Ludovic Viallet: Les sens de l'observance. Enquête sur les réformes franciscaines entre l'Elbe et l'Oder, de Capistran à Luther (vers 1450 - vers 1520) (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter; Bd. 57), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014, XXIX + 363 S., 9 s/w Ktn., ISBN 978-3-643-12441-8, EUR 49,90
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Die Habilitationsschrift des gegenwärtig an der Universität Blaise Pascal in Clermont-Ferrand lehrenden französischen Historikers Ludovic Viallet handelt von den verschiedenen Reformen innerhalb der sächsischen Provinz des Franziskanerordens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis zu den Anfängen der protestantischen Reformation unter Martin Luther. Wie der etwas enigmatische Titel Les sens de l'observance zum Ausdruck bringt, verwendet der Autor den Begriff 'observance' nicht nur für die Franziskaner 'von der Observanz' (de l'Observance) im engeren Sinn, sondern fasst darunter auch konkurrierende Reformbestrebungen wie etwa die Reform der Colettiner in Burgund und die in der sächsischen Provinz besonders erfolgreiche sogenannte Martinianische Reform. Ihre unterschiedlichen Auffassungen vom Begriff 'Observanz' herauszuarbeiten und die Prozesse zu begreifen, die zu den schweren Konflikten unter den Akteuren und schließlich 1517 zur Spaltung des Ordens führten, ist das eigentliche Ziel dieser Untersuchung. Erste Erfahrungen mit der Thematik hatte Viallet bei seiner Erforschung der Archive der burgundischen Franziskanerprovinz sammeln können. Warum sich nunmehr sein Interesse auf die Kustodien Goldberg und Breslau in den historischen Landschaften der Oberlausitz und Schlesiens richtete, begründet er mit der guten Quellenlage sowohl der Konvente als auch der sie aufnehmenden Städte und Landesherrschaften.
In fünf Hauptkapiteln nähert sich Viallet gleichsam in konzentrischen Kreisen seinem Untersuchungsgegenstand. Im ersten Kapitel ("Cain et Abel - Vieux terreau franciscain et novae plantationes") verfolgt er die äußere Entwicklung des Franziskanerordens im Gebiet zwischen Elbe und Oder von den Anfängen im 13. Jahrhundert bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Handelsstädte entlang der Via Regia von Bautzen über Görlitz nach Breslau (Wrocław) im heutigen Polen bildeten den Rahmen für die Ansiedlung der Minoriten. Die Mehrzahl der Konvente wurde erst im 14. Jahrhundert gegründet, viele von ihnen wurden in den Hussitenkriegen zerstört und mussten nach 1430 wieder neu errichtet werden. Zu diesem Zeitpunkt setzten auch die ersten Reformversuche in der Sächsischen Provinz ein. In den Kustodien Goldberg und Breslau kam es dann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einer "doppelten Reformdynamik". Deren Träger waren einerseits der italienische Observant Johannes Capistranus († 1456), der im Jahre 1443 zum vicarius generalis cismontanus der Observanten ernannt worden war und diese Gebiete für die Observanz sub vicariis in der neuen polnischen, später böhmischen Provinz zu gewinnen suchte, andererseits der sächsischen Provinzial Matthias Döring († 1469), der sich als Verfechter der von Papst Martin V. 1430 approbierten 'Martinianischen Konstitutionen' diesem Ansinnen mit Entschiedenheit widersetzte. Unter den Nachfolgern der beiden Kontrahenten verschärfte sich der Konflikt und wurde weiter angeheizt durch den politischen Gegensatz zwischen der die Martinianer unterstützenden Ratsherrschaft in den Städten und den politischen Absichten der auf Seiten der Observanz stehenden böhmischen Krone. Unter diesen Voraussetzungen, so das Fazit des Autors, wurde eine Vereinigung, wie sie der Orden und die Kurie 1510/1511 befürworteten, unmöglich.
