Rezension über:

Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien. Bd. 1: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493-1648. Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1648-1806. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Mit einem Vorwort von Axel Gotthard, Mainz: Philipp von Zabern 2014, 2 Bde., 1680 S., 2 Karten, ISBN 978-3-8053-4825-6, EUR 129,00
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Rezension von:
Wilhelm Ribhegge
Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Ribhegge: Rezension von: Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien. Bd. 1: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493-1648. Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1648-1806. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Mit einem Vorwort von Axel Gotthard, Mainz: Philipp von Zabern 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26228.html


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1648-1848. Das Alte Reich und die Frankfurter Nationalversammlung

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Die neuzeitliche Geschichte des Alten Reichs von 1500 bis zu dessen Auflösung 1806, stellt Joachim Whaley in der Einleitung zu seinem Werk fest, sei von deutschen Historikern des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts "als eine Epoche des Niedergangs und Verfalls" begriffen worden. In dieser traditionellen Lesart habe das Reich, vor allem in den eineinhalb Jahrhunderten nach dem Westfälischen Frieden, nur noch als eine "mottenzerfressene Hülle, korrupt und todgeweiht" weiterexistiert. Es sei ein "Hohngebilde des einst starken mittelalterlichen Reichs mit seiner universellen Mission" (I, 21) gewesen.

Die radikale Revision, die nach 1945 an der deutschen Geschichte vollzogen wurde, habe dann dazu geführt, dass der Begriff "Reich" gänzlich aus dem politischen Vokabular der Deutschen gestrichen wurde. Da die deutsche Geschichtsforschung seit Beginn des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich politisch sei, habe sie auch die Vorstellungen über die historische Identität der Deutschen beeinflusst. Das ist der Ansatz des zweibändigen Werks des Cambridger Historikers Whaley, das einen Umfang von 1680 Seiten hat. Es erschien in deutscher Sprache im Herbst 2014, das englische Original 2012. [1] Die Bereitschaft zur Überprüfung bisheriger Geschichtsbilder zur deutschen Geschichte von 1500 bis 1800 prägt das gesamte Buch. Dabei kann sich Whaley auf Vorarbeiten der "jungen" Zunft der Frühneuzeithistoriker der letzten dreißig Jahre stützen. Sein vordringliches Ziel ist, "die einschlägige Literatur Studenten und jenen Gelehrten, die keine Spezialisten auf diesem Gebiet sind, näherzubringen" (I, 30).

Bei seinen Forschungen zur Geschichte des Reichs kam Whaley zu dem Schluss, dass das Reich in den letzten 300 Jahren seiner Existenz keineswegs stagniert, "sondern eine Reihe bemerkenswerter Veränderungen durchlaufen" habe (I, 24). Paradoxerweise seien gerade jene Ereignisse, die von früheren Historikern als Meilensteine des Abstiegs gewertet wurden, tatsächlich die Ursachen eines vielfältigen Wandels gewesen.

Whaleys Geschichte des Reichs setzt ein mit dem Jahr 1500. Er beschreibt es als "politisches Gemeinwesen", dem ein "Flickenteppich der Territorien" gegenüberstand. Die Nation des Reichs wurde mit dem Drama der Reformation im 16. Jahrhundert konfrontiert. Die "Zähmung" dieser "Revolution" führte 1555-1618 in eine "Verwaltung des Friedens", die aber durch den Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 abgelöst wurde, der zum Westfälischen Frieden führte, mit dem der erste Band dieses Werks endet. Der zweite Band der Reichgeschichte beginnt mit einem "Auferstehung und neues Leben 1648-1705" überschriebenen Kapitel, gefolgt von "Konsolidierung und Krise 1705-1740" und "Niedergang oder Reife (ca. 1740-1792)". Mit der Überschrift "Krieg und Zerfall: Das Reich 1792-1806" endet der zweite Band.

Die Reformation habe zwar die konfessionelle Teilung des Reichs bewirkt, doch fand man im Augsburger Religionsfrieden von 1555 einen Kompromiss, der sein Überleben als Gemeinwesen ermöglichte. Zwar habe der Dreißigjährige Krieg das Reich in eine schwere Verfassungskrise gestürzt, aber im Westfälischen Frieden von 1648 sei es gelungen, die Verfassungsordnung von 1555 neu auszuhandeln und den Rahmen für die nächsten 150 Jahre abzustecken. Neuere Forschungen hätten gezeigt, dass das System des Westfälischen Friedens entgegen der Annahmen der früheren Historiker zur Stabilisierung der deutschen Territorien und ihrer Bewohner beigetragen habe.

Beide Bände mit ihren 125 Kapiteln befassen sich immer wieder ausgiebig mit den Territorien und den Städten [2], sodass ein Bild des Reichs entsteht, das sich von dem bisher gewohnten stark unterscheidet. [3] Zu diesem Bild trägt auch die Universitätslandschaft mit den sechzehn katholischen, dreizehn lutherischen und sechs calvinistischen Anstalten bei, wobei die Neugründungen Halle und Göttingen und später Jena (im 18. Jahrhundert) eine besondere Bedeutung hatten. Sie spielen eine Schlüsselrolle in der Publizistik des Reichs (II, 200-215).

