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Hans-Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 570 S., 71 Abb., ISBN 978-3-412-22262-8, EUR 29,90
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Rezension von:
Michael Gehler
Stiftung Universität Hildesheim
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Michael Gehler: Rezension von: Hans-Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 3 [15.03.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/03/25813.html


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Hans-Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint

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Hans-Gert Pöttering war in Spitzenstellungen des Europäischen Parlaments tätig: als Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) in den Jahren von 1999 bis 2007, als dessen Präsident von Januar 2007 bis Juli 2009 sowie als Präsident der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung (EMPA) von März 2008 bis März 2009. Beginnt man mit der Lektüre seiner umfangreichen Autobiographie, liest man sich schnell fest.

Pöttering ist nicht nur glühender Europäer, sondern auch überzeugter Atlantiker, Antikommunist durch und durch, Konrad Adenauers Erbe ganz verpflichtet. Als christlicher Demokrat und tiefgläubiger Katholik stand er eng an der Seite des deutschen Bundeskanzlers und des "Ehrenbürger Europas" Helmut Kohl, für den Visionäre als "die wahren Realisten" galten - ganz im Sinne des Autors. Von diesen fest gefügten Standpunkten ausgehend sind Pötterings Erinnerungen verfasst. Sein Vater Wilhelm Pöttering galt als Gefreiter der Deutschen Wehrmacht im Osten bis weit in die 1950er Jahre als vermisst, bis er letztlich amtlich für tot erklärt werden musste. Der Vaterverlust war bestimmend für den am 15. September 1945 in Bersenbrück geborenen Hans-Gert, die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 durch die Warschauer Pakt-Staaten prägte sich tief ein. Die 1961 errichtete Mauer in Berlin schmerzte besonders, führte sie doch plastisch vor Augen, dass Adenauers Politik der Westintegration entgegen den Erwartungen seiner Anhänger nicht zur deutschen Einheit geführt, sondern in einer deutschlandpolitischen Sackgasse geendet hatte. Diese Erfahrungen und Erlebnisse führten zu frühem politischen Engagement, so in der Jungen Union und im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). In der Schule tat sich Pöttering mitunter schwer, er schaffte aber 1966 letztlich doch das Abitur am Artland-Gymnasium in Quakenbrück. Es folgte der zweijährige Wehrdienst, sodann das Rechtsstudium in Bonn, Genf und Lausanne sowie eine Karriere in der CDU (Kreisvorstand Osnabrück sowie wissenschaftlicher Angestellter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion). Das intensive Politikerleben mit den zunehmenden europäischen Verpflichtungen forderte seinen Tribut. Pöttering lässt in seinen authentisch wirkenden und offenherzigen Erinnerungen nicht unerwähnt, dass für ihn und die beiden Söhne eine schwere Zeit anbrach, nachdem seine Frau ihn - nicht zuletzt aufgrund seiner häufigen Absenzen von zu Hause - verlassen hatte.

Die folgenden Kapitel liefern viele wichtige Aufschlüsse über die Entstehung und Entwicklung des europäischen Parlamentarismus. Die Erinnerungen bieten zahlreiche unbekannte Einblicke in das Innenleben des mit einem nationalen Parlament wie dem Deutschen Bundestag nicht vergleichbaren Europäischen Parlaments (EP). Abstimmungsergebnisse, Auszüge aus Reden, Beschlussanträge und Resolutionen sind zu finden, gepaart mit persönlichen Erlebnissen, politischen Bekenntnissen und Forderungen - vieles ist sehr detailreich ausgeführt und genauestens belegt, wodurch sich diese Autobiographie phasenweise wie ein Dokumentationswerk liest. Willy Brandts europäisches Engagement weiß Pöttering rückblickend mehr zu würdigen als noch zu seiner Zeit als "junger Heißsporn" (74), dessen Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal deutet Pöttering als "christliche Geste" (75). Seine Erzählungen und Schilderungen führen plastisch vor Augen, wie seit der EP-Direktwahl jenseits der ideologischen und parteipolitischen Grenzen europäische Milieus entstanden und sich die Mandatare trotz aller Unterschiedlichkeit zunehmend wie in einer großen europäischen Familie fühlen konnten.

