Richard J.B. Bosworth: Claretta. Mussolini's Last Lover, New Haven / London: Yale University Press 2017, VIII + 312 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-21427-7, USD 28,00
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Der oberste Archivar Italiens wusste es schon 1950. Als Emilio Re mit der Durchsicht und Prüfung des Nachlasses der letzten Geliebten des "Duce" befasst war, hatte er keinen Zweifel: "Die wirklichen und wichtigsten Tagebücher Mussolinis sind die der Petacci". Trotzdem sind die Briefe, Tagebücher und sonstigen Aufzeichnungen von Claretta Petacci aus den Jahren 1932 bis 1945 unbeachtet geblieben. Die Historiker rümpften auch dann noch die Nase, als 2009 und 2011 die ersten Tagebuchbände erschienen, die - trotz haarsträubender editorischer Mängel namentlich des ersten Bandes - als Sensationen gelten mussten [1]. Die Liaison der hysterischen Kurtisane mit dem sexsüchtigen Protz, so lauteten die meisten Instantverdikte, brauche die seriöse Forschung nicht zu interessieren, die Tagebücher ebenso wenig.
Das hat sich mittlerweile geändert. Kein Geringerer als R.J.B. Bosworth, einer der international profiliertesten Mussolini- und Faschismusexperten, hat über Claretta Petacci eine umfassende Biografie geschrieben und darin auch den Wert ihres Nachlasses nachdrücklich betont: "No historian of the regime can now fail to consult the diaries." Was in den Tagebüchern steckt, führt Bosworth dem Leser in seiner nuancenreichen Studie überzeugend vor Augen. Er stützt sich dabei nicht nur auf die beiden bereits publizierten Tagebuchbände, sondern auch auf den dritten für die Jahre 1941 bis 1945, den Mimmo Franzinelli vorbereitet, aber aus "mysteriösen Gründen" bisher nicht veröffentlicht hat; dazu kommen andere, im Archivio Centrale dello Stato in Rom verwahrte Aufzeichnungen und Briefe, die Clarettas Angehörige anscheinend in großer Zahl an den "Duce" gerichtet haben. Die Forschungen Wolfgang Schieders über den "Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce" sind Bosworth leider ebenso unbekannt wie Mussolinis Audienzlisten, die Amedeo Osti Guerrazzi im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts erarbeitet hat; sie hätten ihn auf die Fährte weiterer Geliebter Mussolinis geführt, die ihm, wie auch vielen anderen Historikern, entgangen sind.
Im Wesentlichen bestätigt Bosworth das differenzierte Bild, das sich bereits aus den ersten Tagebuchbänden gewinnen ließ. Mussolini hatte Claretta Petacci, die 1912 geborene Tochter eines eng mit dem Vatikan verbundenen Arztes, 1932 kennengelernt. Die junge Frau vergötterte den "Duce" und ließ auch nach ihrer Heirat mit einem Marineoffizier nicht von ihrem Schwarm, dem Diktator, ab; die Farce der groß inszenierten Hochzeit diente ohnehin nur der Fassade, die im Sommer 1936 bereits nach zwei Jahren wieder zerfiel, als Claretta das Bett mit Mussolini zu teilen begann. Danach blieben die beiden bis zum Tod am Comer See durch eine "Liebesgeschichte der besonderen Art" verbunden. Sie waren einander verfallen, trennten und versöhnten sich zahlreiche Male und quälten sich namentlich in den letzten Jahren mit ihrer ständigen Eifersucht bis aufs Blut, wobei er ihr ungleich häufiger Anlass zur Klage gab als sie ihm. Claretta war es schließlich auch, die ihrem "Ben" folgte, als dieser im April 1945 das Ende seiner Restherrschaft nahen sah und sich aus Salò nach Mailand davonmachte, ohne sich von ihr persönlich zu verabschieden. Man sieht sich in Mailand oder auch nicht, so lautete die letzte, eher desinteressierte Briefbotschaft Mussolinis für seine Mätresse, die auch diese Demütigung ertrug. Sie werde, so schrieb sie ihrer Schwester, die "größtmögliche Schönheit ihrer Hingabe" nicht durch eine "feige Geste" zerstören und sich nie von Mussolini trennen lassen.