Aufschlussreich ist das Kapitel "Höfe und Kultur", in dem Whaley die Territoriallandschaften des späten 18. Jahrhunderts beschreibt (II, 606-622). Er bestreitet Aussagen in den traditionellen Werken zur deutschen Kultur, nach denen sich die moderne "bürgerliche Kultur" in dieser Zeit bewusst von den Fürstenhöfen emanzipiert habe. "Tatsächlich lagen wichtige Zentren der Aufklärung gerade dort, wo es keinen Hof gab: etwa in der Reichsstadt Hamburg, der sächsischen Stadt Leipzig und im preußischen Halle" (II, 606). Doch Halle wie auch Leipzig unterstanden bei aller städtischen Autonomie einer fürstlichen Territorialherrschaft, und Hamburg konnte beispielweise das Projekt eines Nationaltheaters wegen der relativ kleinen kulturellen Elite der Stadt nicht realisieren. Die Zentren des kulturellen Lebens des Reichs waren die dreihundert Höfe, die sich durch ihre "extreme Vielzahl" auszeichneten. Die kleinsten Höfe wurden allerdings immer noch "von den aristokratischen Grundfreuden der Jagd und der Schlemmerei" (II, 606) geprägt.

Auffällig war die Abkehr von der französischen Stilrichtung der Höfe hin zu einheimischen Formen, die zur Gründung von "Nationaltheatern" durch die deutschen Fürsten führten. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts traten Weimar mit Goethe und Schiller und Berlin mit von Humboldt als Zentren von Klassik und Klassizismus hervor. Aber auch andere Territorien sollten nicht unterschätzt werden: die Herzöge von Württemberg und die Landgrafen von Hessen-Kassel mit ihren neuen Residenzen in Stuttgart und Kassel, ihren Bibliotheken, Militärakademien, Kunsthochschulen, ebenso auch die geistlichen Staaten wie Münster und Trier. Die Stände in Münster errichteten das Schloss. Der leitende Minister von Fürstenberg gründete die Universität Münster im Geist der katholischen Aufklärung, und der Kreis um ihn und Amalie von Gallitzin zog katholische Literaten und Intellektuelle an. [4] Auch der Kurfürst von Trier baute seine Residenz Koblenz aus, die allerdings nach dem Beginn der Französischen Revolution ein Zufluchtsort des französischen Adels wurde.

Der pfälzische Hof in Mannheim erlebte unter Kurfürst Karl Theodor eine "außerordentliche Blütezeit" (II, 615) mit Oper, Theater, Bällen, Feuerwerken, der Gründung der "Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft" zur Modernisierung der deutschen Sprache und 1777 der Gründung der "Deutschen Nationalschaubühne", die 1882 Schillers "Die Räuber" uraufführte. Der deutsche Stil der Hofkultur prägte vor allem die kleineren Höfe in Thüringen, darunter Anhalt-Dessau, Meiningen, Gotha-Altenburg und Weimar-Eisenach. Die ernestinisch-sächsischen Grafschaften hatten zu Kerngebieten der Reformation gezählt. Sie wurden zu den Vorreitern der protestantischen patriotischen Bewegung gezählt, die sich im 18. Jahrhundert dem neuen Aufklärungsidiom öffnete. Ihre Herrscher "gründeten Hoftheater, erwarben beeindruckende Sammlungen zeitgenössischer Kunst, sponserten Musiker, unterstützten Künstler und Autoren" und legten Landschaftsparks nach englischen Vorbildern an (II, 617).

Unter den thüringischen Territorien ragte das kleine Weimar hervor, das unter Herzog Karl August Persönlichkeiten wie Goethe, Wieland, Herder und später Schiller an sich zog. Wien und Berlin hatten nie die Rolle einer nationalen Hauptstadt übernehmen können. "Weimar profitierte von einer Nähe zu Zentren der Aufklärung in Leipzig und Halle und von der symbiotischen Beziehung zwischen dem Hof und der Universität Jena, die in den 1790er-Jahren zur beliebtesten Universität im ganzen Reich geworden war. Der entscheidende Faktor war jedoch die gegenseitig bereichernde Beziehung zwischen einem Herrscher und einer Gruppe begabter Autoren, die entschlossen waren, ein literarisches und intellektuelles Zentrum der Nation zu schaffen" (II, 620).

Die ehrgeizigen Pläne Brandenburg-Preußens, vor allem die Friedrichs des Großen zwischen 1740 und 1786, haben nach Whaley das Reich nicht wirklich bedroht. Die Absichten der Hohenzollern zielten auf Souveränität, nicht aber auf die Oberherrschaft, und sie wurden von vergleichbaren Entwicklungen in Österreich konterkariert. Möglicherweise habe Joseph II. die Reichsverfassung radikaler angegriffen, als Friedrich II. es jemals tat. Die These von der Zwangsläufigkeit des Untergangs 1806 lehnt Whaley entschieden ab: "Das Reich wurde durch die revolutionären Armeen Frankreichs und durch Napoleon zerstört. In dem entstehenden Machtvakuum erlangten nicht nur Österreich und Preußen, sondern auch große Länder wie Baden, Bayern, Hessen und Württemberg volle staatliche Souveränität" (I, 25). Whaley konstatiert zahlreiche Reformbewegungen, die das frühneuzeitliche Reich nach 1648 mit der Moderne verbanden, sodass man die negativen nationalistischen Deutungsmuster, die im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, endgültig ad acta legen könne.

