Maddalena Guiotto / Helmut Wohnout (Hgg.): Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali (= Schriftenreihe des Österreichischen Historischen Instituts in Rom; Bd. 2), Wien: Böhlau 2018, 517 S., 3 Tbl., ISBN 978-3-205-20269-1, EUR 55,00
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Mit einer kompakten zweisprachigen Einführung macht Mitherausgeberin Maddalena Guiotto umsichtig auf die wesentlichen Erträge der zweisprachigen Aufsätze dieses Sammelwerks aufmerksam. Dabei wird deutlich, dass die Doppeljahre 1918/19, 1928/29, 1933/34 und 1938/39 als Wende- und Zäsurjahre eines Beziehungsgeflechts zweier unähnlicher Nachbarn zu begreifen sind.
Im ersten Kapitel "Der mitteleuropäische Kontext" demonstriert Andreas Gémes, dass mit Frankreichs Tardieu-Plan von 1932 für eine Donaukonföderation, benannt nach dem Ministerpräsidenten, die Debatte über die Struktur Mitteleuropas gleichzeitig einen Höhe- und Endpunkt erreichte. Sein Scheitern beendete eine Phase, in der im Zeichen des grassierenden Revisionismus der Pariser Nachkriegsordnung noch Hoffnung auf Kooperation im Donauraum bestand. Die in Folge geschlossenen Römer-Protokolle zwischen Österreich, Italien und Ungarn (1934) waren kein mitteleuropäisches Integrationsprojekt mehr, sondern handelspolitisch gegen die Kleine Entente (Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien) gerichtet.
Giorgio Petracchi zeigt auf, dass Hitlers Aufstieg Mussolini zu einer revisionistischen Wende bestärkte, indem er Ungarn unterstützte, das zwar für Österreichs Selbstständigkeit eintrat, aber nicht auf eine antideutsche Karte setzte.
Gianluca Volpi behandelt Italiens Politik im Donauraum aus der Perspektive von Budapest und legt nahe, dass von einer natürlichen Interessengemeinschaft keine Rede war. Der "Duce" erblickte in Ungarn nur ein Instrument zur Abwehr der Kleinen Entente wie auch ein Mittel zur Zurückdrängung Jugoslawiens. Budapest sah im gemeinsamen Vorgehen mit Rom eine Chance für seine Revisionsziele. Österreich und Ungarn als natürliche Partner Italiens im Donauraum zu definieren, legte einen grundsätzlichen Widerspruch der faschistischen Außenpolitik offen, nämlich zeitgleich Status quo-Bewahrung einerseits und Revisionismus andererseits realisieren zu wollen.
Luciano Monzali arbeitet heraus, dass bereits 1926 aufgrund der Albanienfrage Spannungen zwischen Belgrad und Rom bestanden. Belgrad suchte folglich die Annäherung an Paris, was in Rom Befürchtungen entstehen ließ, Jugoslawien könne als Frankreichs verlängerter strategischer Arm gegen Italien im Westbalkan wirken. Diese Auffassung erhärtete sich unter faschistischen Politikern, die mit dem Separatismus der Kroaten nicht nur sympathisierten, sondern ihn auch unterstützten. Bereits im November 1937 zeichnete sich ab, dass der "Duce" nicht mehr bereit war, Österreichs Unabhängigkeit zu schützen. Der "Anschluss" im März 1938 wurde jedoch eine schwere politische Niederlage für ihn, zumal er den wachsenden deutschen Einfluss in der auch von ihm beanspruchten Sphäre am Balkan und im Donauraum fürchten musste. Das Ende der Tschechoslowakei 1939 bildete den Schlussstein der deutschen Vormachtstellung in Mitteleuropa und machte eine bestimmende Rolle Italiens in diesem Raum zunichte.
Roms Politik in Bezug auf Österreich und Polen 1938/39 nimmt Valerio Perna in den Blick. Infolge zunehmender deutscher Pressionen auf Polen schwächten sich zwischen Januar und August 1939 die an sich aufgeschlossenen Beziehungen Roms zu Warschau ab. Rom warf nun Polen eine verantwortungslose Haltung mit der Ablehnung der deutschen Vorschläge in der Danzig- und der Korridor-Frage vor. Mussolini geriet selbst zunehmend unter deutschen Druck und war besorgt, nicht mehr wie 1938 beim Münchner Abkommen einen drohenden bewaffneten Konflikt verhindern zu können.