Im zweiten Kapitel ("Diversitas vitae - Au nom de l'intentio de François") geht Viallet nun den tieferen Gründen für dieses Zerwürfnis nach. Er befragt dazu die Texte der wichtigsten Vertreter der beiden Parteien hinsichtlich ihres franziskanischen Selbstverständnisses. Ausgangspunkt sind die 'Martinianischen Konstitutionen' von 1430, an denen Capistran selber mitgewirkt hatte, denen er jedoch bereits 1443 neue und sehr viel strengere Konstitutionen für das von Eugen IV. errichtete Vikariat über die observanten Konvente diesseits der Alpen zur Seite stellte. Waren die Konstitutionen von 1430 noch von der Koexistenz verschiedener Möglichkeiten franziskanischen Lebens ausgegangen, so standen sich nun die Anhänger einer strikten Regelauslegung unter der Obedienz eines eigenen Vikars und diejenigen einer moderaten Reform bei Wahrung der Ordenseinheit unversöhnlich gegenüber. Viallet unterzieht die Konstitutionen wie auch die Kommentare dazu einer genauen Analyse, wobei er durch neue Handschriftenfunde das Bild der älteren Forschung teilweise erheblich zu korrigieren und zu erweitern vermag. Besonders interessant sind seine Untersuchungen zum Kommentar von Nikolaus Lakmann († 1479), Professor an der Universität Erfurt und Nachfolger von Matthias Döring im Amt des sächsischen Provinzials. Auch der von Michael Bihl edierte Tractatus contra Observantes des Provinzials der Kölnischen Provinz, Heinrich von Werl († 1463), wird von Viallet nochmals anhand der handschriftlichen Überlieferung überprüft und analysiert. Werl gehörte neben Matthias Döring, dessen Schriften bereits in einer Studie von Petra Weigel vorgestellt wurden [1], zu den entschiedensten Gegnern Capistrans. Beide verband die Sorge um die Einheit des Ordens, außerdem lehnten sie die rigorosen Armutsvorschriften der Observanten als heuchlerisch ab.
Im dritten Kapitel ("Putabunt vos angelos - la pastorale de la conquête") lenkt Viallet nun den Blick auf die Seelsorgetätigkeit der beiden Reformrichtungen. Eine reiche Quelle bieten dazu die Berichte zu den verschiedenen Predigtreisen Capistrans in den Jahren 1451-1456. Sie ergeben für Viallet übereinstimmend den Eindruck einer bewussten Inszenierung des Sakralen, die sich stark an der Person des 1450 heilig gesprochenen Bernardin von Siena († 1444) ausrichtete und hauptsächlich der Verbreitung seines Kultes diente. Insgesamt zeichnet der Autor kein günstiges Bild von Capistran. Insbesondere weist er auf die problematische Verbindung zwischen Capistrans Eucharistiefrömmigkeit und dessen aktiver Beteiligung an den Judenverfolgungen in Breslau hin. Die auf äußere Zeichen wie das Christusmonogramm Bernardins setzende Seelsorge entsprach nicht mehr der neuen, verinnerlichten Frömmigkeit der Devotio moderna und war in ihrem Anspruch, das engelgleiche Leben der Mönche zu führen, nicht mehr zeitgemäß. Hingegen waren Viallet zufolge die von Capistran geförderten Gebetsbruderschaften zweifellos ein sehr erfolgreiches Mittel, um die Bürger in den Städten für die Ziele der Observanz zu gewinnen.
Im vierten Kapitel ("Hoc est claustrum nostrum- le poids de la tutelle urbaine") wird dann die 'Innensicht' der zerstrittenen Parteien mit der Realität der städtischen Kirchenherrschaft konfrontiert. Und hier zeigt sich, dass die Anhänger einer gemäßigten Reform dem am Gemeinen Nutzen der Stadt ausgerichteten Handeln der städtischen Eliten weit eher entsprachen als die Observanten sub vicariis. Viallet vermag aufzuzeigen, wie unterschiedlich der aristotelische Begriff des Gemeinwohls von beiden Reformrichtungen aufgefasst wurde. So entwickelte Capistran in seinen Predigten die Vision einer hierarchisch gegliederten Gemeinschaft, bei der jeder an dem ihm zugewiesenen Platz seinen Beitrag zu Gesamtwohl zu leisten hatte. Die Martinianer hingegen plädierten in Übereinstimmung mit den Zielen der Kommunen vielmehr für eine Politik des Ausgleichs der Interessen. Sie waren deshalb bereit, das Armutsgebot des Ordens so auszulegen, dass es dem allgemeinen Wohl diente. Sie akzeptierten die Finanzkontrolle des städtischen Rates und ließen zu, dass der Rat über das Amt der Prokuratoren und später auch des visitator regiminis, der an Stelle des Kustos die Aufsicht über die reformierten Konvente führte, Einfluss auf die Konvente nehmen konnte. Viallet schließt daraus, dass die Kommunen die Martinianer weniger der Reformziele wegen unterstützten als aufgrund der gezeigten Bereitschaft zur Kooperation. Dazu gehörte auch die Erwartung, dass die Brüder mit ihrem Seelsorgeangebot die Bedürfnisse der Stadtbevölkerung zu erfüllen bereit waren.