In den Spuren von Georg Schmidt versucht Whaley das Verhältnis von "Staat und Nation" im Alten Reich neu zu bestimmen. [5] Die politische Traditionslinie des Reichs sei neu zu definieren. Der Absolutismus sei keineswegs so "absolut" gewesen, wie oft angenommen werde. Widerstand von unten wie die Beteiligung des "gemeinen Mannes" am Regierungsprozess sei ein Charakterzug der frühneuzeitlichen Gesellschaft gewesen. Die vielgepriesene "deutsche Libertät" deutet Whaley als historisch einzigartige "Rechtsordnung". Auch die kollektive historische Erfahrung und die Identität des Reichs und seiner Territorien beurteilt er neu. Zwar habe das Reich keine Hauptstadt gehabt und es sei von Hunderten von Untereinheiten auf den Reichstag vertreten worden. Zwischen "Rhein und Oder, zwischen dem Baltikum und den Alpen" habe das Reich eine außerordentliche Vielfalt von Landschaften und Städten zu einer Einheit verbunden (I, 32f.). Trotzdem habe es ein wachsendes Bewusstsein für das Reich als Hüter einer Rechtsordnung gegeben, die sich von jener einer mittelalterlichen "Adelsnation" deutlich unterschied. Die Kriege gegen die Türken und die Franzosen riefen patriotische Reaktionen hervor, die die Solidarität verstärkten und "ein Gefühl einer gemeinsamen Identität und Schicksalsbestimmtheit" entstehen ließen (I, 33). Das explosionsartige Anwachsen der gedruckten Medien im 18. Jahrhundert ließ eine nationale Öffentlichkeit entstehen (II, 504-511). 1765 erschien Friedrich Carl von Mosers Schrift "Von dem deutschen Nationalgeist". Das deutsche Einheitsgefühl umschrieben Zeitgenossen mit der Formel "Einheit in Vielfalt".

Wie fest war aber der Zusammenhalt des Alten Reichs tatsächlich? Wie groß war die Bereitschaft, das Reich in den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich in den 1790er-Jahren zu verteidigen, also noch vor seinem Ende von 1806? [6] Den großen Angriff auf die Revolution, den der Brite Edmund Burke mit seinen "Reflections on the Revolution in France" im Februar 1790 startete, der zum Klassiker des europäischen Konservatismus wurde, erwähnt Whaley nur im Zusammenhang der Reaktion deutscher Intellektueller auf die Französische Revolution. [7] In dem Frieden von Basel 1795 verzichtete Preußen und in dem Frieden von Campo Formio 1797 Österreich auf die linksrheinischen Gebiete, die dann von Frankreich einverleibt wurden. Das war ein Verstoß gegen die Reichsverfassung. Freiherr vom Stein, damals als preußischer Präsident der Kammer in Kleve zuständig für die preußischen Besitzungen am Niederrhein, war über die Treulosigkeit der preußischen und österreichischen Politik empört. Er stellte sich die Frage, ob die beiden "Großmächte" (gemeinsam mit Russland) mehr an der schrittweisen Auflösung Polens (bis 1795) und den territorialen Erwerbungen im Osten interessiert wären als an der Verteidigung des Reichs gegenüber dem revolutionären Frankreich. [8]

Noch vor der endgültigen Auflösung des Reichs hatte der Immerwährende Reichstag am 25. Februar 1803 in Regensburg den Reichsdeputationshauptschluss verabschiedet, der mit der kaiserlichen Ratifikation am 27. April 1803 in Kraft trat. Fast alle geistlichen Fürstentümer wurden aufgelöst, die Abteien und Klöster säkularisiert. Die Stadtrepubliken sämtlicher Reichsstädte mit Ausnahme von Augsburg, Nürnberg, Frankfurt am Main, Lübeck, Bremen und Hamburg wurden den umliegenden Fürstentümern zugeschlagen. Mit diesen Beschlüssen von 1803 hatte das Reich wesentliche Strukturelemente des Altes Reichs noch vor seiner Auflösung selbst liquidiert.

Nach der Niederlage Napoleons hätte es die Chance gegeben, das Reich wiederzubeleben. Einer der wenigen Staatsmänner, der auf dem Wiener Kongress dafür kämpfte, das Reich zu erneuern, war Freiherr vom Stein. Er wurde dabei von Joseph Görres unterstützt, der im August 1814 zum Auftakt des Wiener Kongresses im "Rheinischen Merkur" in Koblenz die Artikelserie "Die künftige teutsche Verfassung" herausgab. [9] Noch am 17. Februar 1815 veröffentlichte der "Rheinische Merkur" eine Note von Vertretern der deutschen Kleinstaaten und Reichsstädte in Wien vom 2. Februar, die an Metternich und Hardenberg gerichtet war. Sie erinnerte Österreich und Preußen daran, in der künftigen Verfassung des Reichs die Einheit Deutschlands einzulösen und zu verhindern, dass die Einzelstaaten die künftige Verfassung dominierten. [10] Der ausführliche Kommentar zu der Note, der offensichtlich von Stein gesteuert war, deutete sie als einen Appell, zu dem alten, 1806 untergegangenen Kaiserreich zurückzukehren. Es war ein letzter Versuch, den Deutschen Bund, der mit der Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 geschaffen wurde, doch noch zu verhindern. Der Vorschlag war nach dem Stand der Wiener Verhandlungen im Februar 1815, die kurz vor dem Abschluss standen, wirklichkeitsfremd. [11]