Im zweiten Kapitel "Das Dreiecksverhältnis Italien-Österreich-Deutschland" beleuchtet Joachim Scholtyseck aus deutscher Perspektive das Mächteszenario im Sinne "brutaler Freundschaften". Angesichts von Völkerbundsanktionen, aber deutscher Unterstützung bei seinem Abessinien-Krieg gab Mussolini Vorbehalte gegen Hitler auf. Der sah Mussolinis "Mare nostro"-Politik als traditionelles römisches Anliegen, solange er selbst freie Hand in Österreich und für den wirtschaftlich zu beherrschenden Donauraum erhielt. Österreichs Stellung war dadurch bereits 1936 "fragil". Jörg Zedlers Beitrag fokussiert Bayern und dessen Haltung zu Österreich und Italien. Trotz Sympathien für den Faschismus unterstützte München den Widerstand gegen dessen Italienisierungspolitik in Südtirol. Man rechnete mit über den Brenner hinausreichenden Territorialansprüchen Italiens auf Nordtirol. Für einen solchen, 1926 konkret befürchteten Fall signalisierte Bayern, militärisch zu intervenieren, auch wenn es offiziell von der Sache nichts zu wissen vorgab. Wie Federico Scarano zeigt, reichte aus Sicht Hitlers wie Mussolinis die Vorgeschichte der Umsiedlung der Südtiroler 1939 bis in die 1920er Jahre zurück, auch wenn sich die Entscheidung dazu erst Ende der 1930er Jahre herausschälte. Um Mussolini für die Einverleibung Österreichs durch NS-Deutschland Genugtuung zu verschaffen, bot sich aus Sicht des Auswärtigen Amts in Berlin das Südtirol-Problem als Kompensation an. Hitlers Rombesuch im Mai 1938 beschleunigte diese Entwicklung. Die 1939 beschlossene Umsiedlung sollte ab 1940 anlaufen, aber nur ein Teilerfolg für die "Achsen"-Partner werden.
Im Kapitel "Im Spiegel der vatikanischen Diplomatie" widmet sich Andreas Gottsmann der päpstlichen Diplomatie im Dienste des katholischen Österreich. Dem Kampf gegen den Bolschewismus wurden alle anderen Ziele untergeordnet, autoritär-konservative Tendenzen in der Alpenrepublik gefördert sowie die als für den Austromarxismus anfällig geltende Demokratie negativ bewertet. Der Vatikan trug damit zur innenpolitischen Radikalisierung und Verstärkung außenpolitischer Differenzen bei. Ein unabhängiges und demokratisches Österreich war, so Gottsmann, nicht sein Ziel. Der "Anschluss" wurde kaum mehr bedauert, weil man auf das Finis Austriae schon eingestellt war. Österreichs katholische Kirche wurde vom Vatikan im Stich gelassen; so erstaunt es nicht, dass sich 1938 ihre Spitzenvertreter mit Hitler zu verständigen suchten. Zwar wurde diese Pro-Anschluss-Haltung vom Heiligen Stuhl scharf kritisiert, doch lehnte der zuvor eine Annäherung Österreichs an die kulturkämpferische Tschechoslowakei ab.
Dem päpstlichen Verhältnis zu Prag widmet sich Emilia Hrabovec. Der Papst agierte zugunsten der katholisch geprägten Revisionsmächte und deren Pläne für eine Donaukonföderation. Als sich diese Projekte zerschlugen, drängte er früh auf eine engere Kooperation Österreichs mit dem faschistischen Italien und dem autoritär regierten Ungarn.
Lothar Höbelt befasst sich mit Italiens weitreichenden Einflussnahmen auf die paramilitärische Heimwehrbewegung in Österreich (1928-1934), die sich trotz divergenter Strömungen tendenziell in eine anti-deutsche und pro-österreichische Richtung drängen ließ. Deutlich wird dabei Budapests wichtige Rolle bei der Herstellung von Kontakten zwischen dem "Duce" und der von Adels- und Offizierskreisen getragenen Heimwehr. Die Spannungen zwischen Rom und Belgrad nahmen zu, als Italien in Österreich die Heimwehr unterstützte und deren Eintritt in die Regierung Dollfuß förderte.
