George Prochnik: Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt, München: C.H.Beck 2016, 397 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69756-2, EUR 29,95
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"Eine Geschichte, die unter den Exilanten kursierte, berichtete von einem jüdisch aussehenden Herrn, der, kurz bevor die Hölle losbrach, in einem Bremer Reisebüro gesichtet wurde. Er stand vor einem großen Globus, offenbar noch unentschlossen, wohin er auswandern sollte. Er bewegte seinen Finger immer wieder über den Globus, hielt für einen Augenblick bei Australien inne, verweilte ein wenig länger bei Südafrika, wanderte zurück nach Shanghai und dann noch einmal um den ganzen Erdball. Schließlich stieß er den Globus voller Kummer von sich und fragte den Angestellten: 'Sagen Sie, haben Sie nichts anderes?'" (209) Diese Passage aus dem Kapitel Globales Roulette ist in zweierlei Hinsicht repräsentativ für George Prochniks umfassende Studie über den Schriftsteller Stefan Zweig: In sprachlicher Hinsicht illustriert sie Prochniks essayistischen, bisweilen anekdotischen Stil. Inhaltlich gibt die Episode den Blick auf die Abgründe frei, die sich hinter den Begrifflichkeiten von Heimatverlust und Exil infolge des Nationalsozialismus auftun - das titelgebende, fraglos zentrale Thema der vorliegenden Darstellung.
Stefan Zweig, nahezu weltweit gelesen und vielerorts geschätzt als Mensch und Künstler, lässt sich ohne Weiteres den herausragenden deutschsprachigen Autoren zuordnen. Der US-Amerikaner Prochnik macht aus seiner Hochachtung für diesen Mann, dessen Suizid sich 2017 zum 75. Male jährte, von Beginn an keinen Hehl. Sie bildet den Ausgangspunkt seiner Forschungsarbeit, da er in Zweigs Persönlichkeit "wie in einem Brennglas bedeutsame Zeiten [sich] bündeln" (13) sieht. Sie wird deutlich, wenn er in diversen, geradezu schwärmerischen Bildbeschreibungen Zweigs "Lebendigkeit, sein gewinnendes Lächeln, seine lockere Anmut" als "faszinierend" (43) bezeichnet. [1] Sie ist spürbar, da er seine eigene Familiengeschichte an Zweigs Schicksal anlehnt und somit sehr Persönliches preiszugeben bereit ist. [2] Bisweilen ist sie offenkundig angesichts regelrechter Überhöhung des Schriftstellers: Sein Stellenwert für andere Exilierte sei enorm gewesen, er habe, als gebürtiger Wiener selbstredend im Café sitzend, die Hilfsbedürftigen empfangen und um sich geschart: "Nachdem sie aus Dachau oder Buchenwald entkommen waren, wussten sie, wo sie Zweig finden konnten." (176)
Neben London, auf das sich der vorangehende Beleg bezieht, waren die USA und Brasilien die wesentlichen Stationen der bewegten letzten Lebensjahre Zweigs, die Prochnik ins Zentrum seiner Untersuchung stellt. Er möchte, exemplarisch an dieser Figur und ihrem Werk, die europäische Vorkriegskultur erfassen, will die Auswirkungen des breiten Exodus von Intellektuellen in die Neue Welt verstehen und sich einer Antwort auf "die immerwährende Frage nach der Verantwortung des Künstlers in Zeiten der Krise" (14) nähern, womit er den Bezug zur Gegenwart herstellt, auf den am Ende dieser Besprechung genauer eingegangen wird.
Der aktuelle Forschungsstand, quellenkritische Erwägungen oder wissenschaftliche Methodik bereiten dem Autor augenscheinlich kein größeres Kopfzerbrechen, Äußerungen dazu sucht man ebenso vergeblich wie Literaturhinweise und Anmerkungen innerhalb der Darstellung. Dass Prochnik gleichwohl ein versierter Kenner seiner Materie ist, der sich an wissenschaftlichen Standards orientiert, zeigt sich auf zweierlei Weise: Die von ihm herangezogene Literatur wird am Ende des Buches in ihrer Auswahl kapitelweise eingehend vorgestellt und kommentiert - eine ansprechende Vorgehensweise. Zum anderen werden Prochniks Ausführungen durch eine bemerkenswerte, jederzeit erhellende Vielzahl von Stimmen aus Zweigs näherem wie ferneren Umfeld fundiert, von zahlreichen Selbstzeugnissen des Autors ganz zu schweigen - eine Collage, die absolut überzeugend ausfällt und dem Leser vor Augen führt, welche Geistesgrößen seiner Zeit sich mit dem Schriftsteller auseinandersetzten bzw. mit ihm korrespondierten. Hannah Arendt und Theodor Herzl, Sigmund Freud und Karl Kraus, Thomas und Klaus Mann sowie Carl Zuckmayer, um nur einige zu nennen.
