Ignaz Lozo: Gorbatschow. Der Weltveränderer, Stuttgart: Theiss 2021, 400 S., ISBN 978-3-8062-4173-0, EUR 28,00
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Wolfgang Geierhos: Der Große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
William Taubman: Gorbachev. His Life and Times, New York: W.W. Norton & Company 2017
Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Vladislav Zubok: A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2007
William Glenn Gray: Germany's Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany 1949-1969, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2003
Oliver Bange / Bernd Lemke (Hgg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990, München: Oldenbourg 2013
Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen: Wallstein 2012
Nachdem William Taubman 2017 die erste wissenschaftliche Biographie Gorbatschows vorgelegt hat [1], folgt nun, pünktlich zum 90. Geburtstag des letzten sowjetischen Staatsoberhaupts, eine deutsche Lebensbeschreibung von Ignaz Lozo. Der Autor, der mit einer Arbeit zum Putsch gegen Gorbatschow promoviert wurde, ist Fernsehjournalist. Seine Arbeit basiert daher weniger auf bisher unbekannten Archivquellen als auf zahlreichen Interviews sowie auf Memoiren, gedruckten Quellen und der Forschungsliteratur. Er konzentriert sich, wie er einleitend schreibt, "auf den Menschen Gorbatschow" und fragt, "wie sich dieser einst treue Leninist und Kommunist von der Ideologie und vom Block-Denken gelöst hat" (7).
Den Fokus auf den Menschen Gorbatschow zu richten, gelingt Lozo vor allem bei der Schilderung von dessen Leben vor dem Amtsantritt als Generalsekretär 1985. Hier kann er durch die Zuziehung neuer Zeitzeugen einige neue Details zutage fördern. Aber im Großen und Ganzen ändert sich nichts an der bekannten Geschichte vom Aufstieg des Bauernjungen zum Studenten an der Moskauer Lomonossow-Universität. Allerdings macht der Autor darauf aufmerksam, dass Gorbatschow an der Universität "ein 'Hundertprozentiger' und ein höchst aktiver Parteigänger" - also ein überzeugter Anhänger Stalins war (58). Das änderte sich erst mit dem Tauwetter seit 1956 und vor allem mit dem von ihm besuchten XXII. Parteitag von 1961, als Gorbatschow zu einem "aufrechte[n] Anhänger" Chruschtschows wurde (88). Lozo schildert mit viel Einfühlungsvermögen Gorbatschows enge Beziehung zu seiner Frau Raissa und seine Karriere ab 1955 im heimatlichen Stawropol, wo er als Funktionär zunächst des Jugendverbands Komsomol und dann der Partei bis 1970 zum Gebietsparteichef aufstieg.
Gorbatschow wird als ehrgeiziger und fleißiger Funktionär dargestellt, der zusätzlich ein Fernstudium der Landwirtschaft absolvierte, aber letztlich angepasst blieb. Er erkannte zwar Mängel im bestehenden System und nahm Umbesetzungen bei den höheren Parteifunktionären nach fachlichen Kriterien vor. Gleichwohl war er von dem existierenden System überzeugt. Als Indiz dafür gilt Lozo auch dessen Protektion durch KGB-Chef Juri Andropow, der alles andere als ein Reformer, sondern ein Hardliner war. Gleichzeitig habe Gorbatschow vom System profitiert, da er zusammen mit seiner Frau auch Reisen ins westliche Ausland unternehmen durfte.
1978 gelang Gorbatschow, wieder dank der Protektion Andropows, der Sprung nach Moskau, wo er ZK-Sekretär für Landwirtschaft wurde. Wenngleich die Landwirtschaft aufgrund der notorisch schlechten Versorgung der Bevölkerung als Achillesferse der sowjetischen Wirtschaft galt, konnte sich Gorbatschow auf dem Posten halten, nicht zuletzt aufgrund der engen Beziehungen zu den entscheidenden Personen im Politbüro. Als nach dem Tod Breschnews 1982 Andropow dessen Nachfolger wurde, bedeutete dies auch einen Machtzuwachs für Gorbatschow. Andropow suchte einen Ausweg aus dem Afghanistan-Krieg, er kämpfte gegen Korruption und die Verschwendung von Staatseigentum. Als dieser bereits 1984 starb, wurde indes nicht Gorbatschow, sondern der todkranke Konstantin Tschernenko dessen Nachfolger - eine Entscheidung, die Gorbatschow anscheinend mittrug. Nach dem Zeugnis des Kreml-Arztes Jewgeni Tschasow hing das Schicksal Gorbatschows, der befürchtete, verdrängt zu werden, zeitweise an einem seidenen Faden, aber letztlich behielt er seine Stellung als 'zweiter Mann'.
