Hein Hoebink (Hg.): Europa um 1900/Europa um 2000, Düsseldorf: düsseldorf university press 2015, 335 S., ISBN 978-3-95758-004-7, EUR 39,80
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Der anzuzeigende Band bietet vergleichende europäische Integrations- und Zeitgeschichte par excellence durch ideen-, ökonomie-, technik-, unternehmens-, polizeigeschichtliche und historiographische Zugänge. Wenn auch der recht systematisch angelegte Vergleich 1900/2000 nicht näher begründet wird (die Jahre 1914/2014 hätten sich theoretisch ebenso angeboten), werden verdienstvoll Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Der Fokus der Beiträge ist westeuropäisch-transatlantisch, während die Mitte, der Osten und der Südosten Europas außen vor bleiben. Die gleich eingangs genannte These des Herausgebers lautet: "Die Geschichte der EU ist vorrangig nicht die Geschichte ihrer Institutionalisierung und ebenso nicht die Geschichte ihrer Institutionen und deren politischer und administrativer Arbeit, sondern die Geschichte historisch entwickelter, grenzüberschreitender Verflechtungen ihrer Mitgliedstaaten und deren institutionalisierte, politisch gewollte, gestützte und ausgebaute sowie rechtlich verbindlich geregelte Handhabung durch nationale und dazu speziell eingerichtete europäische Instanzen" (37). Diese Grundaussage soll durch die Beiträge des Werks erhärtet werden. Gehen wir sie der Reihe nach durch.
Horst A. Wessel befasst sich im Zeichen europäischer Kooperation mit Industrie-Kartellen der Elektrotechnik sowie der Eisen- und Stahlbranche vor 1945 (39-88), die die Bildung und Organisation unternehmerischer Marktordnungen ermöglichten. Grenzüberschreitender Wettbewerb verlieh den Kartellen zwar europäisches Profil, Bündnisse in Europa wurden aber nicht geschlossen. Nationale Veranstaltungen dominierten, sodass ein europäisches Bewusstsein nicht aufkam.
Susanne Hilger fragt in ihrem Beitrag über grenzüberschreitende Kooperationen nach 1945 (89-105), ob Unternehmen und Fusionen großer Konzerne Wegbereiter der Integration waren. Ergebnis: Erst in den 1980er Jahren entwickelten sich genuin europäische Unternehmen bei bleibenden Unterschieden in den Überzeugungen. Der Markt war europäisch geworden, die Unternehmen aber waren national geblieben.
Heinz-Dieter Smeets und Anita Schmid befassen sich mit dem europäischen Außenhandel zwischen europäischer Integration und globaler Entwicklung (107-128). Der regionale Warenaustausch war in keiner Region der Welt so dicht wie in Europa. 70 Prozent des Warenhandels europäischer Länder erfolgte nach 1945 in Europa. Erst wurden die Binnen-, dann die Außenzölle abgebaut, sodann die nicht-tarifären Handelshemmnisse. Das wurde durch die institutionalisierte Zollunion der EWG verstärkt ab 1968 möglich. Der globale Außenhandel wurde über den Weg der europäischen Integration gefördert. Trotz intensivierten Handelsverkehrs und Wirtschaftsaustauschs hielten sich zivilgesellschaftlich-grenzüberschreitende Transfers jedoch in Grenzen.
Mathias Mutz befasst sich mit "Energieströmen" in Europa um 1900 und 2000 (129-160). Das "Europa der Kohle" erreichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Höchststand, das der Elektrizität (mit Wurzeln im 19. Jahrhundert) zog in den 1950er Jahren nach. Der Anstieg der Energiekonsumenten förderte den grenzüberschreitenden Austausch, der eine Institutionen-Bildung nach sich zog. Die Stromverteilung in Europa förderte die Integration, besonders begünstigt aber erst durch die Liberalisierung der EU der 1990er Jahre. Dabei dominierte der Wettbewerb, der seinerseits zur Europäisierung der Infrastrukturen beitrug. Energie wurde zum Probefall der Zusammenarbeit und zur Basis integrierter Märkte.
