', die RV war im Herbst 1945 bezeichnenderweise offiziell als NS-Organisation aufgelöst worden. Dass deren Kooperation mit den nationalsozialistischen Behörden stets eine erzwungene war, wurde dabei meistens außer Acht gelassen.
Meyer verzichtet auf vorschnelle Schlüsse und Pauschalurteile, etliche Unterkapitel sind als Fragestellung formuliert, eindeutige Antworten bleiben bisweilen aus. Zu unabsehbar waren etwa die Konsequenzen einer Emigration in die Fremde, zu uneinheitlich die Umstände, unter denen das tragische Tun der RV und ihrer Funktionäre vonstatten ging. Gemein war dem Gros der Funktionäre allerdings die letztendliche Chancenlosigkeit, die perfide geplante und rücksichtslos umgesetzte Entrechtungs-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zu verhindern. Die Verfasserin spricht von "hilflosen Gesten" (90), Spielräumen, die "gegen Null tendierten" (118), "Ohnmacht" (121), "minimalen und bald ganz verschwundenen Einwirkungsmöglichkeiten" (205) sowie einer "Schutzfunktion", die sich spätestens 1942 "ins Gegenteil" (427) verkehrt habe. Sie konstatiert das Ausbleiben einer bedingungslosen Parole im Sinne des "Rette sich wer kann" (210), stattdessen sei stets versucht worden, mittels legalen Vorgehens und korrekter Verwaltungsarbeit die aus eigener Sicht wichtige Beziehung zum RSHA nicht zu gefährden - obwohl es sich dabei oft um "Papierverbrauch für ein Nichts" (224) gehandelt habe. Trotzdem liegt Meyer daran, die Repräsentanten der RV nicht als Objekte zu sehen (13), sondern Ambitionen, Strategien und Erreichtes eines Jeden innerhalb seines individuellen Bedingungsgefüges aufzuzeigen, selbst wenn dieses nicht mehr erlaubte, als "Elend und Chaos mit geringen Mitteln zu organisieren und zu gestalten" (220).
Angesichts des unermesslichen Leids der Vertreibung und Ermordung des Großteils der jüdischen Bevölkerung Deutschlands zwischen 1933 und 1945 verbietet es sich, das Wirken der RV in irgendeiner Form zu verklären. Zugleich sollte die Institution nicht plump als Unterabteilung der Gestapo und ihre Mitarbeiter als Kollaborateure verurteilt werden. Beate Meyer versteht es, die Abläufe und Entscheidungen innerhalb der Organisation nahezu lückenlos aufzuarbeiten. Darüber hinaus schildert sie schonungslos, aber mit angemessener Empathie die diversen, oft beschränkten Blickwinkel und Möglichkeiten einzelner Verantwortlicher in ihrer jeweiligen Situation, nicht selten einer "Situation [...] zwischen guten Absichten, äußerem Druck, genereller Aussichtslosigkeit und dennoch gehegten Hoffnungen" (113).
Anmerkungen:
[1] Avraham Barkai: Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893-1938, München 2002.
[2] Otto D. Kulka: The Reichsvereinigung and the Fate of the German Jews, 1938/1939-1943. Continuity or Discontinuity in German-Jewish History in the Third Reich, in: Arnold Paucker (Hg.): Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland, Tübingen 1986, 353-363; ders.: Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus, Bd. 1: Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933-1939, Tübingen 1997.
[3] Esriel Hildesheimer: Jüdische Selbstverwaltung unter dem NS-Regime, Tübingen 1994.
Benedikt Faber