Ebenfalls erzählerisch gekonnt, vermeidet Prochnik einen chronologischen Zugang vom Kindsbett bis zum Lebensende, seine Akzentuierung ist eindeutig und klar umrissen: es geht ihm darum, die Jahre im Schatten totalitärer Herrschaft zu beleuchten, um der den Menschen Stefan Zweig mehr und mehr "verzehrenden Düsternis" (47) auf die Spur zu kommen. Rückblicke in frühere Lebensphasen werden an erforderlicher Stelle in den Erzählfluss eingebaut, ohne Anspruch auf biografische Vollständigkeit und durchaus mit Wiederaufnahmen bereits thematisierter Stationen auf Zweigs Irrfahrt zwischen den Ländern. [3]
In den zwölf ähnlich langen Kapiteln, die von einer Einleitung und einem Epilog gerahmt werden, wird von Beginn an deutlich, mit welcher Sorge das Erstarken der NSDAP von Zweig registriert und bewertet wurde. Ungeachtet aller Klarsicht blieben seine Gegenentwürfe für ein an Bildung und Kultur orientiertes neues Europa Theorie, beispielhaft schildert Prochnik das gescheiterte Projekt einer länderübergreifenden jüdischen Literaturzeitschrift; auch die lange Zeit ausbleibende öffentliche Kritik Zweigs an Hitlers Regime, die viele Zeitgenossen irritierte, findet Erwähnung, ohne dass der Autor vorschnell in den Chor dieser Enttäuschten einfällt. [4] Der Umzug in das als "Land der Zukunft" (so der Titel einer Publikation Zweigs aus dieser Zeit) verklärte Brasilien bedeutet die letzte Etappe im Leben dieses so überzeugten Europäers, der Prochnik viel Raum gewährt. Auch wenn der Vorwurf, die Zweig-Forschung der jüngeren Zeit bediene boulevardistische Interessen, Prochnik zu Unrecht trifft, fällt die dramaturgische Zuspitzung auf den gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte begangenen Selbstmord auf. [5] Hier werden Fragen und Details gedreht und gewendet, die nicht jeden Leser interessieren dürften, das gilt ebenfalls für das Foto des Paares auf dem Sterbebett. (352ff.)
Dieser Stil des Journalisten Prochnik ist diskussionswürdig: der eine mag es schätzen, wenn salopp von "Lotte und Stefan" (28) die Rede ist, Zweig metaphorisch als "Schwimmer" porträtiert wird, "der geschmeidig durch das Meer der Bedürfnisse von anderen gleitet" (81), oder Assoziationen geweckt werden, wie der gescheiterte Künstler Hitler "die Treppen der Akademie zum letzten Mal hinabgestiegen war, voller Zorn und Verbitterung, erbarmungslos entschlossen, sich für diese Demütigung zu rächen." (369). Der andere bevorzugte vielleicht etwas mehr (erkennbare) Distanz zum Forschungsgegenstand.
Alles in allem ist es jedoch das Verdienst von Prochnik, dass der Leser Stefan Zweig sehr nahe kommt, den brillanten Schriftsteller ebenso kennen lernt wie den eigenwilligen Ehemann und hadernden Bürger, der die Brüchigkeit sicher geglaubter kultureller Werte in seiner verlorenen Heimat realisiert und dem es ungeachtet aller Weltgewandtheit und finanziellen Sicherheit immens schwer fällt, im Ausland Fuß zu fassen. Der Autor, selbst für einige Jahre nach Israel ausgewandert, lässt uns tief in die Gemütslage eines prominenten Exilanten blicken, der sich, gleichsam wie die deutsche Kultur, als nicht mehr zu rettendes "Wrack" (153) begreift.
