Bernhard Brockötter: Leben und Leid im Ersten Weltkrieg. Der Briefwechsel zwischen der Famlie Brockötter in Greven-Schmedehausen und ihren Söhnen an den Fronten im Osten und Westen, Münster: Westfälische Reihe 2014, 391 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-9562-7091-8, EUR 19,90
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Ein Schützengraben bei La Bassée im Herbst 1915, aus dem Unterstand blickt mit unverhohlener Skepsis der Soldat Lorenz Brockötter. Er kann nur erahnen, welche Gefahren und Mühen ihm noch bevorstehen. Über vierzig Jahre später, ein Wohnzimmer in Westfalen. Am Tisch sitzt dieselbe Person, nun mit dem älteren Bruder Bernhard, zwei ernste Männer um die 80. Sie haben sich in weiten Teilen klaglos in das bittere Schicksal ihrer Generation gefügt und das Erleben zweier Weltkriege bewältigt. Dennoch glaubt man es ihrem Gesichtsausdruck anzusehen, wie hoch der Preis dafür gewesen ist.
Die beschriebenen Fotos illustrieren (neben zahlreichen Abbildungen von Feldpostkarten und anderen Dokumenten) die bemerkenswerte Briefedition von Bernhard Brockötter, Enkel bzw. Großneffe der beiden Brüder. Die insgesamt 700 Schriftstücke umfassende Sammlung blieb über neunzig Jahre nahezu unbeachtet, bis sich Brockötter der Briefe annahm, ihren Quellenwert erkannte und sie nun anlässlich des breiten öffentlichen Gedenkens an die "Urkatastrophe der Menschheit" in leicht gekürzter Form (550 Schriftstücke) der Öffentlichkeit zugänglich machte. Die Umsetzung erfolgt unkommentiert, der Herausgeber möchte die Texte für sich sprechen lassen. Neben einem Vor- und Nachwort beschränkt er sich auf einige Bemerkungen zur Familiengeschichte und zum Material.
Im Einzelnen handelt es sich bei dem Korpus um Briefe, die vom Hof Brockötter (unter Führung des Vaters Bernhard und des dritten Sohnes Franz) zum Sohn Bernhard an die Ostfront oder zum Sohn Lorenz an die Westfront gesandt wurden, sowie um Post Bernhards bzw. Lorenz' von ihren jeweiligen Standorten, jeweils aneinander oder an den heimatlichen Hof. Ferner treten vereinzelt andere Absender in Erscheinung, verschiedene Bekannte, Verwandte und Kollegen: eine außergewöhnliche Vielfalt an Perspektiven also, die dem Leser das Geschehen und Empfinden an West-, Ost- und Heimatfront nahezu zeitgleich darlegt, teils ohne, in der Regel jedoch mit unmittelbarer Bezugnahme aufeinander. Laut Brockötter war sein Großonkel Lorenz derjenige, der die Familie "immer wieder ausdrücklich dazu animierte, regelmäßig zu schreiben" (16). Er selbst wird diesem Anspruch durchgehend gerecht, von ihm stammen die meisten Briefe.
Die Forschung zu autobiografischen Texten bzw. Ego-Dokumenten [1] weist darauf hin, dass eine schriftliche Darstellung des eigenen Lebens vom Reiz literarischer Ausgestaltung als Schreibmotiv nicht zu trennen sei, ein Aspekt, der für die vorliegende Edition jedoch zu vernachlässigen ist. Eine Ausnahme, die zumindest den oben genannten Schreibeifer Lorenz Brockötters unterstreicht, bildet seine erst in den fünfziger Jahren verfasste Schilderung "Ein Bierabend vor Verdun" (244-250). Entscheidend sind für die vorliegenden Briefe offensichtlich zwei Antriebskräfte: Zunächst das Schreiben als Ablenkung von bzw. Auseinandersetzung mit der eigenen, krisenhaften Situation und auf der anderen Seite das Nachkommen einer als Auftrag verstandenen Chronistenpflicht, in erster Linie gegenüber den Angehörigen. Vor allem diese Beweggründe dürften verantwortlich dafür sein, dass im Schnitt jeden zweiten Tag ein Brockötter-Dokument auf den Weg gebracht wurde; eine Quote, die die Gesamtmenge von 28 Milliarden Feldpostbriefen und -karten von 1914 bis Kriegsende besser vorstellbar macht: Es handelt sich bei der vorliegenden Textsorte um ein im Wortsinn "massenhaft genutzte[s] Kommunikationsmittel". [2]
Weniger bei Franz Brockötter als bei seinen Brüdern im Felde tritt der erste Aspekt deutlich zutage. Angesichts des wachsenden Ausmaßes an miterlebtem Leid im Frontalltag und aufgrund von Schicksalsschlägen zuhause vermag die Konzentration auf den Brief nach Hause eine geistige Rückzugsmöglichkeit zu bieten, eine Nische, über die man nur selbst verfügt. Gefragt wird immer wieder nach der Familie, den Tieren, der Ernte, von ständigem Interesse ist zudem das Wetter. Nicht immer gelingt diese Art therapeutischen Schreibens, die Korrespondenz in den Wochen nach dem Tod von Lorenz Brockötters Frau Clara im Frühjahr 1915 etwa dokumentiert die unfassbare Trauer des Witwers und Vaters zweier Kinder, um die er sich auf unbestimmte Zeit nicht kümmern kann: "Der Urlaub, den ich telegrafisch erbeten hatte, ist abgelehnt worden. Auch egal. Was kümmert mich noch die Welt [...]" (118).