Diesem Thema ist das fünfte und letzte Kapitel gewidmet ("Corpus mysticum? - Prière des laïcs et prière des frères à Görlitz, ou l'éphémère triomphe de la voie moyenne"). Im Zentrum steht hier die Praxis der memoria, die bereits im zweiten Kapitel zur Sprache kam. Untersucht wird zu diesem Zweck das Stiftungsverhalten der Bürgerschaft in Görlitz und Breslau. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch den verschiedenen Erscheinungsformen des Dritten Ordens in dieser Region. Was letzteren anbelangt, so ist die Quellenlage so schlecht, dass keine verlässlichen Aussagen über dessen Entwicklung im 15. Jahrhundert möglich zu sein scheinen. Eine Besonderheit bildeten in Görlitz und Breslau die prebendarii/ae. Bei ihnen handelt es sich um eine unter der Drittordensregel lebende Kategorie bedürftiger Frauen und Männer, die offenbar die Nachfolge der Beginen und Begarden angetreten hatten. In welcher Weise sie den Franziskanern verbunden waren, ob sie für die Brüder Almosen sammelten oder im Totendienst tätig waren, geht aber aus den vorsichtigen Schlüssen des Autors nicht hervor. Seit die Franziskaner in Görlitz unter der Leitung eines visitator regiminis eine strengere Reform anstrebten, war ihnen die Entgegennahme fester Einkünfte in Form von Renten untersagt. Damit änderte sich laut Viallet auch der Charakter der Memoria. Da Jahrzeitstiftungen nicht mehr möglich waren, traten an die Stelle der individuellen Heilsvorsorge vermehrt neue Formen kollektiver Fürbitte, die ebenfalls von der Stadt unterstützt und kontrolliert wurden. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Unterscheidung von Stiftung und Schenkung zu. So durften die Bürger bei den Franziskanern zwar keine Stiftung mehr errichten, aber sie konnten sich mit einer Schenkung die Teilhabe am Gebet der Brüder sichern. Entscheidend war laut Viallet wiederum nicht die Frage, ob mit dieser Praxis das Armutsgebot der Franziskaner verletzt wurde, sondern ob die Spenden an das Kloster dem Gemeinwohl dienten. Am Ende seiner Untersuchung angelangt, zieht der Autor eine ernüchternde Bilanz: In Wirklichkeit bestimmte die städtische Kirchenherrschaft über die Reform und ordnete sie dem Gemeinen Nutzen unter. Sie gab den Franziskanern den notwendigen Rückhalt gegenüber den Ordensoberen, konnte ihnen aber auch mit der gleichen Begründung die Unterstützung versagen, was in Görlitz nach Ausbruch der Reformation auch sofort der Fall war und das Ende des Franziskanerkonvents einleitete.
Wer sich etwas näher mit der städtischen Kirchenherrschaft befasst hat, wird dieser These zweifellos zustimmen und vielleicht noch ergänzend hinzufügen, dass sie auch in Städten, deren Bettelordenskonvente nicht der Reform unterstellt wurden, ihre Gültigkeit hat. Der Schlüssel zum Verständnis der spätmittelalterlichen Observanzbewegungen liegt nicht so sehr bei den Orden selber als bei den politischen und sozio-ökonomischen Verhältnissen ihrer städtischen Umwelt und der sie unterstützenden Landesherrschaften.
Viallet hat mit seiner gründlichen und perspektivenreichen Fallstudie zweifellos das Bewusstsein für diese Zusammenhänge geschärft und die Erforschung der franziskanischen Reformen um ein weiteres spannendes Kapitel bereichert.
Anmerkung:
[1] Petra Weigel: Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427-1461) (Jenaer Beiträge zur Geschichte; 7), Frankfurt a. Main u.a. 2001.
Martina Wehrli-Johns