In etlichen Abschnitten der Studie klingen frappierende Parallelen zur aktuellen politisch-gesellschaftlichen Situation an, ohne explizit angesprochen zu werden: Der Zweig verstörende Mangel an Intellekt auf Seiten politischer Führungsriegen. Verzerrte amerikanische Wahrnehmungen vom Ausmaß der Flüchtlingszahlen und daraus resultierende irrationale Ängste vor wirtschaftlichen Auswirkungen und Fremdbestimmung. [6] Schließlich ein (auch Zweig beschleichendes) Gefühl, dass die in Deutschland vorherrschende "Gleichgültigkeit der Massen gegenüber geistigen und kulturellen Errungenschaften möglicherweise ein dauerhafter Zustand" (69) sein könnte - dass also seine Wertmaßstäbe von vielen gar nicht mehr geteilt würden. Demnach überrascht kaum die nahezu fortwährend von Prochnik vermittelte Sehnsucht Zweigs nach der Vergangenheit, seine das gesamte Exilleben begleitende "Unruhe", von der auch Camille de Toledo in seiner Gegenwartslyrik spricht, in der er sich bezeichnenderweise auf ihn beruft:
"Es gibt schöne Stellen in der Welt von gestern | von Stefan Zweig, wo man das Ende | dieses goldenen Zeitalters spürt. | Wo Zweig von den ersten Gewißheiten erzählt. | Bürgerlicher Triumph einer | beruhigten Sicht des Lebens, befreit von Angst. | Befreit von Schicksal und Tragödie. | Seit diesen glücklichen Stunden scheint alles, | von der Wissenschaft bis hin zur Geschichte, | zusammengespielt zu haben, | um die Unruhe über das In-der-Welt-Sein zu steigern. | Alles scheint sich verschworen zu haben, | um das Maß zu stören." [7]
Anmerkungen:
[1] Das entsprechende Foto befindet sich auf der Seite zuvor. Weitere Bildbeschreibungen bieten etwa die Seiten 91-96, darunter auch eine des legendären Schnappschusses von Zweig und dem damals bereits todkranken Joseph Roth in Ostende 1936 (94). Über bloße Beschreibung hinaus deutet Prochnik bisweilen recht forsch, so wenn er von Zweigs Aussehen bei einem Empfang des brasilianischen Präsidenten die Fähigkeit ableitet, "sich quasi nahtlos in diese verschiedenen Szenen einzufügen", was "unvermeidlich an die Klischees vom jüdischen Drang nach Assimilation denken" (93) lasse.
[2] Prochniks Vater floh mit seinen Eltern 1938 aus dem soeben von Hitler besetzten Wien. Der Verfasser verweist, beginnend auf Seite 23ff., wiederholt auf bestimmte Begebenheiten und Empfindungen im Leben seiner Vorfahren.
[3] Knappe Exkurse gibt es beispielsweise in Zweigs Studienzeit um 1902 (97ff.), in das Jahr 1911, als er erstmals nach New York reiste (61ff.), oder in das Jahr 1919 zum Zeitpunkt seines Bezugs des Salzburger Hauses gemeinsam mit seiner ersten Frau Friderike (249ff.). Auf das Verhältnis zur Mutter rekurriert Prochnik im Kapitel Wandernder Mutterleib (125ff.), in Erinnerung bleibt der Abschnitt allerdings vorwiegend aufgrund der hervorragenden Charakterskizze Theodor Herzls (138ff.).
[4] Sachlicher Kritik (65) stehen Verweise auf durchaus existente Beiträge gegen NS-Deutschland entgegen, etwa anlässlich Zweigs viel beachteter Bankett-Rede zur Gründung des European P.E.N. in America im Mai 1941 in New York (150ff.).
[5] Lottmann spricht in der Welt von "Schmierentheater" angesichts der angeblichen Ausschlachtung offener Fragen zum Suizid des Paares. (Joachim Lottmann: Der wahre Grund für den Selbstmord von Stefan Zweig, in: www.welt.de/kultur/literarischewelt/article162270682/Der-wahre-Grund-fuer-den-Selbstmord-von-Stefan-Zweig.html, 22.02.2017, Seitenaufruf am 25.8.2017.)
[6] In die USA immigrierten während der NS-Jahre deutlich unter einer halben Million Menschen, obwohl die Kontingente der Einwanderungsbehörde über zwei Millionen Flüchtlinge erlaubt hätten, vgl. 212.
[7] Camille de Toledo: Die Unruhe über das In-der-Welt-Sein, in: Lettre International. Europas Kulturzeitung, Heft 107 (Winter 2014), 61-71, hier: 64.
Benedikt Faber