Bereits zur englischen Ausgabe von Whaleys Werk erschienen eine Reihe positiver Kritiken, so von Axel Gotthard [12], Tom Scott [13], Wolfgang Burgdorf [14], Robert von Friedeburg [15], Heinz Duchhardt [16], John L. Flood [17], Thomas A. Brady Jr. [18] und David Blackbourn [19]. In einer Besprechung, die im Dezember 2014 erschien, lobte Christoph Kampmann, dass Whaley ein "grundgelehrtes und kluges Werk" vorlegt habe, "das Informationsreichtum mit der Freude an Thesenbildung und Revision gängiger Lehrmeinungen zu verbinden vermag". [20]

Unmittelbar nach dem Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe im Herbst 2014 erschien Barbara Stollberg-Rilingers scharfe Kritik. Bereits in ihrem Buch "Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches" (2008) hatte sie eine entschiedene Gegenposition zu Whaley bezogen. [21] Stollberg-Rilinger bezweifelte, dass man mit den Kategorien wie Fortschritt, Reform und nationaler Einheit das Alte Reich erfassen könne. [22] Whaley unterliege dem Missverständnis, sich "das Reich" wie ein handlungsfähiges Subjekt vorzustellen. "Das Reich war kein zielstrebiges Wesen mit einheitlichem Willen; es war spannungsreiches Handlungsgeflecht heterogener Akteure." Mit den Kategorien wie Fortschritt, Reform und nationaler Einheit komme man "diesem Gebilde" nicht bei. An keiner Stelle lasse Whaley die Akteure selbst zu Wort kommen. "Wenn er überhaupt Quellen zitiert, dann stets aus zweiter Hand."

Das Werk fordert zu Kontroversen heraus. Manchmal gewinnt man allerdings bei den Debatten der Frühneuzeithistoriker den Eindruck, als koppele man sich von den anderen Epochen der Geschichte bewusst ab. Aber das "Alte Reich" und die frühneuzeitliche Gesellschaft ist keine Glaskugel. Nach dem Ende des Reichs 1806 ging das Leben und damit auch die Geschichte weiter.

Whaleys Buch hatte einen Vorgänger. 150 Jahre zuvor, 1864, erschien "The Holy Roman Empire" von James Bryce. Dieser "Klassiker" stand im Banne Rankes. Im Gegensatz zu Whaley beschränkte sich Bryce nicht auf die Frühe Neuzeit, ein Begriff, den es damals noch nicht gab. [23] Seine Geschichte des Römischen Reichs beginnt mit den Einfällen der "Barbaren" und reicht über das Mittelalter, die Renaissance, die Reformation und den Westfälischen Frieden bis zum Ende des Reichs unter Napoleon. Die Neuauflage von 1906 wurde noch um zwei neue Kapitel ergänzt: der Weg der Deutschen zur nationalen Einheit im 19. Jahrhundert und das "Neue Deutsche Reich" (von 1871).

Den Begriff des "Alten Reichs" kannte Bryce damals noch nicht. Er ist eine Erfindung der Frühneuzeithistoriker. Die Ausstellung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 992-1806" erinnerte im Jahr 2006 an das Ende des Reichs von 1806. Sie präsentierte die 850-jährige Geschichte des Reichs in zwei Teilen: "Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters" in Magdeburg und "Altes Reich und neue Staaten 1495-1806" in Berlin. Das Reich wurde dabei nicht auf das Alte Reich reduziert. [24]

Im Jahr 1998 feierte das inzwischen geeinte Deutschland zwei "Jahrhundertereignisse" mit großen Ausstellungen: die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 vor 150 Jahren in Frankfurt und den Westfälischen Frieden von 1648 vor 350 Jahren in Münster und Osnabrück. [25] Im Jahr 1998 wurden in der Öffentlichkeit keinerlei Verbindungen zwischen 1648 und 1848 hergestellt, also zwischen dem Alten Reich und dem 19. Jahrhundert. Das ist erstaunlich. Denn nur 42 Jahre nach der Auflösung des Alten Reichs 1806 hatte die Frankfurter Nationalversammlung 1848 den Versuch gestartet, das Reich als Nationalstaat mit einer Reichsverfassung neu zu begründen. Die Frankfurter Nationalversammlung wird von Whaley nur einmal an Rande erwähnt, die Reichsverfassung von 1849 überhaupt nicht (II, 745). Wie aber sah das Alte Reich aus der Perspektive der Paulskirche aus, die in der alten Reichsstadt Frankfurt tagte? Dazu noch einige Ergänzungen.

Die deutsche Revolution hatte 1848 erstmals in Deutschland Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit eingeführt. Die Abgeordneten der Nationalversammlung wurden aufgrund des allgemeinen Wahlrechts für Männer gewählt. Zu den ersten Beschlüssen der Nationalversammlung zählten am 28. Juni die Abschaffung des Bundestags als Vertretung der Einzelstaaten und das Gesetz über die Einführung der provisorischen Zentralgewalt, die mit 510 gegen 35 Stimmen bzw. mit 450 gegen 100 Stimmen beschlossen wurden. Am 29. Juni wählte die Nationalversammlung Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser. Als am 14. August Erzherzog Johann, das neugebildete Reichsministerium und zahlreiche Abgeordnete auf einem festlich geschmückten Dampfer rheinabwärts zum Kölner Dombaufest reisten und sie überall von der Bevölkerung begeistert begrüßt wurden, schien sich der Traum von der Wiedererstehung des Reichs zu verwirklichen.

