Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 501 S., 34 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-22230-7, EUR 39,90
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Ignaz Lozo hat sich seit 1991 zunächst als Fernsehjournalist, dann aber auch wissenschaftlich mit dem August-Putsch in der Sowjetunion befasst, so dass er mit dem vorliegenden Werk promoviert werden konnte. Er schließt damit eine Forschungslücke, da bisher keine umfassende Monographie über dieses dramatische und folgenreiche Ereignis vorlag. Neben einzelnen Archivdokumenten und veröffentlichtem Material stützt sich Lozo vor allem auf die 1000-seitige Anklageschrift, die ihm von der Witwe eines der Putschisten zugänglich gemacht wurde, auf Interviews mit zahlreichen Akteuren von damals und auf deren Memoiren.
An zahlreichen Stellen der Studie wird deutlich, dass der Autor vor allem Geschichtslegenden, die um den Putschversuch entstanden sind, widerlegen will, so dass er bisweilen sehr kleinteilig einzelne Aussagen nebeneinanderstellt und diese in aller Ausführlichkeit auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt überprüft. Gleichwohl kommt er immer zu klaren, abgewogenen Urteilen, die fast alle nachvollziehbar sind und den Umsturzversuch in ein neues Licht rücken.
Die Darstellung beginnt mit den Hintergründen des Putsches, vor allem aufgrund der Erosion von Gorbatschows Macht im Jahre 1990, die auf die erstarkenden Unabhängigkeitsbewegungen, die Aufgabe des Machtmonopols der KPdSU, die Versorgungsprobleme und die widersprüchliche und konzeptionslose Wirtschaftspolitik zurückgeführt wird. Entscheidende Bedeutung kam dem Kampf gegen seinen Widersacher Boris Jelzin zu, der sich seit Mitte 1990 als Parlamentspräsident auf den russischen Volksdeputiertenkongress stützen konnte. Während dieser im "Krieg der Gesetze" des russischen Teilstaats gegen die UdSSR immer mehr Terrain gewann und schließlich am 12. Juli 1991 vom russischen Volk zu dessen Präsidenten gewählt wurde, verblasste der Stern Gorbatschows zunehmend. Daher richtete sich der Putsch, wie Lozo treffend feststellt, weniger gegen Gorbatschow, der sowohl die Sowjetunion als auch die KPdSU erhalten wollte, als gegen Jelzin.
Die Putschisten wiederum, die Lozo als "Systembewahrer" (48) bezeichnet, hatten ihre Basis im KGB, in der KPdSU, im Militär sowie im "Militärisch-Industriellen Komplex". Ihnen gemeinsam war, dass sie befürchteten, durch eine zu weitgehende Dezentralisierung der Macht in den Republiken ihre Machtbasis zu verlieren. Außerdem waren sie vereint "in der - in ihrem Verständnis - patriotischen Absicht, den Zerfall des Landes aufzuhalten" (382). Die Federführung bei der Planung des Putsches kam dem KGB-Vorsitzenden Wladimir Krjutschkow zu; als weitere Hauptorganisatoren identifiziert Lozo den ZK-Sekretär für Verteidigung Oleg Baklanow sowie den für Parteiorganisation und Kaderfragen zuständigen ZK-Sekretär Oleg Schenin.
Die seit Ende April 1991 laufenden Konsultationen über einen neuen Unionsvertrag zwischen der Zentrale und neun verhandlungsbereiten Republiken erbrachten bis Ende Juli einen Vertragsentwurf, der die Kompetenzen der Republiken erheblich stärkte und der den Verschwörern auch bekannt war. Die Behauptung, dass erst eine diesbezügliche Zeitungsinformation vom 14. August deren Putschvorbereitungen veranlasst habe, ist Lozo zufolge indes nicht zutreffend, da diese spätestens am 5. August begannen. Auslöser war vielmehr die überraschende Vorverlegung der Vertragsunterzeichnung auf den 20. August, die im Fernsehen am 2. August verkündet wurde.
Sehr viel Raum wird der Frage eingeräumt, welche Rolle Gorbatschow selbst vor und während des Putsches spielte. Letztlich war es Gorbatschow selbst, der zahlreiche Putschisten auf die Posten setzte, von denen sie den Umsturz planen konnten. Von besonderer Bedeutung war dabei vor allem seine Personalpolitik seit Ende 1990, als er sich in seiner Auseinandersetzung mit Jelzin immer stärker auf konservative Kräfte stützte und damit "den Putsch im August 1991 erst möglich" machte (116). Außerdem unterschrieb Gorbatschow am 3. April 1990 das Gesetz über den Ausnahmezustand, das dafür gedacht war, dem Auflösungsprozess der Sowjetunion entgegenzuwirken. Gerüchte über dessen Verhängung, Diskussionen Gorbatschows mit den späteren Putschisten über mehrere Varianten des Ausnahmezustands und dessen Anweisung, dafür einen Maßnahmenkatalog auszuarbeiten, bestärkten die Anführer in ihrem Glauben, den Präsidenten im Fall eines Staatsstreichs auf ihre Seite ziehen zu können. Als deren Abordnung Gorbatschow in seinem Feriendomizil in Foros auf der Krim am 18. August aufforderte, einen Erlass zur Sanktionierung des Ausnahmezustands zu unterzeichnen, widersetzte er sich und trug damit zum Scheitern des Putsches bei. Der später erhobene Vorwurf einer Komplizenschaft mit den Verschwörern entbehrt folglich jeder Grundlage.