Pöttering verdeutlicht, dass Fragen der Sicherheit und Abrüstung frühzeitig Themen des EP wurden. Zuweilen ermüdet die Lektüre etwas durch die zahlreichen Anerkennungsbekundungen für Mitstreiter und Weggefährten. Manchmal wird etwas zu viel gelobt. So mutet es unnötig beschönigend an, wenn man im Zusammenhang mit der deutschen Einheit Großbritannien und Frankreich "zu großem Dank verpflichtet" (122) sei, weiß man doch längst, dass der sphinxartige Mitterrand sehr zögerte, während die germanophobe Thatcher ganz offen gegen die Vereinigung auftrat. Zweifelhaft erscheint auch, ob sich Italiens Botschafter Luigi Vittorio Ferraris so "über die Einheit unseres Vaterlandes freute", wie Pöttering es darstellt, war doch Ferraris ein großer Bewunderer der überschaubaren Bonner Republik. Vor deutschlandpolitische Alternativen gestellt, erweist sich der Autor als alternativlos argumentierender getreuer Gefolgsmann Kohls: Die Neutralität eines geeinten Deutschlands wäre im Unterschied zu einem in der NATO integrierten Gesamtdeutschland "das Ende der Europäischen Einigung gewesen" (125) - was allerdings nicht beweisbar ist. So oder so ist das gewachsene und vereinte Deutschland heute neuerlich à la Ludwig Dehio wieder in einer halbhegemonialen Position angelangt - zwar nicht mehr militärisch und geo-politisch wie unter Bismarck und Wilhelm II., aber monetär und geo-ökonomisch unter Merkel und somit eine nicht minder große Herausforderung für die übrigen EU-Mitgliedsstaaten und den europäischen Einigungsgedanken. Die Frage Neutralität oder NATO im Jahre 1990 war letztlich eine Abwägungsfrage, bei der es um die besseren Kontrollmöglichkeiten des neuen gewachsenen deutschen Potentials ging.

Die Darstellung Pötterings verdeutlicht, dass der Maastricht-Vertrag den institutionellen Durchbruch für das EP bedeutete. Während die Verträge von Amsterdam und Nizza keine großen integrationspolitischen Fortschritte mit sich brachten, gab es solche bei der Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des EP. Strittige Themen wie die bilateralen Sanktionsmaßnahmen der EU-14-Staaten gegen die schwarz-blaue Regierung in Österreich, die Bolkestein-Richtlinie für die Dienstleistungsfreiheit oder die Zurückweisung einzelner Kommissarsvorschläge für die Kommission Barroso sind aus der Perspektive Pötterings prägnant geschildert. Die "Ost-Erweiterung" der EU - ganz wesentlich von deutscher Seite forciert - brachte nicht nur erhebliche Veränderungen für das EP, sondern auch eine intensivierte Reisediplomatie Pötterings durch die Beitrittsländer mit sich. Schmerzhaft empfand er das Ausscheiden der Tories aus der gemeinsamen Parlamentsfraktion der EVP im Jahre 2009, womit auch schon das Fernbleiben der Briten vom Fiskalpakt (2012) und der Bankenunion (2014) vorgezeichnet schien. Die knapp zweieinhalbjährige EP-Präsidentschaft Pötterings nimmt einen großen Teil des Werks ein - für Pöttering "Führungsauftrag und Alltagsarbeit". Wichtige Stationen waren der Kompromiss beim Europäischen Rat am 8./9. März 2007 in Brüssel, das Eintreten für den Erhalt des "Verfassungsvertrags" sowie Berichte aus dem Innenleben des EP wie Disziplinarmaßnahmen und Reformschritte (strukturiertes Plenum, Rechenschaftspflicht und Rechtssetzung, verbesserte Ausschussarbeiten, interinstitutionelle Beziehungen sowie Abgeordneten- und Assistentenstatut).

Was bleibt von der Präsidentschaft Pötterings? In jedem Fall das nur kurz und eher am Rande erwähnte, ja von ihm ganz wesentlich aus der Taufe gehobene und durchgesetzte Projekt "Haus der Europäischen Geschichte", das dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn nachempfunden wurde. Entschieden war Pötterings Eintreten gegen eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, deren Ministerpräsidenten Erdoğan er alle protokollarischen Ehren in Brüssel erwies, nichtsdestotrotz aber seine persönliche Auffassung klarmachte, dass ein türkischer Beitritt von der EU nicht zu verkraften wäre. Die weitere Entwicklung scheint alles andere als dagegen zu sprechen.

Anmerkungsapparat und Personenregister beschließen das Werk. Sieht man von manch persönlichen Bewertungen und politischen Beurteilungen ab, die man nicht immer teilen muss, so beeindruckt das aufrichtig gehaltene und konsequent vorgetragene europäische Bewusstsein dieses Mannes, der die Fehlleistungen und Unzulänglichkeiten der EU-Integration nicht verschweigt, gleichwohl aber das Einigungsprojekt als bleibende Zukunftsaufgabe insgesamt in sehr positivem Lichte erscheinen lässt. Pötterings Autobiographie ist mehr als ein Erinnerungswerk. Es ist ein gewichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der Entstehung und Entwicklung des europäischen Parlamentarismus wie eine Geschichte einer seiner bestimmenden und tragenden Fraktionen: der Parlamentsfraktion der EVP. Wer sich mit beiden Materien weiter befassen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Michael Gehler