Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Teil 1, Band 1: Das Gottesbild (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 13), Berlin: Akademie Verlag 2011, 338 S., ISBN 978-3-05-005133-8, EUR 99,80
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Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Teil I, Band 2: II. Die materielle Schöpfung: Kosmos und Welt. III. Die Welt als Heilsgeschehen (= Obris mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 13.2), Berlin: Akademie Verlag 2012, 320 S., 29 Farb-, 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-005684-5, EUR 99,80
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François Bougard / Hans-Werner Goetz / Régine Le Jan (éds.): Théorie et pratiques des élites au haut Moyen Âge. Conception, perception et réalisation sociale, Turnhout: Brepols 2011
Hans-Werner Goetz: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert), Berlin: Akademie Verlag 2013
Hans-Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter. 500 - 1050, Stuttgart: Eugen Ulmer 2003
Hans-Werner Goetz geht es ums Ganze. "Gott und die Welt" ist als umfassende Systematisierung konzipiert und unterscheidet sich nach Zuschnitt und Methode sowie in den zentralen Thesen von bisherigen Gesamtdarstellungen zum Thema.
Seine Untersuchung ist als Vorstellungsgeschichte angelegt. Dieses Konzept wurde unter anderem von ihm maßgeblich in Deutschland entwickelt. Es steht parallel zu französischen Konzeptionen der Annales-Schule wie der der Histoire des représentations. Goetz hat seinen Ansatz bereits in vielen Publikationen, insbesondere zu historischen Vorstellungen des Mittelalters, empirisch erprobt. Jüngere Trends, wie die diskursanalytischen Techniken, werden nicht aufgegriffen. Goetz grenzt sich explizit vor allem von der konfessionellen Theologiegeschichte ab.
Gemäß der methodischen Einleitung soll sein säkularhistorischer Zugriff hauptsächlich die zeitspezifischen Elemente und ihre Wandlungen erschließen. Die systematische Anlage zeigt allerdings keinen Prozess, sondern ein Tableau. Wiederholt schreibt Goetz sogar ausdrücklich gegen historische Narrative an. Diese hatten vor allem das 12. Jahrhundert als Wende des Gottes-, Christus- und Höllenbildes oder auch der Geschichte der Tugenden- und Lasterkonzeptionen hervorgehoben.
Das Ergebnis beider Teilbände ist vielmehr, dass die Vorstellungen überraschend stabil erscheinen. Goetz bestreitet den zum Beispiel andernorts vertretenen Wandel vom Kriegergott zum liebenden Gott, vom Weltenherrscher zum leidenden Christus. Diese theologischen Elemente hätten vielmehr stets nebeneinander bestanden (295). Zu den von Goetz kritisierten Narrativen gehört auch die Geschichte von einem germanisierten Christentum. Die Integration paganer Gesellschaften in das christliche Weltbild ist vielmehr mit Goetz so zu denken, dass eine entfaltete und kohärente Theologie immer größere Regionen ergriff und durchdrang.
Aus Goetz' Sicht fällt zudem die Tatsache, dass die von ihm untersuchten Schriften fast ausnahmslos nicht von Laien stammen, sehr viel weniger ins Gewicht, als man erwarten würde. Die Unterschiede zwischen religiösen Vorstellungen von Gelehrten und von Laien würden in der Forschung überschätzt (46). Gelehrte Vorstellungen seien regelmäßig in Predigten wiederholt worden, und umgekehrt waren die Gelehrtenmeinungen mit den Vorstellungen der Laien verwachsen. Die Vorstellungen der Laien seien höchstens als gröber und lückenhafter zu denken, aber nicht als wesentlich verschieden (298).
Goetz' Quellen für beide Teilbände sind mehr oder weniger konstant die bekannten früh- und hochmittelalterlichen Autoren und Autorinnen West-und Mitteleuropas von Isidor von Sevilla († 636) bis Herrad von Landsberg († 1195). Sie stellten das physikalische, geografische und philosophische Wissen der Welt zusammen und erweiterten es durch eigene Forschungen. Sie betrieben Theologie und Mystik oder schrieben Geschichte. Die Kongruenz dieser Bereiche wird etwa in den naturphilosophischen Kommentaren zum biblischen Schöpfungsbericht oder an Kartendarstellungen besonders augenfällig, die physikalisches Wissen und theologische Konzeptionen zugleich sind.
Gelegentlich zitiert Goetz Dichtungen. Oft zieht er bildliche Quellen zur Illustration heran, die in farbigen Tafeln beigegeben sind. Dazu gehören insbesondere Illuminationen aus den Evangelien- und Bibelhandschriften Europas, aus enzyklopädischen und naturphilosophischen sowie aus mystischen und spirituellen Werken. Die großen Weltkarten (Mappae Mundi) und Skulpturenschmuck ergänzen das Bildmaterial. In beiden Teilbänden besteht die Darstellung aus zusammenfassenden Kapiteln, die jeweils am Ende durch exemplarische Untersuchungen einzelner Quellen konkretisiert werden.