Lozo zeichnet Gorbatschow als überzeugten Leninisten - sowohl vor als auch nach 1985. Dessen wiederholte Bezugnahme auf Lenin war darauf zurückzuführen, dass er zum einen an die Kraft und das Potenzial des Sozialismus glaubte und er zum anderen den Traditionalisten entgegenkommen wollte. Gorbatschow begriff also die Perestroika als Erneuerung und Revitalisierung des sozialistischen Systems, das aus der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus siegreich hervorgehen werde. Dies ist grundsätzlich zutreffend. Dass Gorbatschow aber bis zum Ende seiner Amtszeit dieser Überzeugung treu geblieben sei, widerspricht dessen zitierte Aussage von 2019, der zufolge "die Idee der Sozialdemokratie [für ihn] der Leitstern" gewesen sei (369). Lozo hätte die These, inwiefern und ab wann sich Gorbatschow eher als Sozialdemokrat verstand, etwas intensiver diskutieren müssen [2].
Die Darstellung von Gorbatschows Biographie nach 1985 erfüllt weniger den Anspruch, dem Menschen gerecht zu werden, als der erste Teil. Ohne zu versuchen, auf dessen Gedankenbildung einzugehen, hangelt sich der Autor mehr an den Ereignissen entlang. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der inneren Entwicklung der Sowjetunion; die Außen- und Sicherheitspolitik wird leider etwas zu kursorisch behandelt. Durch die Verkürzung haben sich auch einige Fehler und Unklarheiten eingeschlichen: So war weniger Gorbatschows Konzept eines 'Gemeinsamen Europäischen Hauses' die "politische Grundlage für die Emanzipation der östlichen Bündnisstaaten" (266) als dessen Proklamierung des Prinzips der 'Freiheit der Wahl'. Den Beziehungen zu beiden deutschen Staaten räumt Lozo in dieser vor allem für deutsche Leser geschriebenen Biographie etwas mehr Raum ein - er beginnt sogar mit dem historischen Treffen der sowjetischen Regierung und der Bundesregierung im Kaukasus, folgt hier aber recht unkritisch den Erinnerungen Helmut Kohls. Und den Beginn des Konflikts zwischen Honecker und Gorbatschow datiert er unter Bezugnahme auf eine autobiographische Darstellung von Egon Krenz bereits auf April 1986, was ebenfalls nicht zutrifft.
Die Aktivitäten Gorbatschows in der Innenpolitik werden mit großer Sympathie geschildert, insbesondere dessen vorher undenkbare Suche nach Bürgernähe. Seine Anti-Alkohol-Kampagne verteidigt Lozo als wichtigen Beitrag zur Volksgesundheit. Er lobt dessen Streben, weniger Geld für Rüstung auszugeben, ohne allerdings zu fragen, ob und wann auf diesem Gebiet wirklich Einsparungen erreicht wurden. Auch dass Gorbatschow erst 18 Tage nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit trat, wird nicht als Manko dargestellt - Lozo hebt vielmehr hervor, dass er sich überhaupt zu Wort meldete. 1987 schließlich habe Gorbatschow "einen wahren geistigen Freiheitsrausch im eigenen Land" entfacht (215). Bei all dem verdeutlicht der Autor, dass es Gorbatschow keineswegs von Anfang an um einen grundlegenden politischen Umbau der Sowjetunion, sondern primär um wirtschaftliche Reformen ging, wenngleich etwas unklar bleibt, worin diese eigentlich bestanden.
Als ab 1987 immer klarer wurde, dass es Gorbatschow auch um eine politische Reform des Systems ging, formierten sich die Gegenkräfte. Auf der einen Seite war dies die Gruppierung um Jegor Ligatschow in der Parteiführung, der die Reformen zu weit gingen. Auf der anderen Seite des Spektrums stand der als Radikalreformer apostrophierte Boris Jelzin, den der Autor zu Recht einen "nach Macht strebende[n], populistische[n] und eher unberechenbare[n], erratische[n] Politiker" nennt (237). Schließlich stellten sich die zwangssowjetisierten Völker ab 1988 gegen Gorbatschow, der kein Verständnis für deren Bedürfnisse hatte, da er "wirklich an die 'Völkerfreundschaft' und daran [glaubte], dass er mit neuen Beschlüssen seiner Kommunistischen Partei eine Befriedung erreichen könne" (263). Darüber hinaus verbreitete sich auch Unmut unter einem immer größeren Teil der Bevölkerung gegen Gorbatschow, da sich deren wirtschaftliche Situation zunehmend verschlechterte.
