Judith Evans Grubbs / Tim Parkin (eds.): The Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World (= Oxford Handbooks in Classic and Ancient History), Oxford: Oxford University Press 2013, XXIII + 690 S., 68 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-978154-6, GBP 100,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lucy Audley-Miller / Beate Dignas (eds.): Wandering Myths. Transcultural Uses of Myth in the Ancient World, Berlin: De Gruyter 2018
Peter Siewert / Luciana Aigner-Foresti (Hgg.): Föderalismus in der griechischen und römischen Antike, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Debra Hawhee: Bodily Arts. Rhetoric and Athletics in Ancient Greece, Austin: University of Texas Press 2004
Das empfehlenswerte Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World spiegelt das verstärkte jüngere Interesse an der Erforschung der Kindheit wider. [1] Erfreulicherweise wird inzwischen auch in der klassischen Altertumswissenschaft die Erforschung der Kindheit (besser von unterschiedlichen Kindheiten) in der griechisch-römischen Mittelmeeroikumene und ihren Randgebieten mit interdisziplinärer Methodik als ein legitimer und eigenständiger Forschungsbereich anerkannt, nachdem bereits seit längerer Zeit die Thematik des Alters und der Alten in antiken Gesellschaften intensiv erforscht wird. Das neue Handbuch verabschiedet sich zu Recht von der veralteten und verkürzenden Ansicht, in der griechisch-römischen Antike sei die Kindheit lediglich als eine damals viel früher als in modernen Industriegesellschaften endende und quasi 'defizitäre' Vorphase des entscheidend wichtigen Lebens als Erwachsener betrachtet worden. Keineswegs rein mechanistisch klar durch eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren definiert, umfasst der antike Begriff der Kindheit eine breite Palette von Bedeutungsnuancen und erweist sich als ein flexibles und entwicklungsoffenes soziales und kulturelles Konstrukt.
Der umfangreiche (690 Seiten), mit zahlreichen gut ausgewählten Abbildungen illustrierte Band bietet 30 Einzelstudien in sechs thematisch akzentuierten Teilen, die von einer methodisch und forschungsgeschichtlich wertvollen Einleitung (Evans Grubbs und Parkin) und einem abschließenden Geleitwort von Bradley eingerahmt werden, das zentrale Themen der Einzelbeiträge erneut aufgreift und interessante künftige Felder der Erforschung der Kindheit skizziert. Im Rahmen dieser kurzen Besprechung kann ich nicht auf alle durchweg lesenswerten Einzelbeiträge dieser summa zum aktuellen Stand der Forschung eingehen. [2] Hilfreich ist ein ausführlicher Index, der die Fülle der erwähnten Personen, Orte und Sachthemen kaum widerspiegeln kann. Nachfolgend möchte ich einige Vorzüge des Handbuches aufzeigen, methodische und konzeptionelle Gemeinsamkeiten vieler Beiträge hervorheben und Fragestellungen erwähnen, die in mehreren Studien auf Basis sehr verschiedenen Quellenmaterials verfolgt werden. Lobend hervorheben möchte ich den weiten chronologischen Rahmen des Bandes vom spätgeometrisch-archaischen Griechenland bis zum 6. Jahrhundert n.Chr., sowie auch den Akzent auf die spätantike Epoche, während sich ältere grundlegende Studien zum Thema der Kindheit in der Antike primär auf Athen und das klassisch-hellenistische Griechenland und die italisch-römische Welt von der Republik bis in die hohe Kaiserzeit konzentriert hatten. [3] Der vorliegende Band geht u.a. in mehreren Beiträgen der Frage nach, wie stark und wie genau die Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion im römischen Reich die Einstellung zu Kindern und der Kindheit in bestimmten sozialen Milieus gegenüber älteren paganen Konzepten verändert hat. Diese Frage ist ja auch für Historiker der nachantiken Epochen von Interesse, und das Problem wurde z.B. in jüngerer Zeit auch auf dem Gebiet der Erforschung der antiken Sklaverei mit Gewinn erörtert. Methodisch ergeben sich interessante Vergleichsmöglichkeiten dadurch, dass im vorliegenden Handbuch über Rom und Griechenland hinaus der Raum der Untersuchungen auch auf die östliche Mittelmeerwelt und Ägypten ausgeweitet wurde. Je nach ihren Fragestellungen werten die Autoren des Bandes neben literarischen Quellen aus unterschiedlichsten Gattungen (inklusive bisher noch zu wenig ausgewerteter, aufschlussreicher medizinischer, juristischer oder theologischer Texte) insbesondere teils in breiten Leserkreisen noch weniger gut bekannte papyrologische, epigrafische und archäologische Quellenkomplexe aus.