In einem umfangreichen Beitrag zeichnet Helmut Wohnout Italiens Rolle bei Österreichs politischem Systemwechsel 1933/34 nach, wobei er die internationale Faschismusforschung einbezieht. Die Kooperation zwischen Rom und Wien verstärkte sich nach Hitlers Regierungsübernahme, wodurch sich der Handlungsspielraum von Dollfuß gegenüber Mussolini sukzessive einschränkte. Wohnout markiert damit den Zusammenhang zwischen dem beseitigten Parlamentarismus im Deutschen Reich und der autoritären Kursänderung in Österreich. Nach dem NS-Putsch und dem Mord an Dollfuß am 25. Juli 1934 nahm Mussolini keinen Einfluss auf dessen Nachfolge. Mit Schuschnigg schien er einverstanden. Dies hatte Konsequenzen für die Heimwehrbewegung als innenpolitischem Faktor: Deren Zenit war überschritten, als es nach 1934 keine starke italienische Rückendeckung mehr gab.
In einem ganz anders gelagerten Beitrag untersucht Renate Lunzer den Transfer österreichischer Kultur durch Intellektuelle der Venezia Giulia. Die wichtigsten Vermittler waren nationale Irredentisten und liberal-demokratische Repräsentanten, die einst auf die Auflösung der Habsburgermonarchie hingewirkt hatten, aber gleichwohl ihre intellektuelle und kulturelle Sozialisation dem Donaureich verdankten. Lunzers Artikel versteht sich als Anfang für weitere kulturgeschichtliche Transferforschungen, wobei die italienische Literatur in Österreich und ihre Rezeption noch zu beleuchten wären.
Im letzten Buchteil zu den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen befasst sich Pasquale Cuomo mit Italien und Österreich (1919-1934). Obwohl Rom mit Wien und Prag Vereinbarungen getroffen hatte, um Triest als Zentrale der wechselseitigen Handelseinrichtungen und seinen Hafen als Schifffahrtsverkehrsknotenpunkt auszugestalten, machte sich schon in den 1920er Jahren die deutsche Konkurrenz bemerkbar. Weil ein angemessener Wiederaufbau des Hinterlands ausblieb, war der julischen Hauptstadt kein weiterer Aufschwung mehr beschieden. Moderne deutsche Eisenbahnen transportierten größere Warenmengen schneller und günstiger. Cuomo begreift den Fall Triest als Indikator für die Strukturschwäche italienischer ökonomischer Durchdringungsversuche im Balkan und Donaubecken, was sich Ende der 1920er Jahre mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise manifestierte. Zuletzt widmet sich Gertrude Enderle-Burcel italienischen Kapitalbeteiligungen in Österreich von Kriegsende bis zum "Anschluss" 1938. Ein verstärkter italienischer Kapitaleinsatz in der unmittelbaren Nachkriegszeit versandete bald. Österreichs Regierung und Öffentlichkeit waren nach 1918 italienischen Investitionsinteressen gegenüber nicht so aufgeschlossen wie deutschem Kapital. In den 1930er Jahren bewegte sich italienisches Kapital zunehmend in Konkurrenz zu deutschen Interessen in Österreich.
Insgesamt verdeutlicht der Band, dass Italien, Österreich und das Deutsche Reich als verspätete Nationalstaaten einem geeinten Mitteleuropa fernblieben, ja mehr oder weniger stark zur Desintegration, Destabilisierung und Revision der Nachkriegsordnung Europas beitrugen. Guiottos und Wohnouts Buch liefert wesentliche Bausteine für ein quellengestütztes, vertieftes Verständnis der Krisenhaftigkeit dieses mitteleuropäischen Dreiecksverhältnisses. Es bietet wertvolle Erkenntnisse über die Abwehr von Gefahren und die Bewältigung von Herausforderungen wie Bilateralisierung, Paramilitarismus, Rechtsextremismus und Populismus. Das Werk versteht es, über das zwischenstaatliche Verhältnis hinaus andere Länder miteinzubeziehen. Es ist insofern Ausdruck mitteleuropäischer Interdependenz im Zeichen der Zusammenführung verschiedener Historiographien und liefert eine ausgezeichnete Grundlage für weitere Detail- und Spezialstudien, v. a. im Bereich von Handels-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte.
Michael Gehler