Wolfgang Kruse (Hg.): Andere Modernen. Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs (= Bd. 54), Bielefeld: transcript 2015, 282 S., einige Abb., ISBN 978-3-8376-2626-1, EUR 34,99
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Wolfgang Kruse bezeichnet den von ihm herausgegebenen Sammelband als "Dokumentation eines Experiments" (7). Dieser ist geleitet von der Frage, ob die Begriffe Moderne und Modernisierung "strukturell verallgemeinert und so universalhistorisch anwendbar gemacht werden" können (9), und diese Frage wird durchgespielt in Beiträgen, die vom Föderalismus im klassischen Griechenland über mittelalterliche Weltveränderungsanstrengungen bis hin zu Vorstellungen von direkter Demokratie in der Französischen Revolution reichen und auch zeitgeschichtliche Themen von der "Dritten Welt" bis hin zur Sowjetunion und der DDR behandeln.
Seit der Blütezeit der Modernisierungstheorien in den 1950er und 1960er Jahren, als eine idealisierte westliche Modernisierung zum Königsweg stilisiert wurde, der alle anderen Nationen möglichst genau folgen sollten, hat sich viel geändert. Bruno Latour etwa hat angezweifelt, ob der Westen jemals modern gewesen sei [1], der Modernisierungstheoretiker Shmuel N. Eisenstadt spricht von "multiple modernities" [2], und gegen eine eurozentrische Sicht von Modernisierung haben Autoren wie Lisa Rofel, Dilip P. Goankar oder Vincent Houen und Mona Schrempf die Bedeutung von anderen nicht-europäischen Modernen hervorgehoben. [3] In der deutschen Geschichtswissenschaft hat darüber hinaus gerade die Debatte, ob der Nationalsozialismus modern oder antimodern gewesen sei, zu einer gewissen Sensibilisierung gegenüber der Vielfalt und der moralischen Ambivalenz moderner Gesellschaften geführt. Die Erkenntnis hat sich weithin durchgesetzt, dass es nicht möglich ist, von einer Moderne zu sprechen, und dass modern nicht einfach mit "gut" gleichgesetzt werden kann. Dies wird auch in dem hier zu besprechenden Sammelband überzeugend bestätigt, vor allem in den Beiträgen von Vincent Houben zu Nederlandsch-Indië und von Stefan Plaggenborg zur Sowjetunion. Dass diese und andere Modernisierungen allerdings als "gescheitert" klassifiziert werden können, wie es der Herausgeber des Sammelbands tut, erscheint mir abwegig. Wie könnte bezweifelt werden, dass die Sowjetunion oder Länder der "Dritten Welt" bei allen Schwierigkeiten, die die Geschichte und Gegenwart dieser Länder aufweisen mögen, in einer Form der Moderne angekommen sind?
Der Herausgeber verzichtet in der Einleitung darauf, Moderne und Modernisierung zu definieren, was bei der Vielfalt der Beiträge wohl auch kaum möglich gewesen wäre. Dennoch stellt sich die ganz praktische Frage, in welchem Maße man den Moderne-Begriff erweitern kann - worüber offensichtlich auch unter den Autoren und Autorinnen des Bandes keine Einigkeit herrscht. Mich überzeugt es, für alle Gesellschaften, die integraler Teil der globalisierten Gegenwart geworden sind, anzunehmen, dass sie einen Prozess der Modernisierung durchlaufen haben und Teil der Moderne geworden sind. Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, modernisierende Gesellschaften in ihrer Gesamtheit zu betrachten und dabei nicht solche Aspekte von vorneherein als "antimodern" zu konturieren und damit von der Analyse auszuklammern, die in ein aufklärerisch-humanes Bild der Moderne nicht zu passen scheinen - sei es nun der Spiritismus in den 1880er Jahren, wie er in diesem Band von Eva Ochs behandelt wird, oder der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Denn all diese Phänomene waren modern in dem Sinne, dass sie im Rahmen eines modernen Umfelds existierten, von dem sie beeinflusst waren und das sie beeinflussten.
Für den Rezensenten zerfließt die Definition von Moderne jedoch, wenn der Begriff von der neuzeitlichen Geschichte losgelöst wird, um ihn "für die Untersuchung grundlegender historischer Wandlungsprozesse und die Entstehung neuartiger Verhältnisse generell nutzbar machen und auf historische Beispiele aus allen Epochen und Räumen der Weltgeschichte anwenden zu können" (7). Ist es tatsächlich erkenntnisfördernd, die Entstehung eines Föderalismus im Klassischen Griechenland als "Modernisierungsprozess" zu verstehen, weil die Zeitgenossen die ungewöhnliche Neuartigkeit dieser politischen Verfassung erkannten und weil diese "Parallelen zur Europäischen Union aufweist" (21), wie Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer in seinem Beitrag argumentiert? Hier wird meines Erachtens etwas aus seinem geschichtlichen Kontext herausgerissen, weil es heutigen Vorstellungen ähnlich zu sein scheint. Damit verbindet sich die Gefahr, wieder in ein normativ überfrachtetes Konzept von Moderne zurückzurutschen. Wäre der griechische Föderalismus nicht mehr "modern", wenn der Föderalismus der EU scheitern sollte? Und wenn keine normative Wertung getroffen werden soll, kann man dann nicht mit gleichem Recht argumentieren, dass eine zentralere politische Organisation wie die des Römischen Reiches moderner war, weil sie machtpolitisch über Griechenland triumphierte? Und wenn in der Französischen Revolution politische Parteien abgelehnt wurden, weil der Bürger als Individuum abstimmen sollte, ist dies wirklich, wie Wolfgang Kruse meint, einerseits nicht modern, weil sich eine Entwicklung hin zur Parteiendemokratie in modernen Staaten nicht aufhalten ließ, aber doch auch wieder zu Teilen modern, weil heute im Kampf gegen die Macht der organisierten Interessen womöglich Elemente der direkten Demokratie "auf modifizierte Weise wieder aufgegriffen und nutzbar gemacht werden" können (88)? Dies sind extreme Beispiele, die der eigentlichen Qualität der Beiträge nicht gerecht werden, aber sie exemplifizieren das Problem, Elemente unabhängig vom historischen Kontext als modern zu bezeichnen, nur weil sie inhaltliche Parallelitäten zu modernen Gesellschaften aufweisen. Sinnvoller erscheint es, nur das als modern zu bezeichnen, was Teil des Prozesses ist, der zur Moderne hinführt oder Teil der modernen Welt ist (wozu etwa auch solche Aspekte von Demokratisierung gehören, die später marginalisiert wurden).
Trotz dieser kritischen Einwände ist festzuhalten, dass der Sammelband durchaus von Nutzen ist. Die Beiträge sind durchgängig von hoher Qualität. Auch wenn die Verbindung zum Gesamtthema nicht in allen Fällen deutlich wird bzw. manchmal etwas gesucht wirkt, präsentiert der Sammelband eine beeindruckende Breite verschiedener Modernen.
Anmerkungen:
[1] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Oldenbourg 1995.
[2) Shmuel Eisenstadt (ed.): Multiple Modernities, New Brunswick NJ 2002.
[3] Lisa Rofel: Other Modernities. Gendered Yearnings in China after Socialism, Berkeley u.a. 1999; Dilip P. Goankar (ed.): Alternative Modernities, Durham 2001; Vincent Houben / Mona Schrempf (eds.): Figurations of Modernity. Global and Local Representations in Comparative Perspective, Frankfurt /M. 2008.
Thomas Rohkrämer