Die politischen Reformen Gorbatschows hingegen gingen 1988/89 immer mehr in Richtung Demokratisierung, allerdings unter Beibehaltung des Einparteiensystems. Lozo führt hier zu Recht die XIX. Parteikonferenz vom Sommer 1988 an, die eine Verfassungsänderung auf den Weg brachte, auf deren Grundlage im Frühjahr 1989 ein Kongress der Volksdeputierten gewählt wurde. Leider erwähnt er nicht die im Herbst 1988 von Gorbatschow vorgenommenen Reformen, mit denen die Kompetenzen der Partei zugunsten des Staates massiv eingeschränkt wurden, so dass er sich seines zentralen Herrschaftsmittels beraubte. Die Eröffnung des Volksdeputiertenkongresses wird zwar zutreffend "als Meilenstein in der Geschichte der Sowjetunion" bezeichnet (356), auch deshalb, weil die Bürger die Debatten live am Fernsehen verfolgen konnten. Da dort vor allem die massiven Probleme der Sowjetunion zur Sprache kamen, stellte er auch - was nicht erwähnt wird - indirekt der seit vier Jahren laufenden Perestroika eine Bankrotterklärung aus.
Insgesamt wurde Gorbatschow daher ab 1988/89 zunehmend zum Getriebenen - insbesondere durch die Nationalitätenkonflikte und die gewaltigen Wirtschaftsprobleme. Nun spitzte sich vor allem der Streit mit Jelzin weiter zu, dem nach seiner zeitweiligen Entmachtung durch Gorbatschow mit Hilfe seines Mandats im Volksdeputiertenkongress ein Comeback gelang. Jelzin profilierte sich zunehmend als dessen wichtigster Herausforderer, fand im russischen Volkskongress seine Machtbasis und trat auf dem XXVIII. KPdSU-Parteitag 1990 demonstrativ aus der Partei aus. Anders als Gorbatschow sprach er sich entschieden für die Marktwirtschaft aus und versprach eine Erhöhung des Lebensstandards binnen zwei Jahren. Die letzte Phase von Gorbatschows Amtszeit war vom Ausbau des auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems, einer Aufgabe des Monopols der KPdSU, von seinem Schwenk nach 'rechts' und der Eskalation in der Auseinandersetzung mit Jelzin geprägt, der sich durch eine Volkswahl in Russland zu legitimieren wusste. Infolge des fehlgeschlagenen Putschversuchs vom August 1991, der sich, so Lozo, faktisch gegen Jelzin richtete, musste Gorbatschow schließlich abtreten. Wenngleich er sich vehement dagegen wehrte, bedeutete sein Ende auch das Ende der Sowjetunion, die sich als nicht reformierbar erwiesen hatte.
Insgesamt fällt das Gesamturteil über Gorbatschow trotz seines Scheiterns positiv aus. Lozo verweist auf die von ihm durchgesetzte zunehmende Teilhabe der Bürger an Entscheidungsprozessen, an die Erfolge in der Außenpolitik, die zum Endes des Kalten Krieges führten, und vor allem an seinen erklärten Gewaltverzicht, mit dem er nicht nur den Menschen in den ehemaligen Satellitenstaaten "die Angst genommen" habe (366). Allerdings habe er verkannt, dass die mit Gewalt und Zwang geschaffene Sowjetunion nicht in seinem Sinne reformierbar gewesen sei. Dabei war er trotz aller Unentschiedenheit in Einzelfragen "von einem ausgeprägten Humanismus [geleitet] und überzeugt, dass dieser die Grundidee des Sozialismus/Kommunismus bildet" (370). Darin ist Lozo sicher zuzustimmen, der eine gut lesbare, wenn auch nicht in jeder Hinsicht befriedigende Biographie vorgelegt hat.
Anmerkungen:
[1] William Taubman: Gorbachev. His Life and Times, New York 2017. Auch auf Deutsch bei C.H. Beck erschienen unter dem Titel: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit, München 2018.
[2] Archie Brown: Did Gorbachev as General Secretary Become a Social Democrat?, in: Europe-Asia Studies 65 (2013), 198-220.
Hermann Wentker