Christian Henrich Franke zeigt (161-177), dass die um 1900 bestehenden Formen von Verkehr und Telekommunikation konkurrenzlose Monopole waren, während um 2000 ein Wettbewerb existierte, der Kooperationen nicht mehr ausschloss. Grenzübergreifende Standards waren von Anfang an erforderlich, die um 2000 weitgehend vereinheitlicht waren. Von einer integrierten Verkehrspolitik Europas kann aber bis ins 21. Jahrhundert kaum die Rede sein.
Guido Thiemeyer vergleicht die nationale Währungspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, wobei er die Lateinische Münzunion der europäischen Währungsintegration gegenüberstellt (179-218). Beide wurden von Märkten angestoßen und geprägt. Nach 1945 war es vor allem der Güteraustausch, der die währungspolitische Integration förderte. Treibendes Motiv seit den 1970er Jahren war weit weniger die Beförderung des grenzübergreifenden Zahlungsverkehrs, sondern das Bestreben, den gestiegenen Stellenwert der DM zu relativieren. Der Lateinischen Münzunion mit der Dominanz Frankreichs folgte die Währungsunion mit deutscher Dominanz. Im Zeichen der "Eurokrise" stellt sich jedoch die Frage , wie lange und ob überhaupt die Einheitswährung Integrationseffekte bewirkt, solange eine gemeinsame Wirtschaftspolitik fehlt.
Alexander Proelß beleuchtet aus rechtswissenschaftlicher Perspektive das Europa des Völkerrechts vor 1914 bzw. das supranationale Recht der EU (201-218). Dessen Konvergenz ist hinsichtlich der erreichten Dichte und Tiefe beispiellos, aber nicht originär, sondern von den Mitgliedstaaten abgeleitet. Das mindert jedoch nicht ihren institutionell bedingten herausragenden integrativen Wert.
Hein Hoebink widmet sich grenzüberschreitender Verbrechensbekämpfung mit Blick auf die deutsch-niederländische Grenze (219-253). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK) in Wien und die nachfolgende International Criminal Police Organization (Interpol) in Lyon können als Vorreiter von Europol in Den Haag gesehen werden. Das Abkommen von Schengen 1985 beförderte das Europäische Polizeiamt, doch im Lichte jüngster Terrorismus-Bekämpfungsversuche wurde deutlich, dass gerade einmal ein Fünftel der EU-Mitgliedsländer sicherheitspolizeilich relevante Daten Europol zur Verfügung stellt. Im Zeichen der Flüchtlingsströme zeigte sich die Fragilität des Schengen-Systems, als nationale Alleingänge gemeinsame Grenzkontrollregelungen konterkarierten.
Armin Heinen beschäftigt sich mit der "Europäisierung der Lebenswelten" und der "Entnationalisierung der deutschen Geschichtsschreibung" (255-276). Dominierte um 1900 eine nationale Historiographie, durchbrochen von transnationalen Elementen, so existierte um 2000 eine ausdifferenzierte Geschichtsschreibung, die den nationalen Rahmen aufgeweicht und "Europa" als zentrales Interpretationsmuster gefunden hat. Diese Wende in Richtung Europäisierung war laut Heinen auch eine Folge der Erosion des Sozialismus im Osten und der Globalisierung. Wie weit jedoch die deutsche Geschichtswissenschaft tatsächlich europäisiert bzw. auf europäische Geschichte und ihre Integration ausgerichtet ist, kann an der sehr bescheidenen Zahl der Jean-Monnet-Lehrstühle an deutschen Universitäten abgelesen werden.
Christoph Cornelißen vergleicht die Beschäftigung der Intellektuellen und Wissenschaftler mit Europa an beiden Jahrhundertwenden (277-293). Bei der ersten spielte sich die Europa-Debatte "in national abgeschlossenen Diskursräumen" ab, sodass eine transnationale Dimension nicht vorhanden war. Breiter und vielstimmiger verlief die Auseinandersetzung um 2000, wobei laut Cornelißen der Referenzpunkt EU - also wieder der Faktor Institution - als stimulierender Faktor einen Verstärkereffekt hatte.