Aber in den Debatten um den Friedensvertrag von Malmö spaltete sich die Nationalversammlung. Im Herbst 1848 erstarkten die reaktionären Regierungen in Berlin und in Wien. Die preußische Nationalversammlung in Berlin wurde aufgelöst, der Dresdener Abgeordnete in der Paulskirche Robert Blum, ein führender Sprecher der Linken, wurde in Wien standrechtlich hingerichtet. Trotzdem setzte die Frankfurter Nationalversammlung ihre Arbeit an der Schaffung der Verfassung fort. Am 27. März 1849 wurde die Reichsverfassung beschlossen.

Die hervorragendste Leistung der Nationalversammlung war die Grundrechtsdebatte. Unter den 800 Abgeordneten (und ihren nachrückenden Stellvertretern) waren 50 Hochschullehrer, darunter 15 bekannte Historiker und Politik-Professoren wie Arndt, Buß, Fallati, Dahlmann, Gervinus, Grimm, Mohl, von Raumer, Tellkamp, Waitz, Welcker und Wuttke. [26] Sie zählten zu den prominenten Vertretern in dieser Debatte. In der Grundrechtsdebatte der Paulskirche wurde das Alte Reich häufig thematisiert. Es ging darum, seine alte Ordnung aufzuheben und sie durch einen liberalen Rechtsstaat zu ersetzen. Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, der Greifswalder Rechtshistoriker Georg Beseler, erklärte bei der Einbringung der Grundrechte in der Nationalversammlung am 3. Juli 1848: "Wir wollen jetzt aus dem herauskommen, was uns der Polizeistaat der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Wir wollen den Rechtsstaat auch für Deutschland begründen." [27] Man war sich der historischen Stunde bewusst. Beseler betonte, "daß wir in einer großen Zeit leben, in einer Zeit, wie die Weltgeschichte sie selten zeigt, in der durch kühnes Erfassen Resultate erworben werden können für die Entwicklung der Völker, ja der Menschheit, welche sonst in Jahrhunderten nicht gelingen". [28]

Das gesellschaftspolitische Kernstück der Grundrechte war die Aufhebung der ständischen Gesellschaft in Deutschland, die Beseitigung des Polizeistaats und die Sicherung des liberalen Rechtsstaats. Die Grundrechte der Unverletzlichkeit der Wohnung, des Briefgeheimnisses, der Meinungs- und Pressefreiheit, des Petitionsrechts, der Versammlungsfreiheit und Vereinsfreiheit waren so unumstritten, dass es gar nicht erst zu einer längeren Debatte in der Nationalversammlung kam. Die Garantie des Rechts auf Eigentum war die wirtschaftliche Grundvoraussetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die an die Stelle der ständischen Gesellschaft treten sollte. "Das Feudalsystem mit seinen Eigentumsbindungen wurde abgeschafft." [29] Die Beratung des Gleichheitsgrundsatzes (§ 137) löste eine Grundsatzdebatte über die historische Rolle des Adels aus. Man berief sich auf das Vorbild der Französischen Revolution und der belgischen Verfassung von 1831.

Der Germanist Jacob Grimm ging auf die historische Rolle des Adels ein. Es leuchte ihm ein, "daß der Adel als bevorrechtigter Stand aufhören müsse", denn so habe der Zeitgeist schon seit einigen Generationen geurteilt: "Der Adel ist eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht auch ihre Farbe." Es sei ein Raub am Bürgertum gewesen, dass man Goethe und Schiller "ein 'von' an ihren Namen klebte". [30] Nach längeren Debatten wurde am 6. Dezember der Antrag "Der Adel als Stand ist aufgehoben" mit 225 gegen 211 Stimmen angenommen. [31]

Ein Höhepunkt der Beratung der Grundrechte war der Artikel über die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, bei der die Abschaffung der Todesstrafe sowie der Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung beschlossen wurden. Bei der Abstimmung am 7. Dezember sprachen sich 256 Abgeordnete für die Abschaffung der Todesstrafe und 176 dagegen aus. Mit den Abstimmungen der Nationalversammlung über die Grundechte wurde die seit Jahrhunderten bestehende Feudalordnung beseitigt. So gesehen enthielten die Grundrechte ein geradezu revolutionäres Veränderungspotential. [32] Wäre die Reichsverfassung Wirklichkeit geworden, so hätten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland grundlegend geändert.