Inwiefern Bernhard und Lorenz sich als Chronisten für eine breitere Leserschaft (Feldpost wurde oft in der Zeitung publiziert) oder gar die Nachwelt betrachten, ist fraglich; Lorenz ermuntert den Bruder eher, sich persönliche Notizen zu machen: "Zeitraum mit Stunde und Datum, auch Witterung aufschreiben. Wird dir später viel Freude machen." (73) Unbestritten und nahezu täglich erkennbar ist bei beiden das Bestreben, über das schlichte Lebenszeichen hinaus möglichst detailliert über die gegenwärtige Situation zu unterrichten, um die Familie zu informieren. Angaben zu englischen Angriffen ("1000 Schuss in der Minute", 99) oder Preisen russischer Bauern ("Die Milch kostet 20 Pfennig, Eier 10 Pfennig und Butter 1 Mark", 141), triste Alltagserfahrungen ("Ratten und Mäuse zu Hunderten, fressen uns alles auf." 236), Einschätzungen zur militärischen Lage ("Wenn Serbien mal erledigt ist, gibt es Truppen frei." 192) und schreckliche Szenarien ("Von einer Granate, die neben uns krepierte, wurden zwei Mann an meiner Seite in Stücke gerissen." 256) wechseln einander ab. Dabei wird die Authentizität der Brockötter-Chronik dadurch gesteigert, dass ein differenziertes Bild vermittelt, auf Pauschalurteile verzichtet wird: selbst vor Verdun liegend ist die Rede von "heiterer Stimmung bei herrlicher Witterung" (262). Dass hierzu auch der Effekt zunehmender Routine im Umgang mit Tod und Leid beiträgt, den Herausgeber Brockötter mit der Kapitelüberschrift "Das Grauen wird zur Gewohnheit" (276) bezeichnet, ist unstrittig.
Die Kapiteleinteilung ist der einzige Eingriff Brockötters in den Textfluss. Der Chronologie folgend bevorzugt er familiär bedingte Abschnitte wie den Tod Claras (98-174) oder den Zeitraum ab dem Entlassungsgesuch von Lorenz im Herbst 1917 (341-378). Folglich bildet ein relevanter Gegenstand wie die von Februar bis Ende 1916 währende Schlacht von Verdun kein eigenes Kapitel, sondern die allgemeine Ereignisgeschichte wird den persönlichen Einsätzen und Wahrnehmungen der Briefschreiber untergeordnet.
Unmittelbar nach der Einberufung seines Bruders Lorenz schreibt Franz an Bernhard: "Wo er geblieben ist, wissen wir noch nicht. Vorige Woche haben wir geschlachtet." (77) Die an Kafkas berühmte Tagebuchnotiz vom August 1914 erinnernde Formulierung bringt den Stellenwert dieser Feldpost-Sammlung auf den Punkt: Sie kombiniert die große Geschichte mit dem privaten Erleben, ihr Leser erhält Einblicke in den individuellen Alltag während des Ersten Weltkriegs, sei es im russischen Gefechtslärm oder bei der Roggensaat im Münsterland. Menschen wie die Brüder Brockötter bekamen die Folgen politisch-militärischer Entscheidungen schonungslos und in oft schmerzhafter Weise zu spüren. Umso beeindruckender ist, wie klaglos, bisweilen lakonisch ("Der Mensch denkt und die Heeresleitung lenkt." 115) sie mit ihrem Schicksal umgingen. Und mit welcher Dezenz sie zu unterscheiden wussten zwischen der Propaganda vom abstrakten Erbfeind und dem eigentlichen Gegenüber, den es zu bekämpfen galt: "Überall merkt man, dass hier gute, arbeitsame Leute gewohnt haben." (103)
Anmerkungen:
[1] Exemplarisch: Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/Main 1995; Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; 2), Berlin 1996.
[2] Bernd Ulrich: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; 8), Essen 1997, hier 21.
Benedikt Faber