Besonders die Erforschung früh- und hochmittelalterlicher Konzeptionen von Gott schätzt Goetz als ein Desiderat ein. Zudem seien im Früh- und Hochmittelalter selbst keine systematischen Abhandlungen über Gott geschrieben worden. Goetz sieht seine Aufgabe darin, die über die Genres verstreuten Aussagen über Gott zu ordnen. Diese Systematisierung geschieht im ersten Teilband in zehn Kapiteln. Von den antiken und patristischen Grundlagen führt Goetz seine Analyse zu den mittelalterlichen Bildern von Gott als dem Schöpfer, Lenker und Richter. In diesen zentralen Aspekten des Gottesbildes verknüpfen sich neben der theologischen Tradition Naturphilosophie und Geschichtsdenken. Die Kapitel 4-7 gehen dann Überlegungen zum Wesen Gottes nach. Dies motiviert einen Ausflug zu den Gottesbeweisen. Schließlich folgen Christologie und Heilig Geist-Theologie. Hier betreibt Goetz unversehens selbst Theologie, wenn er begründet, warum Abaelards "Theologia Summi Boni" sehr wohl rechtgläubig gewesen sei (206). Die kontroversen Debatten zeigten, dass die dogmatische Lösung des Trinitätsproblems im Hochmittelalter noch nicht endgültig gelungen sei.
In Opposition zu Jacques Le Goff und Peter Dinzelbacher bestreitet Goetz, dass die Heilig Geist-Theologie erst im Hochmittelalter bedeutsam wurde. Le Goff und Dinzelbacher hätten mit der Zunahme von Bruderschaften und Heilig-Geist-Spitälern argumentiert. Dies lässt Goetz als Beleg nicht gelten. Die Praktiken und die Frömmigkeit mochten sich geändert haben, doch die Vorstellungen waren bereits zuvor in toto ausgebildet. Diese und ähnliche Erörterungen vor allem der Forschungen aus dem Umfeld der Histoire de l'imaginaire und der Mentalitätsgeschichte profilieren Goetz' Ansatz, auf den zurückzukommen sein wird.
Der zweite Band behandelt die Welt erstens in ihrer Materialität und ihrer natürlichen Ordnung sowie zweitens in ihrer spirituellen Wirklichkeit, als Heilsgeschehen. Die ersten sieben Kapitel behandeln die physische Welt. Sie gehen dem Begriff "natura" nach, erläutern die Elementelehre und die Konzeptionen von Kosmos, Himmel, Paradies, Hölle und Erde als geschaffene, materielle Elemente der Welt. Goetz findet die Forschung auf diesem Gebiet bereits gut vorangetrieben. Er betrachtet seine Aufgabe in deren Auswertung auf die Frage nach dem religiösen Weltbild. Der Kosmos als Ei mit der Erde als Dotter, die Kugelförmigkeit der Erde und Klimazonen werden unter vielem anderen konkret an den Quellen vorgeführt. Goetz betont die Rückbindung der naturgesetzlichen Eigenständigkeit der Welt an die Gottesvorstellungen. Die Hölle, ebenso wie Paradies und Himmel für die Zeitgenossen eine physische Tatsache, sei keineswegs in volkstümliche und gelehrte Höllenkonzeptionen zu scheiden. Die Vorstellungen wurden vielmehr allgemein geteilt. Das 12. Jahrhundert habe Systematisierungen der Erforschung der Natur, aber keinen grundsätzlichen Wandel erbracht.
Danach wendet sich Goetz in weiteren drei Kapiteln der spirituellen Welt zu. Die durch den Sündenfall eingetretene Trennung des Menschen von Gott, der Opfertod Christi für die Erlösung des Menschen und die Aussicht auf das Heil am Ende bilden den Rahmen für das Drama der Heilsgeschichte. Hier begegnen Ausführungen zur historischen Periodisierung wie der Weltalterlehre, zum Fortschrittsdenken, zu Gesellschaftstheorien und zur Tugend- und Lastertheologie. Im Rahmen der Heilsgeschichte erörtert Goetz außerdem das Problem von Freiem Willen und Gottes Vorherwissen, das im Frühmittelalter ebenso wie in der Frühscholastik intensiv diskutiert wurde. Ein kurzer Ausblick schließt den Teilband ab und kündigt die folgenden Themen an: Die Engel, der Mensch, die Heiligen und auch das Jüngste Gericht und Jenseits werden noch folgen.
