Irene Heidelberger-Leonard: Imre Kertész. Leben und Werk, Göttingen: Wallstein 2015, 192 S., ISBN 978-3-8353-1642-3, EUR 19,90
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Die Riege der literarischen Vorbilder von Imre Kertész ist beachtlich in ihrer Prominenz: Celan und Camus, Améry und Borowski, Kafka und Mann; auch Adorno gehört dazu. Sein Diktum, nach der Shoah verbiete sich jede Form von Lyrik, wird von Kertész aufgegriffen, jedoch insofern modifiziert, dass man "nach Auschwitz nur noch über Auschwitz Gedichte schreiben kann" [1].
Eine solche Pointierung scheint in ihrer Verabsolutierung typisch für diesen Menschen, den Irene Heidelberger-Leonard in der vorliegenden Werkbiografie portraitiert. Das Schaffen des Literaturnobelpreisträgers von 2002 ist untrennbar mit seinem Erleben des NS-Terrors verbunden, es scheint, als kreisten seine Texte ausschließlich um das Ausgeliefertsein totalitärer Herrschaft. Und doch lautet eine der Kernthesen der Untersuchung, dass eine Reduktion von Kertész auf die Perspektive des jüdischen Verfolgten ihm nicht gerecht werde. Er selbst verweise immer wieder auf die fließenden Grenzen zwischen Täter- und Opferschaft, exemplarisch sei hier der Essay Ich, der Henker von 2007 genannt. Zudem sei Kertész' schriftstellerische Begabung zu außergewöhnlich, um ihn als bloßen Chronisten des Unrechts einzustufen. Es sei an der Zeit, neben den inhaltlichen Motiven die literarische Qualität ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. (Vgl. 154)
Ihre Beweiskette lehnt Heidelberger-Leonard eng und in chronologischer Abfolge an die Publikationen von Kertész. Im Eingangskapitel, das den größten Umfang besitzt, skizziert sie die Stationen seiner Vita. Die Biografin lässt auch die guten Phasen nicht außer Acht, die Zeit um den Aufstand von 1956, seine Aufenthalte in Berlin nach der Wende. Und dennoch: Der Geburtstag im Jahr der Weltwirtschaftskrise, die miserable Ehe seiner Eltern, das frühe Erleben von Antisemitismus, dann mit 14 Auschwitz und Buchenwald bis zur Befreiung durch die Amerikaner im April 1945 - all das deutet einerseits auf sein schon in jungen Jahren erlittenes "Gebrochenwerden", sein "nie überlebtes Überleben" [2] hin. Andererseits scheint es seine Flucht zum Schreiben zu begründen, worauf später zurückzukommen sein wird.
An diesen Prolog schließt Heidelberger-Leonard sechs jeweils zwanzigseitige Kapitel an, in denen ihre Vertrautheit mit dem Werk von Kertész deutlich wird. Dass hierbei einzelne Redundanzen auftreten (vgl. 10/90 oder 31/54), liegt an den Bezugnahmen auf das biografisch angelegte Eingangskapitel. So schmal die Studie insgesamt auch sein mag, die Auseinandersetzung mit Essays und Romanen zeugt von deren eingehender Durchdringung und ist inhaltlich jederzeit plausibel. Allen Texten des Autors, jeweils zwei bis drei pro Kapitel, wird sie gerecht, der herausragende Charakter von Roman eines Schicksallosen (Kapitel 2) sowie Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (Kapitel 4) ist dabei unübersehbar: Der erste Roman macht seinen Weltruhm aus, den zweiten würdigt die Verfasserin unter Anspielung auf den von Kertész so geschätzten Celan als "eine Todesfuge in Prosa" (82) (eine Formulierung, die ohne den üblichen Verweis aus der NZZ übernommen wurde).
Kapitel 6 trägt das bezeichnende Zitat "Meine einzige Identität ist die des Schreibens" (aus Ich - ein anderer) als Titel. Diese, wie oben ausgeführt früh für sich entdeckte, Tätigkeit ist ihm im Wortsinn existenziell geworden, sein ganzes Leben ist letztlich "Gegenstand ununterbrochenen Schreibens" (121). Was ihn antreibt, ist komplexer Natur und geht weit darüber hinaus, auf eine Aufarbeitung des Leids, eine befreiende Wirkung des Schreibens zu hoffen. Jan Philipp Reemtsma erklärt an anderer Stelle die Aufzeichnungen während und nach seiner Entführung 1996 ausdrücklich nicht damit, seine Identität zu finden, "sondern sich das Gefühl, ein Ich zu sein" zumindest für den Moment wiederzubeschaffen. [3] Auch Kertész erzielt keine therapeutische Wirkung, wie Heidelberger-Leonard nüchtern anhand des Romans Fiasko konstatiert. Das Trauma kann durch seine Verbalisierung nicht überwunden werden, signifikant spricht sie in Anlehnung an Philipp Schönthalers gleichnamige Monografie von der "negative[n] Poetik" (76) des Ungarn. Oder mit den Worten seines Erzählers im Galeerentagebuch: "Jedes Buch ist ein aufgeschobener Selbstmord." [4]
Der Schlussteil (Kapitel 7) widmet sich dem Roman Letzte Einkehr und somit den Tagebüchern der Jahre 2001 bis 2009 als dessen Materialgrundlage. Dem chronologischen Aufbau folgend, behandelt die Autorin den letzten Lebensabschnitt Kertész' samt der damit einhergehenden Verbitterung ob der eigenen Krankheit sowie der gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem wachsenden Antisemitismus oder den nationalistischen Tendenzen in seiner Heimat, in die er 2012 zurückgekehrt ist.
Heidelberger-Leonard führt den Leser mit souveräner Übersicht durch das komplexe Werk dieses so renommierten Autors und offenbar Getriebenen, dessen sehnlichster Wunsch stets darin zu bestehen schien, zum "Subjekt [zu] werden; selber [zu] benennen, statt benannt zu werden." [5] Über seine schmerzhaften Erfahrungen als Opfer nationalsozialistischer und kommunistischer Politik hinaus kennt sie den Menschen Kertész und seine Darstellungen genau genug, um auch dessen Tätigkeiten als Aufseher im Militärgefängnis anzudeuten. Die in seinen Autofiktionen auftretenden, nicht unumstrittenen Reflexionen über Opfer, deren Schuld in ihrer Existenz bestehe, welche erst die Täter bedingen würde (vgl. 72f.; 149), werden dadurch verständlicher.
Grundsätzlich leistet die Verfasserin philologische Fleißarbeit, ca. 700 Fußnoten sprechen eine eindeutige Sprache. Dass den eindeutig größten Teil dieser Anmerkungen Verweise auf Schriften von Kertész selbst ausmachen, ergibt sich gewiss aus der Textsorte Werkbiografie; zugleich wünschte man sich darüber hinaus bisweilen einen Blick aus größerer Distanz auf das Werk dieses großen Autors.
Anmerkungen:
[1] Imre Kertész: "Lange dunkle Schatten", in: ders.: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Mit einem Vorwort von Péter Nádas, Frankfurt 2004, 54.
[2] Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Berlin 2001, 145.
[3] Jan Philipp Reemtsma: Im Keller. 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2002, 204.
[4] Imre Kertész: Galeerentagebuch. 2. Auflage, Berlin 2002, 300.
[5] Imre Kertész: Fiasko. 2. Auflage, Berlin 2002, 113f.
Benedikt Faber