Christina Schröer: Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich (1792-1799) (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, XI + 763 S., 72 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20783-0, EUR 89,90
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"'Ordnungsideal' und 'Konflikterfahrung' - damit sind die beiden Pole benannt, zwischen denen sich die symbolische Politik der Ersten Republik in den sieben Jahren ihres Bestehens entfalten sollte." (12) So knapp Christina Schröer eines der zentralen Ergebnisse ihrer Studie hier zusammenfasst, so deutlich wird allein schon durch die Komplexität der verwendeten Begrifflichkeiten, wie umfassend der Untersuchungsgegenstand ist, wie differenziert die Fragen und Antworten zwangsläufig sein mussten: Eingebettet in den übergeordneten Zusammenhang einer "Kulturgeschichte des Politischen" (24) ist die von Hans-Ulrich Thamer begleitete Dissertation entstanden als Beitrag zum SFB 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution". 2010 wurde die Studie, sicher zu recht, wie hier schon gesagt werden kann, mit dem Dissertationspreis der Philosophischen Fakultät der Universität Münster ausgezeichnet.
Die Zielsetzungen der Untersuchung sind vielfältig, die Autorin breitet sie (nicht nur) zu Beginn der Darstellung umfänglich aus: Genauer als bisher geschehen will sie, vor allem die symbolgeschichtlichen Untersuchungen von Lynn Hunt [1] weiterführend und vertiefend, die symbolische Politik der offiziellen Entscheidungsträger und der Opposition in der Ersten französischen Republik zusammenfassend darstellen und sie empirisch unterfüttert im historischen Kontext analysieren, um sie "im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung nach einer Änderung der Beziehung zwischen 'Macht und Ritual' [...] im Übergang zur Moderne zu interpretieren." (11)
Schröer geht grundsätzlich davon aus, dass Symbolpolitik in Frankreich nach 1789 "zu einem staatstragenden und gesellschaftspolitischen Ressort - und zugleich zu einem Experimentierfeld für gesellschaftliche Gegenmacht" (IX) wurde. Im Hinblick auf ihren "Umgang mit Ritualität" könne die Französische Revolution als "politisches Laboratorium" bezeichnet werden, "ein Laboratorium, in dem sowohl mit Formen der Massenpädagogik, wie sie für die Diktaturen des 20. Jahrhunderts prägend werden sollten, experimentiert wurde, als auch mit rituellen Akten, die unsere moderne Demokratie prägen [...]." (676)
Schröer unterscheidet drei Untersuchungsebenen symbolischer Politik, nämlich typische Erscheinungsformen - wozu die Organisation und die Durchführung gehören - Wirkungen und Dimensionen, letzteres im Sinne von Wert- und Ordnungsvorstellungen sowie strategisch-instrumentellen Nutzungsmöglichkeiten. Für ihre Studie zieht sie eine schier unfassbare Menge an Quellen heran, darunter Publizistik, Druckgraphik, administrative Quellen wie Berichte, Sitzungsprotokolle, Erlasse, Verordnungen, Polizeiberichte und Memoiren wichtiger politischer Akteure. Auch zeitgenössische Gemälde, Aquarelle, Skulpturen und Architektur bezieht sie über Katalogwerke ein. Die qualitative Analyse erfolgt mit Hilfe politikwissenschaftlicher Betrachtungen sowie kunst- und kulturwissenschaftlicher "Fallstudien" (19).
Die Konzentration der Untersuchung auf den ausgewählten kurzen Zeitraum begründet Schröer explizit erst am Ende ihrer Studie: Entgegen der landläufigen Auffassung, Jakobinerherrschaft und 'bürgerliche' Republik seien "konträre Politikmodelle", stellen nach Erkenntnis der Autorin die Jahre von 1792 bis 1799 aus kulturgeschichtlicher Perspektive "eine überraschend kohärente Einheit" (663) dar.
Schröer gliedert ihre Untersuchung in vier Schritte: Nach einer umfassenden Einleitung beschreibt sie im zweiten Kapitel, welche Zeichen und Bilder das neue Regime nutzte, welches Bild von Regierung und Parlament damit erzeugt wurde und welche Akteure Teil der offiziellen Selbstdarstellung waren. Deutlich wird dabei: die Republikaner bedienten sich der "Herrschaftssymbolik" der Monarchie (61). Die eingesetzten Medien dienten grundsätzlich und alle zur "Ordnungsstiftung, Legitimitätssteigerung, Wertevermittlung und Respektförderung" (279), wobei die politischen Lagerbildungen die symbolpolitischen Konzepte, die insgesamt in ihrem Repertoire an Vermittlungsstrategien und Ausdrucksformen beschränkt blieben, vervielfältigten.
Kapitel 3 befasst sich mit der instrumentellen Seite der Symbolpolitik. Hier analysiert Schröer das republikanische nationale Erziehungskonzept der 'neuen Gesellschaft' und die Diskurse über die 'republikanischen Institutionen'. Das "Reflexionsniveau", auf dem symbolpolitische Fragen im untersuchten Zeitraum behandelt wurden, so betont Schröer explizit, war dabei hoch, gleichwohl belasteten die Debatten über die richtigen Maßnahmen zur "Konsolidierung und Popularisierung der Republik" (672) das Regime sehr. Bei den Erziehungsinhalten erkennt Schröer Grundmuster: Vermittelt werden soll die Republik als "alltägliches Ordnungsprinzip" (etwa durch die Einführung eines neuen Kalenders), die Republik als "Lebensbegleiterin von der Wiege bis zur Bahre", als "Schicksals- und Wertegemeinschaft", als "Glaubensinhalt" und als "Leistungsmotivatorin" (468). "Pluralisierung und Säkularisierung der symbolischen Politik" sieht Schröer dabei begleitet von einer "Verwissenschaftlichung ihrer Methodik sowie von einer Bürokratisierung und weiteren Rationalisierung ihres Einsatzes im politischen Machtkampf" (9).