Die Putschisten verursachten das Scheitern ihres Vorhabens im Wesentlichen durch Fehlkalkulationen, grobe Fehler und Unentschlossenheit. So rechneten sie anfangs nicht nur mit einer Kooperation Gorbatschows, sie bauten auch darauf, den Gegensatz zwischen diesem und Jelzin für ihre Zwecke nutzen zu können. Doch Jelzin entschloss sich - wohl aufgrund des Einflusses des russischen Parlamentspräsidenten Chasbulatow - schon früh zum Einsatz für Gorbatschow und durchkreuzte damit deren Pläne. Während die Putschisten Gorbatschow zwar von der Außenwelt weitgehend abschotteten, versäumten sie es, Jelzin zu isolieren. Dieser konnte sich daher unbehelligt von seiner Datscha zum Weißen Haus nach Moskau begeben und mit der Verlesung seines Aufrufes "An die Bürger Russlands" auf einem Panzer vor dem Parlamentsgebäude die Weltöffentlichkeit für sich einnehmen. Alle Erklärungen der Putschisten, die am selben Tag im Staatsfernsehen verlesen wurden, hatten sehr viel weniger Wirkung. Hinzu kam deren Pressekonferenz am 19. August, mit der sie sich vor aller Welt blamierten. Schließlich waren sie sich über die zentrale Frage der Gewaltanwendung uneinig. Ein Sturm auf das Weiße Haus durch die in Moskau zusammengezogenen Truppen wurde zwar vorbereitet, aber das "Staatliche Komitee für den Ausnahmezustand" traf keine Entscheidung; diese wurde somit auf Verteidigungsminister Dmitri Jasow abgewälzt. Doch auch Jasow erteilte den Befehl nicht. Die drei Todesopfer, die der Putsch forderte - und die nicht auf einen Angriff der Militärs zurückgingen -, veranlassten diesen vielmehr, die Truppen in der Nacht vom 21. auf den 22. August aus Moskau abzuziehen. Daher kann der Autor auch die Erzählung von der Abwehr eines Angriffs auf das Weiße Haus ins Reich der Legende verweisen. Trotz aller Gegensätzlichkeit in den Zielsetzungen des Jelzin-Lagers und der Putschisten konstatiert Lozo ein weiterhin bestehendes, "nicht unbedeutendes Maß an 'Familiarität' zwischen den Angehörigen der politischen Elite, die alle ihre Wurzeln in der KPdSU hatten" (269). Denn nur so ist etwa zu verstehen, dass Jelzin am dritten Putschtag Krjutschkow vorschlug, gemeinsam mit ihm nach Foros zu Gorbatschow zu fliegen.
Genauso ausführlich und gründlich wie der Putsch selbst wird auch dessen Nachgeschichte behandelt. Dazu gehören die Verhaftung der Verschwörer und der Prozess, der aufgrund einer Amnestie für die Putschisten vom Februar 1994 zu keiner Verurteilung führte. Auch das rapide Nachlassen des Interesses an dem Putsch und der nachträgliche Umgang damit in Russland werden thematisiert. Dessen wichtigste Folge war freilich die endgültige Entmachtung Gorbatschows durch den siegreichen Jelzin. Das Scheitern der Systembewahrer wirkte daher "als Katalysator des Untergangs der UdSSR" (394). Während dieser Bewertung uneingeschränkt zuzustimmen ist, handelte es sich bei den nun folgenden, in erstaunlichem Tempo sich vollziehenden Prozesse, anders als Lozo behauptet, wohl nicht um eine "Revolution" (318, 395). Natürlich waren das Ende der KPdSU, die Einführung der Marktwirtschaft und der endgültige Zerfall der Sowjetunion in Einzelrepubliken Vorgänge von welthistorischer Bedeutung. Aber wo waren dabei die Volksmassen, die - gewaltsam oder auch friedlich - diese Änderungen erzwangen? Sehr viel eher lässt sich von einem Zusammenbruch oder einer Implosion sprechen, bei der das Volk sehr viel stärker Objekt als Subjekt des Geschehens war.
Trotz dieser kleinen Einschränkung handelt es sich bei der Studie von Ignaz Lozo um das maßgebliche Werk, auf das jeder zurückgreifen muss, der sich kompetent über den Putsch vom August 1991 und das Ende der Sowjetunion informieren will.
Hermann Wentker