Es fragt sich, wen Goetz als Adressaten seines Buches im Auge hat. Langzeiler, Durchbrechungen durch Klammern und mehrere Einschübe im Satz etc. sind keine Seltenheit. Lebensdaten der Autoren sind nur sporadisch beigegeben. Auf eine Kontextualisierung der Autoren und der bildlichen Quellen ist außer in den exemplarischen Kapiteln zugunsten der Systematisierung verzichtet worden. Deshalb folgen die Belege auch nicht selten in achronologischer Reihenfolge. Wer sich hier zurechtfinden will, muss entweder die wissenschaftliche Literatur dieser Epoche überblicken oder sie sich durch fleißige Informationslektüre parallel zum Studium dieses Werkes aneignen.
Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird jedoch mit einem tiefen Blick in eine in jeder Hinsicht bedeutende literarische Tradition durch einen sehr erfahrenen Historiker belohnt. Deren einzelne Elemente sind an sich theologisch weder neu noch überraschend. Dies räumt Goetz selbst am Ende des ersten Teilbandes ein. Im selben Atemzug grenzt er sich von auf vermeintlich sensationelle Thesen angelegten Werken ab (299). Aber es geht ja auch gar nicht um Fortschritte, denn es ist tatsächlich keine Ideen- und / oder Geistesgeschichte alten Stils. Goetz zeigt vielmehr eindrucksvoll konkret, wie differenziert und reflektiert das früh- und hochmittelalterliche Bild von Gott und der Welt gewesen ist und wie wenig es auch Vorurteilen gegenüber seiner "Mittelalterlichkeit" entspricht. Während der Wanderung durch die verschiedenen Genres und die Bereiche des Denkens wird die Kohärenz dieses Weltbildes und seine große Reichweite über die im eigentlichen Sinn theologischen Werke hinaus sichtbar. Auch der Aufweis der frühmittelalterlichen Existenz von Theologemen, die man sonst erst im 12. Jahrhundert erwartet, überzeugt uneingeschränkt. Das allein schon ist wichtig und trägt zu einer Korrektur bei. Der tumbe und kindliche Mensch des Mittelalters gehört endgültig entlassen.
Anlage und Thesen des Buches sind wie zu erwarten kohärent. Die Prämissen, die Methode und die Quellenauswahl provozierten gleichwohl Widerspruch, der bis zum Schluss der Lektüre nicht verstummen wollte und der mein Verständnis behindert hat, weshalb er kurz umrissen sei: Woher kommt und wohin führt Goetz' Begriff von "religiös" mit seinen spezifischen Konzeptionen von "Vorstellungen", "Frömmigkeit" und "Praxis"? Goetz hat konfessionelle und mediävistische Verzerrungen des Zeitalters korrigiert. Aber in dieser Trennung von Vorstellungen, Frömmigkeit und Praxis scheint aus meiner Sicht eine Konzeption von Religion auf, die dezidiert protestantische Einflüsse aufweist. Daran ist an sich nichts zu kritisieren, aber es ist nach den methodischen Konsequenzen dieser Trennung zu fragen. Goetz' Konzeption von Vorstellungsgeschichte lässt ihn sich offenbar von der Heuristik, wie sie von der Annales-Schule entwickelt wurde, abwenden. Diese hatte sehr wohl einen Blick auf die Massen eröffnet, mit Quellen aus der Hagiografie, Liturgie, Rechtsgeschichte, Archäologie sowie mit quantitativen Methoden. Auch zeitgenössische Widersprüche zur lateinisch-christlichen Theologie und Kosmologie, also Devianzen, klammert er so aus. Das schmälert den Wert des Aufweises der Kohärenz aus meiner Sicht. Was geschah genau, als das entfaltete lateinische christliche Weltbild neben und in paganen oder erst archipelförmig christianisierten Kulturen parallel existierte (297)? Wie viele Menschen hörten in dieser Zeit tatsächlich regelmäßig Predigten? Warum entstanden andererseits, mit Herbert Grundmann, "religiöse Bewegungen" in der von Goetz behandelten Zeit? Oder, um die Heilig Geist-Hospitäler nochmals als Beispiel zu nutzen: Was geschah gemäß Goetz' Modell, wenn die Vorstellungen an sich konstant geblieben sind und sich gleichwohl die Praktiken änderten? Warum wurden zu Zeiten bestimmte Elemente aktiviert, andere jedoch nicht? Goetz will diese Fragen mit seinem Buch nicht beantworten. Seine Vorstellungsgeschichte ist das unbewegte Wasser in der Tiefe. Indem er diese Fragen in einem neuen Licht erscheinen lässt, leistet Goetz jedoch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Religion im Früh- und Hochmittelalter. Sein Tableau wird künftig zu mehr Vorsicht erziehen können.
Dorothea Weltecke