Tobias Dietrich / Katharina Zey-Wortmann (Hgg.): Die 1970er Jahre in Geschichtswissenschaft und Unterricht, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, 187 S., 4 Abb., 1 Tab. , ISBN 978-3-631-63377-9, EUR 26,95
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Das besondere Verhältnis zwischen Geschichtsdidaktik und der Epoche der Zeitgeschichte ist in den vergangenen Jahren immer wieder in den Blick unterschiedlicher Publikationen gerückt. [1] Allerdings haben sich bislang nur wenige Arbeiten so nah an die aktuelle Gegenwart herangewagt wie dies beim hier anzuzeigenden Sammelband der Fall ist. Das aus einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrkräfte in Trier hervorgehende Werk greift die aktuell stark in der Geschichtswissenschaft thematisierte Dekade der 1970er-Jahre auf und versucht sich darin, Brücken zwischen den aktuellen Forschungstendenzen der Zeitgeschichte und dem (kompetenzorientierten) Geschichtsunterricht zu schlagen.
Vor allem von Seiten der Zeitgeschichtsforschung wurde dieses Unternehmen prominent unterstützt, mit Lutz Raphael und Jens Ivo Engels steuern zwei renommierte Fachvertreter profunde Beiträge zum Band bei. Seine Thesen von der Zeit vor bzw. nach dem Boom legt Lutz Raphael auch hier im Basistext sehr überzeugend dar, bündelt sie prägnant und fokussiert seine international perspektivierten Aussagen auf die Themenfelder Politik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Im Anschluss werden jeweils zwei oder drei Beiträge gebündelt, die sich mit sozialen Bewegungen, der Migration in die Bundesrepublik, der Geschichte der DDR und der Materialisierung der 1970er-Jahre in Literatur und Archiv befassen. Gerade diese Themensetzung, bei der jeweils epochenwissenschaftliche und didaktisch-unterrichtspragmatische Zugriffe einander ergänzen, überzeugt nicht völlig. Zu wenig begründet erscheint die Auswahl der Fragestellungen.
Allerdings belegt beispielsweise der Text von Jens Ivo Engels das erkennbare Bemühen, Impulse aus der Forschung in den alltäglichen Schulunterricht zu tragen. Konkrete Anregungen, wie Lehrkräfte beispielsweise die Umweltschutzbewegung der 1970er-Jahre aus lokalgeschichtlichem Material erschließen können, fallen ins Auge. Zugleich ist erstaunlich, wenn der Experte es als ungünstigen Zwang ansieht, dass sich in einem lokalen Zugriff auf die Umweltdebatten der Siebziger die Lernenden mit Originalquellen beschäftigen sollen (48). Im Gegenteil können authentische Untersuchungsgegenstände, etwa der von Engels vorgestellte "Grüne Hammer", sehr anregend für das historische Lernen wirken. Nicht zuletzt trägt dazu auch die vertiefte Quellenkritik bei, die den Beitrag abrundet.
Im Anschluss versucht Tobias Dietrich die Umwelt- und Geschlechtergeschichte für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht anschlussfähig zu machen. Den spezifischen Reiz besonders junger Geschichte betont er zu Recht, allerdings sind seine wiederholten kritischen Anmerkungen zur aktuellen Kompetenzdebatte in der Geschichtsdidaktik eher wohlfeil. Sicher ist Dietrich zuzustimmen, wenn er bemängelt, dass sich die Disziplin bislang nicht auf ein universell anerkanntes Modell hat einigen können. Der hier aufgezeigte Weg, sich am pragmatischen Modell eines Studienseminars zu orientierten, greift aber wohl auch zu kurz. Die vorgelegten Unterrichtsbeispiele zur Umweltgeschichte bewegen sich denn auch im vertrauten Rahmen.
Nach Jenny Pleinens Beitrag zur Migrationsgeschichte, der sich allerdings auf die Migration im westlichen Teil des geteilten Deutschland beschränkt, steuert Claudia Lehnen didaktische Zugänge zum Thema aus Perspektive eines interkulturellen Lernens bei. Völlig zutreffend betont sie, wie wenig multiperspektivisches Unterrichtsmaterial zum Thema Migration bislang vorliegt. Ihr exemplarischer Stundenentwurf kann diesem grundsätzlichen Manko freilich nur wenig entgegensetzen, bietet aber reizvolle Anknüpfungspunkte. Ein weiterer unterrichtspragmatischer Beitrag wendet sich dem Umgang mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht zu. Darin kritisiert Antonia Herjes die starke Fixierung des Bereichs Oral History auf die NS-Zeit und empfiehlt, gerade die DDR mit den Mitteln der Zeitzeugenbefragung im Unterricht zu erschließen. Wieso allerdings sich die 1970er-Jahre besonders für Zeitzeugenbefragungen zur DDR-Geschichte eignen, bleibt weitgehend offen.
Die Beiträge von Mareike Allmann und Jürgen Kost öffnen die Perspektive nochmals, indem sie Kooperationen zwischen Geschichts- und Deutschunterricht anregen. Am Beispiel der Jugendbuchliteratur zur Geschichte der DDR und zur zeitgenössischen Literatur zeigen sie, wie auch andere Disziplinen zum historischen Lernen beitragen können.
Ohne auf alle Beiträge des Sammelbandes eingehen zu können, ist festzustellen, dass der Band belegt, wie wertvoll eine enge Rückkoppelung aktueller Forschungsergebnisse in den schulischen Alltag sein kann. Daneben zeigt sich aber auch, welche engen Grenzen einer Publikation von Einzelreferaten im Rahmen einer Lehrerfortbildung gesetzt sind. Interessante Anregungen für den Unterrichtsalltag können dem Werk gleichwohl entnommen werden. Vor allem aber ist der Band eine wertvolle Anregung für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, sich mit der Dekade der 1970er-Jahre weit vertiefter zu beschäftigen, da das Thema inzwischen zu den kanonischen Lehrplaninhalten aller Bundesländer gehört.
Anmerkung:
[1] Stellvertretend: Susanne Popp u.a. (Hgg.): Zeitgeschichte - Medien - Historische Bildung (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 2), Göttingen 2010.
Christian Kuchler