Die Grundrechtsdebatte zu den Artikeln III (Religionsfreiheit) und IV (Schule und Unterricht) hatte einen direkten Bezug zum Westfälischen Frieden. Die großen Konfessionen, die katholische wie die protestantische, waren Teil der Reichsverfassung geworden. Seit 1648 waren Staat und Konfession in Deutschland eng miteinander verzahnt. Die Säkularisation hatte 1803 die geistlichen Staaten aufgehoben und deren Territorien den weltlichen Staaten zugeschlagen, die sich wie im Fall Preußens und Bayerns erheblich vergrößern konnten. Die vergrößerten Staatsbürokratien wie die Preußens neigten 1815 dazu, die Kirchen und Konfessionen dirigistisch zu führen. Die Säkularisation hatte die seit dem Mittelalter bestehende katholische Adelskirche aufgehoben. Der Katholizismus war jetzt auf das Volk der Bauern und Bürger angewiesen und, wie sich bald zeigen sollte, auch auf die Arbeiter, die sich aus neuen sozialen Schichten rekrutierten.

In der Paulskirchendebatte über die Religionsfreiheit kamen auch protestantische und katholische Sprecher zum Zuge. Der protestantische Jurist Eduard Wedekind aus Hannover erinnerte an die Kirchengeschichte. Zur Zeit der Augsburgischen Konfession von 1530 sei das Reich noch eine Einheit gewesen, aber seit dem Westfälischen Frieden von 1648 sei es in zahlreiche Landesteile getrennt gewesen. Der Protestantismus habe sich seitdem nicht mehr als nationale Konfession weiterentwickeln können. Erst jetzt habe er dazu wieder eine Möglichkeit erhalten. [33] Der katholische Pfarrer Remigius Vogel aus Dillingen führte aus, es sei ein Unglück gewesen, dass die religiöse Bewegung des 16. Jahrhunderts ins Politische hineingezogen worden sei und die religiösen in Parteileidenschaften verwandelt worden seien. Dies habe zur Trennung der Deutschen, zu "Zwiespalt unter Brüdern", zu Parteienkampf und Schwächung der Einheit geführt. "Wohl hat man im Jahre 1648 nach großem Elend einen sogenannten Frieden, der aber kein wahrer Friede war, zusammengeleimt, der löst sich jetzt auf und zwar mit Recht. Wir wollen etwas Besseres schaffen: wahren Frieden durch volle religiöse Freiheit für alle ohne Unterschied." [34]

Nach längeren Beratungen wurde das Verhältnis von Staat und Kirche in § 147 Reichsverfassung neu geordnet: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber, wie jede andere Gesellschaft im Staate, den Staatsgesetzen unterworfen. Keine Religionsgesellschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat; es besteht ferner keine Staatskirche. Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht." Die Frankfurter Nationalversammlung konstituierte die Unabhängigkeit von Staat und Kirche und beseitigte das deutsche Staatskirchentum.

Höhepunkte der Grundrechtsdebatten waren die Kontroverse zwischen dem atheistischen Gießener Professor für Zoologie Carl Vogt und dem katholischen Münchener Professor für Kirchengeschichte Ignaz Döllinger über die Religionsfreiheit, der große Auftritt des jüdischen Abgeordneten Gabriel Riesser aus Hamburg, der sich erfolgreich gegen jede Diskriminierung der jüdischen Minderheit einsetzte, und die Rede des münsterländischen Pfarrers Wilhelm von Ketteler aus Hopsten zur Schulfrage. Ketteler hatte für den katholischen Bevölkerungsteil gefordert, dass dem Elternrecht Vorrang vor der staatlichen Erziehung einzuräumen sei. Den Hintergrund für diese Schuldebatte bildete der Fortfall der geistlichen Schulaufsicht. Ketteler, der 1850 zum Bischof von Mainz gewählt wurde, sollte einer der führenden Sprecher des deutschen Katholizismus werden. Er brachte die deutschen Katholiken dazu, nach anfänglichem Widerstreben die "kleindeutsche" Lösung der bismarckschen Reichsgründung von 1871 zu akzeptierten.

Eine Erinnerung an das Alte Reich bildete auch den Hintergrund für die Debatte der Paulskirche über das künftige Reichsoberhaupt. Zur Gruppe der sogenannten "Großdeutschen", für die der Verbleib Österreichs im Reich unverzichtbar war, zählten die österreichischen Abgeordneten, die meisten katholischen Abgeordneten, aber auch Abgeordnete der süddeutschen Liberalen wie Karl Welcker und der Dichter Ludwig Uhland und teilweise Abgeordnete der Linken. [35] Die Gruppe der "Kleindeutschen", die sich vor allem aus protestantischen, norddeutschen und preußischen Abgeordneten zusammensetzte, favorisierte die Konzeption des sogenannten "Erbkaisers". Dieser Vorschlag lief auf die Wahl des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. als Kaiser des künftigen Deutschen Reichs unter Ausschluss Österreichs hinaus.