Politik spielte im Liebes- und Eifersuchtsstress, den sich Mussolini und Claretta mit obsessiver Leidenschaft über Jahre bereiteten, keine geringe Rolle. Der "Duce" erzählte und sie schrieb, wie ein getreuer Eckermann, auf, was er zu sagen hatte: über Hitler und die Deutschen, die Engländer und Franzosen, über seine ebenso unfähigen wie nichtsnutzigen Landsleute und immer wieder über die Juden, die er mit schauerlichen rassistischen Invektiven überzog - und der Vernichtung preisgeben wollte. Claretta Petacci - und das wird bei Bosworth noch klarer, als es bisher schon war - beschränkte sich dabei nicht auf die Rolle der Ohrenzeugin und Chronistin. Sie mischte kräftig mit, versuchte, den Mussolini-Clan von den Schalthebeln der Macht zu verdrängen, und spielte sich zunehmend häufiger (und nicht ungeschickt) als Vertraute und Ratgeberin des nicht selten von schweren Depressionen geplagten Diktators auf. Sie packte ihn bei seinem Stolz, erinnerte ihn an seine Mission für Italien und ließ ihn nicht im Unklaren darüber, was sie im Umgang mit Partisanen und den Verrätern und Hasenfüßen in den eigenen Reihen von ihm erwartete: Härte, unnachsichtige Härte. Claretta Petacci war kein junges, dummes Ding, wie man oft und oft lesen kann, sondern eine glühende Faschistin, eine überzeugte Befürworterin der "Achse Berlin - Rom" und eine in der Wolle gefärbte Rassistin, die Mussolinis Radikalität mitunter sogar noch übertraf.
So konfliktreich und innig die Beziehung zwischen dem "Duce" und seiner Geliebten war, sie hatte auch eine andere Seite, die Bosworth nicht verschweigt. Es ging Claretta Petacci nie nur um große Gefühle und große Politik. Mussolinis "last lover" verfolgte von Beginn an auch handfeste materielle Interessen, die sich unschwer auf einen Nenner bringen lassen: Ihr Vater und ihre Geschwister sollten mit Hilfe des "Duce" Karriere machen, die Petaccis zu einer der ersten Familien Italiens aufsteigen. Einen Hehl machte sie daraus ebenso wenig wie ihre Mutter und ihre Schwester, die Mussolini in langen Episteln mit fast schon brutaler Offenheit daran erinnerten, dass und was er liefern musste.
Clarettas Biografie wird hier zu einer Familiengeschichte der Petaccis, die Bosworth geschickt mit der Geschichte zweier weiterer Familien verknüpft - mit der Parallel- und Konkurrenzgeschichte von Mussolinis eigentlicher Familie und der Geschichte seiner Nebenfrauen und deren Sprösslingen, soweit sie vom "Duce" abstammten; schließlich hatte er fünf eheliche Kinder mit seiner Gemahlin Rachele und wahrscheinlich neun uneheliche mit acht Frauen, die alle auf ihre Rechte pochten und versorgt werden wollten. Wie groß der "Harem" des faschistischen Diktators wirklich war, ist schwer zu sagen. Drei, vier oder fünf Verflossene, die Mussolini schon seit Jahrzehnten kannte, tauchten auch in Salò noch regelmäßig auf - sehr zum Leidwesen von Claretta, die sich als Mussolinis "prima donna" fühlte und entsprechend heftig auf seine Seitensprünge reagierte. Sexuelle Gier und alte Gewohnheiten scheinen den mit Hormovin - einem einschlägigen Medikament aus deutscher Produktion - gedopten "Duce" zu diesen Treffen bewogen zu haben, aber nicht nur: Er hing auch an den meisten seiner unehelichen Kinder und kümmerte sich bis zuletzt um sie.
Ob diese Anhänglichkeit dem gängigen Bild Mussolinis als zügelloser sexueller Freibeuter widerspricht, mag dahingestellt bleiben. Bosworth meldet leise Zweifel an Mussolinis überschießenden Trieben an, vertieft das Thema aber nicht, weil Quellen fehlen und nur der mutmaßliche Holzweg der Spekulationen offenbliebe. Aus ähnlichen Gründen versagt er es sich auch, das Märchen von Claretta als englische Spionin und die tausend Legenden aufzugreifen, die sich um den Tod von "Ben" und "Clara" ranken. Bosworth hält sich an die Fakten, verlässt diese kluge Linie aber ausgerechnet in der Schlussbetrachtung, wo er - ganz ohne Not - zu analytischen Höhenflügen ansetzt, die neue Erkenntnisse über Mussolini und den Faschismus suggerieren, in ihrer raunenden Überspanntheit aber nur Verwirrung stiften und den positiven Gesamteindruck des Buches trüben. Muss man in einer Petacci-Biografie Mussolini wirklich mit ein paar Sätzen von Hitler und Stalin absetzen und ihn zugleich in die Nähe von Churchill rücken? Was beabsichtigt Bosworth mit dem letzten Satz des Buches, die Geschichte der Petaccis zeige, "what life was like in the first avowedly 'totalitarian', yet decidedly Italian dictatorship"? Kann eine italienische Diktatur per se nicht totalitär sein? Oder steckt hinter diesen Worten nur der fromme Wunsch eines Italienliebhabers, der vor den eigenen bitteren Einsichten am Ende doch am liebsten die Augen verschließt? Alles halb so wild, weil italienisch?
Anmerkung:
[1] Hans Woller: Die Tagebücher von Claretta Petacci (1932-1940) (Rezension), in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: http://www.sehepunkte.de/2011/10/20292.html
Hans Woller