Dominik Nagl: No Part of the Mother Country, but Distinct Dominions. Rechtstransfer, Staatsbildung und Governance in England, Massachusetts und South Carolina, 1630-1769 (= Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft Nordamerikas ; Bd. 33), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 792 S., ISBN 978-3-643-11817-2, EUR 69,90
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Die Forschung zur Geschichte von Staatlichkeit und Staatsbildungsprozessen in Alteuropa unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. An die Stelle allzu statisch gedachter Konzeptionen (Staatsbildung als disziplinierender Durchgriff "von oben") sind dynamisch strukturierte Modelle getreten. Die Rede ist nun von Aushandlungsprozessen zwischen unterschiedlichen Akteuren und Agenturen - herrschaftlichen wie nicht-herrschaftlichen (den Fürsten einerseits, Unternehmern, Handelsgesellschaften oder sonstigen Korporationen andererseits): Aus deren Zusammenwirken sei der moderne Staat hervorgegangen, wenn er nicht geradezu "von unten" - durch ein unabweisbares Bedürfnis der "Beherrschten" nach Schutz und Daseinsvorsorge - herbeigeführt worden sei. Dieser Paradigmenwechsel setzt sich in entsprechender Begrifflichkeit fort: Nicht mehr von government könne man in der Frühmoderne sprechen, vielmehr müsse man von governance ausgehen. Die Beziehungen zwischen "Herrschern" und "Beherrschten" seien als empowering interactions (André Holenstein) einzustufen - als gegenseitige Zuweisung von Aufgaben und Funktionen zum Nutzen beider Seiten. [1]
In dieses Panorama fügt sich der vorliegende Band über Staatsbildungsprozesse im englischen Kolonialreich zwischen 1630 und 1769 ein. Die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" an der FU Berlin entstandene Dissertationsschrift erprobt die Stichhaltigkeit aktueller Forschungsperspektiven in einer weit ausholenden Fallstudie: Der Aufbau von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen in Massachusetts und South Carolina wird im Vergleich mit England beleuchtet. Im Kern geht es um die Genese der kolonialen Staatlichkeit und deren Abhängigkeitsgrad vom Vorbild des Mutterlands: Hat man es mit spiegelbildlichen Reproduktionen englischer Verhältnisse zu tun oder lassen sich hier eigenständige Variationen erkennen? - Das zentrale Ergebnis der Untersuchung läuft auf ein schon von zeitgenössischen Beobachtern bemühtes Aperçu hinaus: die Kolonien seien "no part of the Mother Country, but distinct dominions". Amerika war nicht einfach England. Das Distinkte an der kolonialstaatlichen Entwicklung ist dabei in geographischen Voraussetzungen, historischen Gegebenheiten, aber auch in juristischen Sonderprägungen zu suchen: Mit der Sklaverei (bzw. den indentured servants) und den puritanisch geprägten covenants verfügten die beiden Kolonien South Carolina und Massachusetts über ganz eigenständige Ausgangspunkte ihrer Entwicklung.
Der Autor gliedert seine Überlegungen in sechs zentrale Themenblöcke auf: Einer Analyse der Verfassungsstrukturen im First Empire seit dem 17. Jahrhundert (39-62) und in England seit dem späten Mittelalter (63-174) folgt ein Überblick über die Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen in Massachusetts und South Carolina (175-357). Fortgesetzt werden die Reflexionen mit Beobachtungen zum Gerichtswesen (359-495), zu sozialen Kontrollmechanismen und zur Sklaverei - jeweils getrennt nach den beiden im Blickpunkt stehenden Kolonien (497-634, 635-700). Die Einleitung ordnet das Problem in den theoretischen Horizont ein - wobei Dominik Nagl englisch-amerikanische und kontinental-europäische (deutsche) Diskussionsstränge miteinander verknüpft. Hervorgehobene Beachtung finden etwa die Konzepte von Atlantic History und New Imperial History, daneben aber auch die von Gerd Oestreich und Wolfgang Reinhard angestoßene Debatte über Sozialdisziplinierung und State-Building.
