Stefan Wolle: Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR (1949-1961), Berlin: Ch. Links Verlag 2013, 438 S., ISBN 978-3-86153-738-0, EUR 29,90
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Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
"Vom Wiegenfest zur Totenfeier" überschreibt Stefan Wolle den Prolog zum dritten und letzten Teil seiner Trilogie über die Alltags- und Herrschaftsgeschichte der DDR, der die Zeit von der Gründung der DDR bis zum Mauerbau umfasst. Bei den pompösen Feierlichkeiten zum 40. Gründungsjubiläum der DDR ließ Staats- und Parteichef Erich Honecker den Fackelzug der FDJ vom 11. Oktober 1949 nachstellen. "Die Melodie des Totengesangs glich dem Wiegenlied in frappierender Weise" (36), konstatiert Wolle, der häufig der Versuchung nicht entgeht, die DDR von ihrem Ende her zu deuten.
An der Wiege des neugeborenen ostdeutschen Staates stand nach Wolle zwar auch eine gute Fee, die der jungen Republik eine goldene Zukunft verhieß, in der Frieden, Fortschritt und Gerechtigkeit herrschen sollte; die Flüche der bösen Fee waren aber übermächtig. Die fünf Verwünschungen, die der DDR auf ihrem Lebensweg mitgegeben wurden, "die Fremdbestimmung durch die sowjetische Großmachtpolitik, die nur notdürftig kaschierte Diktatur einer Partei, das Primat der Ideologie, das ungelöste Dilemma, zwar ein Staat, aber weder Volk noch Nation zu sein, die Kommandowirtschaft [...] bestimmten das Leben, die Herrschaft und den Alltag der fünfziger Jahre in der DDR" (46).
Der Autor teilt die Auffassung des langjährigen Botschafters der UdSSR in DDR, Pjotr Abrassimow, der ostdeutsche Staat sei ein "Homunculus sovieticus" gewesen. Er nennt ihn eine "Missgeburt aus asiatischer Despotie und preußischem Militarismus", der der "ständigen Fürsorge" der Sowjetunion bedurfte (40). Die SED als "Partei neuen Typs" dirigierte die "Mitgliedermassen nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam" (79). Sie diktierte das Primat der marxistisch-leninistischen Ideologie, um die Existenz eines zweiten deutschen Staates zu rechtfertigen: "Allein aus der Interpretation der Geschichte und der kommunistischen Heilserwartung ergab sich für die DDR eine innere Legitimation." (85) Die ideologischen Parolen der Herrschenden, die Wolle ausführlich und genüsslich zitiert, widersprachen freilich eklatant den Alltagserfahrungen der Menschen in der DDR.
Dass die beiden deutschen Staaten "wie siamesische Zwillinge miteinander verwachsen" waren (41), erklärt Wolle zum nationalen Trauma der SED-Führung, die "wider die eigene Überzeugung [...] die nationale Trommel gerührt" habe, da sie das "erste Opfer auf dem Altar der Wiedervereinigung gewesen" wäre (108). Seine Antwort auf die Kontroverse, ob Stalin mit der nach ihm benannten Note vom 10. März 1952 die Preisgabe der DDR im Gegenzug für ein wiedervereinigtes neutralisiertes Deutschland ins Kalkül gezogen habe, fällt eindeutig und apodiktisch aus: "Ein Blick auf die Landkarte Europas beantwortet diese Frage auch ohne tief in interne Akten der auswärtigen Politik der UdSSR hineinzuwühlen. Ein Rückzug der Westmächte aus der Bundesrepublik hätte nicht nur Deutschland, sondern ganz Westeuropa der militärischen und politischen Dominanz der Sowjetunion unterworfen." (107) Wolle rechtfertigt mit dieser Feststellung zugleich, dass er sich nicht der Mühe unterzogen hat, Quellen und Sekundärliteratur über die Stalin-Note zu Rate zu ziehen. Zu einem Urteil, ob Lawrentij Berija 1953 die Aufgabe der DDR zugunsten einer gesamtdeutschen Lösung geplant habe, ringt er sich erst gar nicht durch, obwohl die Forschung heute nahezu einhellig die Auffassung vertritt, dass die Rivalen des Geheimdienstchefs und Innenministers der UdSSR diese Legende gestrickt hatten, um ihn so als Konkurrenten um die Macht auszuschalten.