In Teil I findet der Leser Studien zu den Themen Schwangerschaft, Geburt, Kindesaussetzung, zu behinderten Kindern und ersten Ansätzen einer antiken Kinderheilkunde. Teil II behandelt Kinder und Kindheit im archaischen und klassischen Griechenland, wegen der Quellenlage mit einem verständlichen Schwerpunkt auf Athen. Teil III widmet sich Kindern und Kindheit im antiken Rom mit Beiträgen zu Kindern im Epos, der typisch römischen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen ritterlicher und senatorischer Familien und der gänzlich anderen typischen Kindheit von Sklaven- und Unterschichtenkindern, aber auch zu antikem Spielzeug oder der Stellung von Kindern im römischen Recht. Der Teil IV bietet Studien zur praktischen Erziehung und theoretischen Bildungskonzepten der antiken Welt, erneut mit einem Schwerpunkt auf Athen (ephebeia, philosophische Konzepte) und Sparta (agoge), aber auch einem hochinteressanten Beitrag zur Frage der Schreib- und Lesefähigkeiten antiker Griechinnen. Teil V weitet den Blick aus auf Adoptionspraktiken, familiäre Strategien, Erziehungskonzepte und Auffassungen zu Kindern und Kindheit in Babylon und Mesopotamien, Ägypten und im antiken Judentum. Der letzte Teil VI führt in die spätantike Welt des christlich werdenden römischen Kaiserreiches. Er stellt u.a. teils radikale christliche Gegenentwürfe zum älteren paganen antiken Denken über Kinder und Kindheit vor, belegt aber auch wichtige Kontinuitätslinien und die Grenzen des christlichen Einflusses.
Spezialisten zu einzelnen Themengebieten werden in den pointiert formulierten Thesen einiger Studien reichen Stoff für intensive Diskussionen finden. Meines Erachtens verdient dieses nützliche Handbuch Anerkennung als aktuelles Grundlagenwerk und Ausgangspunkt für künftige Forschungen zu den doch erstaunlich unterschiedlichen Kindheiten, Lebensverhältnissen und sozialen Rollen von Kindern in der antiken Welt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. aus jüngerer Zeit Mary Harlow / Ray Laurence (eds.): A Cultural History of Childhood and Family, Vol. 1: Antiquity, Oxford 2010 (repr. London 2014); Beryl Rawson (ed.): A Companion to Families in the Greek and Roman Worlds, Malden, MA 2011; Paula S. Fass (ed.): The Routledge History of Childhood in the Western World, London 2013, und die sehr umfangreiche, als pdf-file downloadbare Internetpublikation von Ville Vuolanto / Reidar Aasgaard / Camilla Christensen / Camilla Roll: Children in the Ancient World and the Early Middle Ages. A Bibliography for Scholars and Students (Eight Century BC - Eight Century AD), 20146, http://www.hf.uio.no/ifikk/forskning/prosjekter/barndom/bibliography.pdf, eingesehen 24.03.2015.
[2] Für eine Übersicht über alle Beiträge siehe www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780199781546.001.0001/oxfordhb-9780199781546, eingesehen 24.03.2015.
[3] Vgl. z.B. als drei 'Klassiker' Jean-Pierre Néraudau: Être enfant à Rome, Paris 1984 (20082); Mark Golden: Children and Childhood in Classical Athens, Baltimore, MD 1990, oder Beryl Rawson: Children and Childhood in Roman Italy, Oxford 2003 (repr. 2009).
Johannes Engels