Kiran Klaus Patel wendet sich zuletzt den transatlantischen Beziehungen (295-311) zu, wobei "Migration" und "Handel" höchste Relevanz besaßen. Während Migration tendenziell rückläufig war, nahm der Handel weiter zu. Die Verflechtung intensivierte sich durch wechselseitige Investitionen. Patel macht Hoch- (1980/90er Jahre) und Krisenzeiten (Ende 1970er, Anfang 1980er und zu Beginn des 21. Jahrhunderts) der transatlantischen Beziehungen fest. Wie weit der Ausgang der TTIP-Verhandlungen diesen "ups and downs" zuzuordnen ist, muss noch offen bleiben.
Fazit: Zuzustimmen ist dem Herausgeber, dass die EU "kein fertiges Haus", sondern eine "Baustelle" (37) ist, dessen Fundament allerdings seit dem 19. Jahrhundert "nach und nach gewachsene Verflechtungen" aufweist. Fragwürdig bleibt jedoch die eingangs genannte Generalthese, die durch die Beiträge nur zum Teil gestützt wird. Gewiss waren die genannten Vorarbeiten und Voraussetzungen für die europäische Integration nach 1945 förderlich, wie die gesteigerte Industrialisierung, die fortschreitende Modernisierung, die zunehmende Rationalisierung und der grenzüberschreitende Verkehr. Doch reichen binneneuropäische Annäherungen und Entwicklungen allein als Erklärungsmuster nicht aus, um die europäische Integration zu erklären. Neben inneren Erfordernissen und Zwängen waren es auch stets Anstöße von außen (wie der Marshall-Plan), Katalysatoren (wie die Dekolonisierung oder der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems) und nicht zuletzt die internationale Notwendigkeit zur Beherrschung der deutschen Frage, das heißt die europäische Bewältigung der Dominanz Deutschlands. Beim Integrationsbeginn waren exogene Einflüsse (USA, Kalter Krieg) umgehend mit Institutionenbildungen (OEEC, COCOM, EAC, EZU, NATO, EGKS) verbunden. (Chrono-)Logisch gab es zwar ein Prius schon vorhandener Verbindungen, Verflechtungen und Vernetzungen, die jedoch ohne alsbald folgende Bildung dauerhafter Gemeinschaftsinstitutionen schwerlich nachhaltige Integrationseffekte nach sich gezogen hätten. Das scheint die Geschichte der EU zu sein. Im zweiten Teil der Generalthese wird zudem deutlich, dass eben eine "institutionalisierte, politisch gewollte, gestützte und ausgebaute sowie rechtlich verbindlich geregelte Handhabung durch nationale und dazu speziell eingerichtete europäische Instanzen" unumgänglich wurde, die die eigentliche Geschichte der Integration schreiben sollte und auch mehr bewirkte als nur Kooperation, nämlich Vergemeinschaftung.
Die erheblichen Fortschritte der Integration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind unverkennbar (Rechts-, Wirtschafts- und Währungsraum). Das korrespondierte mit einer Zunahme der Akteure, Institutionen und Entscheidungsträger und ermöglichte damit gesteigerte Impulsgebungen, die allesamt erst die Dauerhaftigkeit und Intensivierung von Integration sicherstellten. Dabei wird deutlich, dass der Wille zur Komplexitätsbewältigung und -organisation der grenzüberschreitenden Kooperation eng mit Institutionenbildung verkoppelt war. Insgesamt zeigt der Band, dass die engere grenzräumige Zusammenarbeit in der Regel nicht ausreichte, um zu weiterreichenden und tiefergehenden Integrationsformen zu gelangen. Über eine überschaubare grenzüberschreitende Zusammenarbeit hinaus ergaben sich als Aufgaben und Herausforderungen weit mehr Institutionalisierungs-, Internationalisierungs- und Europäisierungsnotwendigkeiten, um über die engere kern- und kleineuropäische Dimension ausgreifen zu können.
Michael Gehler