Ein längeres Kapitel widmet der Autor den "Signaturen der Zeit". Er sieht sie geprägt durch den Alleinvertretungsanspruch der SED auf das humanistische kulturelle Erbe, den Glauben linker Intellektueller an die DDR als das bessere Deutschland, die durch Picassos Bild von der Taube symbolisierte Friedenspropaganda, die in der verqueren ideologischen Sichtweise der SED-Oberen der Erziehung zum Hass gegen den Klassenfeind nicht widersprach, und der zentralen Rolle, die der Jugend beim Aufbau des Sozialismus zugemessen wurde. Wolle sucht und findet eine Erklärung, warum Teile vor allem der akademischen Jugend das diktatorische Regime unterstützten: "Sie waren in der Nazizeit zu jung gewesen, um schuldig zu werden, nun aber alt genug, um Disziplin, Unterordnung und Härte gelernt zu haben. Nun nutzten sie die Aufstiegschancen, die ihnen der neue Staat bot. Die hermetische Ideologie und die sowjetische Besatzungsmacht gaben ihnen Sicherheit, der Westen bot ihnen die Feindbilder. Sie fühlten sich im Recht und auf der richtigen Seite der Geschichte. Und irgendwann waren sie so tief in das neue System verstrickt, dass es ohnehin kein Zurück mehr gab." (174). Die Jugendlichen, die sich nicht durch das System vereinnahmen ließen, die Jeans trugen und Rock'n'Roll tanzten, wurden moralisch stigmatisiert.
In den Kapiteln "Unterdrückung und Aufruhr" und "Tauwetter und Kalter Krieg", die den Volksaufstand am 17. Juni 1953 und die Reaktion der SED-Führung und der Menschen in der DDR auf die Entstalinisierung nach Chruschtschows Abrechnung mit den Verbrechen Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 zum Gegenstand haben, fasst Wolle noch einmal die Darlegungen und Ergebnisse seines mit Armin Mitter verfassten, bereits 1993 publizierten Buches "Untergang auf Raten" zusammen. Neue Quellen werden nicht erschlossen und neue Literatur zu diesen Themen findet keine Berücksichtigung.
Der Autor erhebt nicht den Anspruch, eine umfassende Geschichte des Alltags und der Herrschaft in der DDR in den Jahren 1949-1961 geschrieben zu haben. Er wirft Schlaglichter auf große Wegmarken und erzählt kleine Geschichten, die symptomatisch für die damalige Zeit und das Herrschaftssystem waren. Um eine analytische Durchdringung seines Themas bemüht er sich nicht. Man vermisst eine realitätsgetreue Darstellung der Arbeits- und Lebensverhältnisse im sozialistischen Deutschland. Obwohl die DDR in der Forschung als "betriebszentrierte Arbeitsgesellschaft" bezeichnet wird, blendet Wolle den Betriebsalltag in der sozialistischen Diktatur, der eine Erklärung für deren langes Funktionieren hätte liefern können, weitgehend aus. Auch das Bild der Herrschenden bleibt blass. Der Leser erfährt zwar, dass 1954 8,6 Prozent der SED-Mitglieder und 14 Prozent der SED-Sekretäre in Thüringen vor 1945 ein Parteibuch der NSDAP besessen hatten. Über die politische und geistige Prägung der Spitzenfunktionäre der SED, von denen viele während der NS-Zeit im Moskauer Exil während des stalinistischen Terrors ums Überleben gekämpft hatten, verliert der Autor aber kaum eine Zeile.
Wolle stützt sich in seinem Buch vor allem auf offizielle Dokumente, Presseartikel und zeitgenössische Romane, um den Alltag und das Lebensgefühl in der jungen Republik zu vermitteln. Archivalien wie beispielsweise Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit zieht er nur selten als Quelle heran. Er versteht es, Geschichte pointiert und bildreich zu erzählen. Das trägt erheblich zum Lesegenuss des Buches bei, das sich nicht an den Forscher, sondern an ein breites Publikum wendet.
Petra Weber