Barbara Epstein: The Minsk Ghetto 1941-1943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism, Oakland: University of California Press 2008, xiv + 351 S., ISBN 978-0-520-24242-5, GBP 28,95
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Das Buch beruht auf einem Oral-History-Projekt mit 46 Überlebenden des Ghettos Minsk, von denen 35 in Weißrussland und elf in Israel interviewt wurden. In einem persönlich gehaltenen Vorwort schildert Epstein, wie sie über einen Jiddisch-Kurs in Wilna zu Bekanntschaften in Minsk kam, die schließlich in die vorliegende Untersuchung mündeten. Für Historiker, die sonst nur in Archiven und Bibliotheken arbeiten, bildet der Bericht über diese Erlebnisse und die Schwierigkeiten von Befragungen in Europas letzter Diktatur eine spannende Lektüre. Während Epstein freimütig über die praktischen Probleme der Oral History erzählt, fehlt andererseits aber eine methodisch-theoretische Reflexion dieses Ansatzes.
Darin liegt die größte Schwäche des Buches, das immer dann gelungen ist, wenn es alltägliche Lebensbedingungen, Wahrnehmungen und Eindrücke sowie die Tätigkeit des Untergrunds im Minsker Ghetto untersucht; Epsteins erzählerisches Talent kommt dabei ebenso zum Tragen wie die Stärken des lebensgeschichtlichen Ansatzes. Zahllose, bisher unbekannte Details und Biographien können hier entdeckt werden. Fragwürdig ist allerdings, wenn aus den Interviews Zahlen und Daten nahezu ungefiltert übernommen und allerlei Wertungen als gesicherte Erkenntnisse wiedergegeben werden. Der Abgleich mit anderen Quellen, vor allem aber mit der mittlerweile umfassenden Literatur zur deutschen Besatzung, aber auch zum sowjetischen Widerstand und zum Antisemitismus des stalinistischen Russlands, hätte eine Kontextualisierung ermöglicht und manche Fehlinterpretation vermieden.
Angesichts dieser Vorgehensweise überrascht es kaum, dass nicht wenige sachliche Fehler zu bemängeln sind. So gehörte etwa Białystok 1943 mitnichten zum Generalkommissariat Weißrussland (XVII), sondern war Sitz des "Bezirks Bialystok". Der "Reichskommissar Ostland" hieß Hinrich Lohse, seinen Vornamen mit einem "G." (7) abzukürzen, bedeutet wohl, dass ihm die Autorin nur in russischer Literatur begegnet ist. Negativ fallen zudem zahlreiche Wiederholungen auf, in denen bereits Bekanntes in mehreren Kapiteln nochmals erwähnt wird. Das ansonsten gründliche Lektorat hätte hier mehr Sorgfalt walten lassen sollen.
Der Leser, der das Buch zur Hand nimmt, erhält mitnichten eine umfassende Darstellung des Ghettos und des Schicksals seiner Insassen. Vielmehr geht es Epstein alleine um den dortigen kommunistischen Untergrund und dessen Verbindungen zu Nichtjuden und sowjetischen Widerstandskämpfern. Diesen Themen nähert sich die Studie in Kapiteln über die Solidarität im besetzten Weißrussland oder die Flucht zu den Partisanen. Zugleich versucht Epstein zu erklären, warum und worin Minsk sich von anderen Ghettos in Osteuropa unterschied. Ausgehend von der Tatsache, dass der Minsker Ghettountergrund kommunistisch und nicht zionistisch geprägt war, vertritt Epstein die These, dass dank der Solidarität der weißrussischen Bevölkerung kein Aufstand im Ghetto notwendig wurde, weil zahlreiche Juden vor den Nazis fliehen konnten.
Diese Schlussfolgerung kann allerdings nicht überzeugen, zumal das Buch selbst die bezeichnendste Widerlegung liefert: Von rund 100.000 Ghettoinsassen überlebten in Minsk etwa 10.000, was einer Quote von 10 Prozent entspricht; im "Gegenbeispiel" Warschau, das ebenfalls genannt wird, entkamen 75.000 von 450.000 Juden, was über 15 Prozent Überlebende bedeutet (13, 292). Selbst wenn nur 28.000 Flüchtlinge auch von "arischen" Warschauern versteckt wurden, kann man deshalb nicht darauf schließen, dass der Minsker Widerstand besonders effektiv Leben rettete.
Die Besatzung in Warschau dauerte zudem wesentlich länger als in Minsk, weshalb sich dort aus dem Ghetto geflohene Juden auch nur kürzer verstecken mussten. Die häufig betonte Solidarität der Weißrussen mit den Juden, die auf einer gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit beruhen soll, erweist sich in weiten Teilen als Chimäre. Nicht nur kann die Forschung zahllose antisemitische Vorbehalte der Partisanen benennen, deren Unterstützung für die Juden sehr treffend als zu wenig und zu spät beschrieben werden kann. [1] Epstein selbst spricht davon, dass in Minsk viele Einheimische die Deutschen begrüßten und als Polizisten in deren Dienste treten wollten - und dann gegen ihre Landsleute vorgingen.
Angesichts dieser Befunde hätte sich die Autorin fragen müssen, ob eine Studie mit Überlebenden, die nach dem Krieg in Belarus geblieben und zudem bereit waren, über ihre jüdische Vergangenheit zu sprechen, nicht auf eine pro-sowjetische Perspektive herauslaufen musste. Denn es ist wohl davon auszugehen, dass diejenigen Juden, die den Antisemitismus der "Nachbarn" erlebt hatten, eher gewillt waren auszuwandern. Die Befragung von elf Überlebenden in Israel bietet in dieser Hinsicht nur ein schwaches Korrektiv.
Epstein ist dem Mythos der erfolgreichen, nicht national und antisemitisch denkenden sowjetischen Partisanen aufgesessen, der in der westlichen Historiographie schon seit vielen Jahren nicht mehr existiert. Das hätte sie sogar einigen Werken entnehmen müssen, die sie in ihrem Literaturverzeichnis aufführt - selbst wenn dessen Umfang von nur vier Seiten angesichts des avancierten Forschungsstands geradezu antiquiert wirkt. Minsk ist kein Sonderfall, sondern wie über 1.100 andere Ghettos auch, ein Einzelfall - allerdings ein bemerkenswerter. Angesichts des zweifellos beeindruckenden Interviewmaterials wurde hier eine Chance vertan, ohne die Überdehnung der Quellen und überspitzte Thesen den Ghetto- und Widerstandsalltag realitätsgerecht darzustellen.
Anmerkung:
[1] Kenneth D. Slepyan: The Soviet Partisan Movement and the Holocaust, in: Holocaust and Genocide Studies 14 (2000), 1-27, hier 27. Der Titel findet sich auch im Literaturverzeichnis des Buches.
Stephan Lehnstaedt