Im vierten Kapitel betrachtet sie dann außerparlamentarische politische und soziale Gruppierungen und ihre Reaktionen auf die Regierungsarbeit. Schröer interessiert besonders, wie mit Hilfe von symbolischer Politik Gruppen und Identitäten gebildet und stabilisiert wurden und erkennt: "Alle politischen Lager experimentierten mit Symbolen, Zeremonien und Ritualen als Mitteln der Identitätsstiftung und der Bindung von Anhängerschaft." (633) Oberste "Referenzwerte politischen Handelns" waren dabei überall "Vaterland und Verfassung" (643). Während allerdings die Republikaner ihre Botschaften in Rekurs auf die Republik selbst und ihre Gründungsmythen bzw. ihre Verwurzelung in der aufklärerischen Tradition formulierten, beschäftigten sich die Oppositionellen mehr mit der akuten Verfassungspraxis.
Im letzten Kapitel klärt Schröer in großen Zügen die Frage nach Kontinuität und Wandel von Herrschaftsritualen im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne. Sie weist deutlich darauf hin, dass der Gebrauch von Symbolen und Ritualen kein Kennzeichen 'moderner' Politik sei, glaubt aber erkannt zu haben, dass die Französische Revolution gerade in kulturgeschichtlicher Hinsicht auch weiterhin als Epochenwende zu betrachten ist. Neu sei auch im Vergleich zum Ancien Régime die Erfahrung einer begrenzteren Wirkung und abnehmenden gesamtgesellschaftlichen Verbindlichkeit politischer Symbole und Rituale gewesen. An die Stelle von Prunk (der Fürstenhöfe) seien in der Französischen Revolution "Schlichtheit und Strenge, Leistung und Tugend" (652) als Referenzen der Symbolpolitik getreten. Im Gegensatz zur Vormoderne habe Symbolpolitik keinen "rechtskonstituierenden Charakter" mehr gehabt (652), nicht Transzendenz oder dynastische Tradition, sondern historische Erfahrung sei inspirierend für die Erinnerungskultur der Revolution gewesen. Und auch dies: Vorwürfe von Täuschung und Manipulation seien zum festen Bestandteil der politischen Kultur geworden.
Als "Merkmal und Problem" (650) jeder Symbolpolitik nach 1789 erkennt Schröer schließlich ihre Ambivalenzen: Sie, die Politik, versprach zum einen Stabilität, führte aber umgekehrt auch immer wieder zu Konflikten, die politische Entscheidungen revidierten. Aus heutiger Sicht sei die 'Kulturrevolution' zudem ein "demokratiegefährdendes, da tendenziell entmündigendes Unterfangen" (666/667) gewesen, da nämlich die Realisierung der republikanischen Institutionen einherging mit Einschränkungen individueller Freiheiten und Verfassungsbrüchen. Im Rahmen der "geschichtspolitische[n] Offensive der Republikaner" (469) sei zudem deutlich geworden: "Erinnerungspolitik konkurrierte mit einer Politik des Vergessens." (650)
Inhalts- und gedankenreich ist die Studie, die Christina Schröer hier vorlegt. Auf profunder Kenntnis und höchstem Reflexionsniveau beruhend entwickelt sie - systematisch erläuternd und in unterschiedlichste Forschungszusammenhänge eingebettet - Fragen und Antworten, präsentiert die Erkenntnisse facettenreich, differenziert, abwägend und exzellent formuliert. Dass es, vor allem in den zusammenfassenden Darlegungen der Einleitung, der Zwischenfazite und des Schlusskapitels, zu Redundanzen kommt, ist nachvollziehbar, betrachtet man die Fülle des zu verarbeitenden Materials: Die variierenden Wiederholungen der Analyseergebnisse haben dann auch etwas von einer Selbstvergewisserung der Autorin, vielleicht und sehr vorsichtig formuliert von einem 'Sich-Selbst-Sortieren'. Konterkariert wird dieses wiederholende Darlegen von Interpretamenten ein wenig durch die Vorstellung immer neuer, im Gesamtkontext der Revolution stehender Forschungsfragen, die die Autorin mit ihrer intensiven Betrachtung der Symbolpolitik während der Ersten Republik jeweils auch noch zu beantworten anstrebt bzw. meistens mehr noch: zu beantworten weiß. Hier scheint zumindest die Gefahr auf, die unzweifelhaft hohe Bedeutung symbolischer Politik in der Französischen Revolution (noch) zu überhöhen. In erster Linie zeugt dieses produktiv-sprudelnde Entwickeln immer neuer Fragen und Zusammenhänge aber einmal mehr von Schröers umfänglichen Sachkenntnissen und dank ihrer Fähigkeit zu (selbst-)kritischer Betrachtung überspannt sie den Bogen hier nie. Schröer schließt ihre Abhandlung mit der Erwähnung von Forschungsdesideraten, die sie im Verlauf der eigenen Studien entdeckt hat und macht damit in der Tat Lust auf (noch) mehr. Die Messlatte für künftige Forscherinnen und Forscher liegt jetzt allerdings sehr hoch.
Anmerkung:
[1] Lynn Hunt: Politics, Culture and Class in the French Revolution. Cambridge 1984. Deutsche Übersetzung: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Frankfurt am Main 1989.
Heike Wüller