Als aber am 4. März 1849 nach der Niederschlagung der Revolution in Österreich ebendort eine "Gesamtstaatsverfassung", d.h. ein Vielvölkerstaat unter Einschluss der nichtdeutschen Gebiete, oktroyiert wurde, brach das Lager der "Großdeutschen" zusammen. Am 12. März überraschte Welcker seine Freunde wie seine Gegner damit, dass er vorschlug, dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzubieten. [36] In der Debatte der Nationalversammlung erklärte der Göttinger Historiker Georg Waitz: Deutschland könne seine Interessen nicht an die österreichische Gesamtmonarchie knüpfen. Es gebe auch in der Außenpolitik keine Gemeinsamkeit zwischen beiden Ländern. Deutschlands Aufgaben lägen nicht im Südosten. Waitz warb für eine Politik der Westorientierung. Der Blick müsse sich "gegen Westen, an den Rhein, an die Küsten der Nordsee" wenden. Dies entspräche auch den Traditionen deutscher Geschichte. Hier würden sich "die Geschicke Europas, vielleicht der Welt" entscheiden. Deshalb müsse die deutsche Politik auf den Westen und auf die Länder jenseits des Atlantiks gerichtet sein. [37]

Am 27. März 1849 gelang es mit einem knappen Votum von 267 gegen 263 Stimmen die Institution des (preußischen) "Erbkaisers" zu schaffen. [38] Gleichzeitig wurde das demokratische Wahlrecht angenommen, mit dem einige Stimmen der Linken für den Beschluss gewonnen wurden. [39] Noch am gleichen Tag wurde die Reichsverfassung beschlossen. Am 28. März wurde Friedrich Wilhelm IV. mit 290 Stimmen bei 248 Enthaltungen zum deutschen Kaiser gewählt. [40] Am 3. April empfing Friedrich Wilhelm IV. eine Deputation von 32 Frankfurter Abgeordneten. Er lehnte das Angebot der Kaiserkrone ab. Damit war das Werk der Frankfurter Nationalversammlung gescheitert. [41]

Erst nach Scheitern der Paulskirche, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, entstanden jene nationalistischen Legenden der deutschen Historiker, auf die sich Whaley immer wieder bezieht. Sie gipfelten in der Verherrlichung der bismarckschen Reichsgründung von 1871 und des preußischen Machtstaats. Anfang Januar 1867 hatte Ketteler, jetzt Bischof von Mainz, die Schrift "Deutschland nach dem Kriege von 1866" herausgebracht, in der er den deutsch-dänischen Krieg von 1864 und den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 deutete. In dem Kapitel "Der sogenannte 'Beruf Preußens'" [42] warnte er vor einem neuen Zeitgeist, der jetzt in Deutschland um sich greife und den er als "Borussianismus" umschrieb. Als Beleg zitierte er aus den jüngsten Geschichtswerken der Historiker Droysen und Häusser. Sie entwickelten darin die Idee von der "Geschichtsnotwendigkeit der preußischen Staatsbildung". Für Droysen sei die Angliederung weiterer Gebiete an Preußen "auf Kosten der übrigen Staaten lediglich wieder eine Naturnotwendigkeit, sowie es für die Gestirne Naturnotwendigkeit ist, sich in ihren eigenen Bahnen zu bewegen". [43]

Erst aus dieser Philosophie des Borussianismus ließen sich die jüngsten Ereignisse überhaupt erklären: "Diese Ansicht von einem ungemessenen Berufe Preußens hat den Krieg vorbereitet. Sie ist im Verlaufe des Krieges eine starke Macht geworden, um denselben zu führen. Sie hat nach den großen Siegen alles in Preußen mit sich fortgerissen, selbst jene Kreise, die ihr ganzes Leben der Verteidigung des Rechtes gewidmet haben. Sie hat endlich die Bedingungen des Friedens diktiert und herrscht augenblicklich fast ohne Widerspruch in Preußen." [44]

In einem Vortrag "Luther und die deutsche Nation", den Treitschke zum 400sten Geburtstag Luthers 1883 hielt, brachte er eine Verbindung zwischen dem Alten Reich und dem neuen Reich von 1871 zustande, indem er Luther zum Begründer der deutschen Nation erklärte. Er berief sich auf Luthers Aufritt vor dem Reichstag in Worms: "Da stand er vor Kaiser und Reich als der Führer der Nation." [45] Luther habe "den Staat für mündig erklärt". "Da die weltliche Gewalt überall an dem erstarkten Selbstgefühl der Nationen eine sichere Stütze fand", so habe "diese Tat der politischen Befreiung fast noch gewaltiger, noch weiter in die Welt hinaus" gewirkt "als die Reformation der Kirche". [46]

70 Jahre nach dem Scheitern des Verfassungswerks der Paulskirche bezog sich Hugo Preuß in Weimar bei der Vorlage des Entwurfs der Weimarer Reichverfassung am 8. Februar 1919 auf die Frankfurter Nationalversammlung und stellte fest: "Damals ist wesentlich an dem Widerstande der dynastischen Mächte in Deutschland das Werk der Frankfurter Nationalversammlung gescheitert. [...] Damals war das Reich noch ein Traum, das Idealbild nationaler Einheit; heute haben wir das Reich, haben es sei Jahrzehnten gehabt." [47] Der Begriff des "Reichs" wurde in Weimar nicht in Frage gestellt. Selbst der großdeutsche Traum der Frankfurter Nationalversammlung war in Weimar noch nicht erloschen, scheiterte aber am Widerstand der Siegermächte.