Das Werk liefert eine Synthese zur Institutionenkunde im British Atlantic des 17. und 18. Jahrhunderts und schneidet damit ein Feld an, das speziell in der deutschen Amerikaforschung noch kaum Beachtung gefunden hat. Nagl verarbeitet dazu eine stupende Fülle an einschlägiger Forschungsliteratur vor allem aus dem englischen und amerikanischen Bereich. Der Stil ist handbuchartig; die mitunter etwas spröde Diktion unterstreicht diesen Charakter. Nichts desto weniger schließt die Dissertation an dieser Stelle eine wichtige Lücke und stellt einen zentralen deutschen Beitrag zu den hierzulande immer noch im Schatten stehenden Early American and Colonial Studies dar. Nagl bricht dabei einmal mehr mit der einseitigen Fixierung auf das (post-)revolutionäre Amerika. Dies war eben keine utopische Kreation ex nihilo, sondern ein Phänomen einer in das europäische Mittelalter zurückreichenden, zudem transatlantisch verknüpften Verfassungsentwicklung. Insofern darf man die voluminöse Studie in eine Reihe stellen mit jüngeren Ansätzen zu einer "Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive", so beispielsweise mit den wegweisenden Arbeiten von Hermann Wellenreuther. [2]
Die Untersuchung stützt sich auch auf Archivbestände. Einer quantifizierenden Auswertung werden etwa die Gerichtsakten des Suffolk County (Massachusetts) für den Zeitraum von 1702 bis 1732 unterzogen (709-716). Das Ziel dieser Sondierungen besteht darin, einen Einblick in die Lebenswirklichkeiten kolonialstaatlicher Verwaltungsstrukturen zu verschaffen - in diesem Fall in die Praktiken des kolonialen Rechtswesens. Die Tabellen unterfüttern die eher rechtsdogmatisch angelegten Ausführungen im Hauptteil mit handfestem Datenmaterial.
Neben den Aktiva sind jedoch Passiva zu verzeichnen: An mancher Stelle wirkt die Erzählung erratisch. Die langen Zitate aus der Sekundärliteratur behindern den Lesefluß. Mutige Straffung hätte hier dem Text gut getan. Der Vergleich zwischen Metropole und Peripherie (Mutterland und Kolonie) - das Grundmoment dieser Arbeit - ist nicht immer konsequent durchgeführt. Am deutlichsten werden die Unterschiede und Abhängigkeiten zwischen England und seinen Kolonien im Kapitel über die Sklaverei herausgearbeitet. Die übrigen Kapitel sind zu additiv aufgebaut: Die Transfer- und Adaptionsvorgänge sind so für den Leser kaum einsichtig. Eine Erläuterung der Quellensituation in der Einleitung fehlt ebenso wie ein Register.
Dennoch verdient die fundamentale Leistung der Studie Anerkennung. Sie besteht vor allem darin, aus der Sicht Alteuropas Verwandtschaft und Eigensinn der nordamerikanischen Welt erneut in den Blickpunkt zu rücken. Wieder einmal zeigt sich: der "Westen" - er ist keine monolithische Einheit, sondern ein Gefüge von komplexer Vielfalt.
Anmerkungen:
[1] André Holenstein: Empowering Interactions. Looking at Statebuilding from Below, in: Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu (eds.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300-1900, Aldershot 2009, 1-31.
[2] Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts; Ders.: Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1 f.), Münster, Hamburg, Berlin, London 2001-04; ferner Susanne Lachenicht (ed.): Europeans Engaging the Atlantic. Knowledge and Trade, 1500-1800, Frankfurt am Main, New York 2014 (im Druck); Dies.: Atlantische Geschichte. Einführung, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 (15.01.2012), URL: http://www.sehepunkte.de/2012/01/forum/atlantische-geschichte-150/.
Rainald Becker