Als Carlo Schmid 1948, 39 Jahre danach, in Bonn am 8. September 1948 den Parlamentarischen Rat als Vorsitzender des Hauptausschusses mit einer Grundsatzrede eröffnete, erwähnte er das Deutsche Reich nur noch in einem einzigen Satz. Er sagte: "Wir dürfen nicht vergessen, daß in den ersten Monaten nach der Kapitulation im Sommer 1945, als keinerlei Zentralgewalt zu sehen war, sondern als die Bürgermeister der Gemeinden als kleine Könige regierten - die Landräte auch und die ersten gebildeten Landesverwaltungen erst recht -, alle diese Leute und alle diese Stellen ihre Befugnisse nicht für sich ausübten, nicht für die Gemeinden und für das Land, sondern fast überall für das Deutsche Reich. Es war eine Art von Treuhänderschaft von unten, die sich dort geltend machte. " [48]

Das "Alte Reich" hat allerdings in den Ländern der Bundesrepublik noch eine späte Fortsetzung gefunden. In seinem Essay "Der Föderalismus in der deutschen Geschichte" leitet Thomas Nipperdey die Wurzel des deutschen Föderalismus, anders als in Großbritannien und Frankreich, aus der politischen Struktur Deutschlands im späten Mittelalter ab. [49] Nach der Wiedervereinigung erschien eine Geschichte der 16 deutschen Bundesländer bei Beck in München, die alle Landesgeschichten, nicht nur die Bayerns und Sachsens, Bremens und Hamburgs, sondern auch die der Nachkriegsgründung Nordrhein-Westfalen auf das Mittelalter zurückführen.


Anmerkungen:

[1] Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien, Bd. 1: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493-1648; Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1648-1806, Vorwort: Axel Gotthard, Übersetzung: Michael Haupt / Michael Sailer (Original: Germany and the Holy Roman Empire, Oxford 2012), Darmstadt 2014, 846 u. 836 Seiten, geb., 129,- Euro.

[2] "Die Deutschen Territorien und Städte nach 1555" (I, 587-681), "Die deutschen Territorien um 1648-1760" (II, 219-396), "Die deutschen Territorien nach 1760" (II, 515-636).

[3] Whaley begann seine Forschungen zum "Alten Reich" mit einer Studie über Hamburg: Ders.: Religious Toleration and Social Change in Hamburg 1529-1819, Cambridge 1985.

[4] Vgl. Wilhelm Ribhegge: Gesellschaft, Kultur und Politik im Fürstbistum Münster im 18. Jahrhundert, in: Klaus Bußmann (Hg.): Johann Conrad Schlaun 1695-1773. Architektur des Spätbarock in Europa, Münster 1995, 43-83.

[5] Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiche. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, München 1999; vgl. Heinz Schilling: Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: HZ 272 (2001), 377-395; Georg Schmidt: Das frühneuzeitliche Reich - komplementärer Staat und föderative Nation, in: HZ 273 (2001), 371-399; Joachim Whaley: Reich, Nation, Volk. Early Modern Perspectives, in: Modern Language Review 101 (2006), 442-455.

[6] "Das Reich in den Revolutionskriegen" (II, 648-669).

[7] "Der Widerhall der Französischen Revolution im Reich: Intellektuelle" (II, 680-691, hier 682); vgl. Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution bis zu Gegenwart, Darmstadt 1989, 14 und 17.

[8] Freiherr vom Stein: Briefe und Amtliche Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, neu hg. v. Walther Hubatsch, Bd. 1, Stuttgart 1957, 420, 437, 441, 461; vgl. Wilhelm Ribhegge: Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008, 12f.

[9] Rheinischer Merkur vom 18.8., 20.8., 22.8., 24.8.1814, (Nr. 104, 105, 106, 107); vgl. Ribhegge: Preußen im Westen, 55.

[10] Rheinischer Merkur vom 17.2.1815 (Nr. 195); Ribhegge: Preußen im Westen, 57.

[11] Heinz Duchhardt: Stein. Eine Biographie, Münster 2007, 325-350 ("Der Wiener Kongress").

[12] Axel Gotthard: Rezension von: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], http://www.sehepunkte.de/2012/04/20876.html (29.04.2015).

[13] Tom Scott: Rezension zu Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: English Historical Review 527 (August 2012), 984-967.

[14] Wolfgang Burgdorf: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. So tiefgründig kann deutsche Geschichte sein, in: FAZ vom 7.11.2012.

[15] Robert von Friedeburg: Rezension zu: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: H-Soz-Kult, 29.01.2013, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-18016 (29.04.2015).

[16] Heinz Duchhardt: Rezension zu: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 121 (2013), 210-211.

[17] John L. Flood: Rezension zu: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: The Modern Language Review 108 (Juli 2013), 989-993.

[18] Thomas A. Brady Jr.: Rezension zu: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: The Journal of Modern History 86 (Juni 2014), 471-473.

[19] David Blackbourn: Rezension zu: Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume I: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493-1648, Oxford 2012 / Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Volume II: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford 2012, in: Common Knowledge 20 (Winter 2014), 143-144.

[20] "Einheit in der Vielfalt - Einheit für die Vielfalt. Eine neue Gesamtgeschichte des römisch-deutschen Reichs 1493 bis 1806", in: HZ 299 (2014), 696-707.

[21] Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache im Alten Reich, München 2008, besonders: 314-317.

[22] Dies.: Ein Reich, beherrscht von lauter Ausnahmen; in: FAZ vom 11.12.2014.

[23] Vgl. Gerd Schwerhoff: Frühe Neuzeit - Zum Profil einer Epoche (2001), [http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_fakultaet/ig/fnz/startseite/fnz_profil].

[24] Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806. 29. Ausstellung des Europarates in Magdeburg und Berlin 2006; erster Abschnitt: Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, Magdeburg 2006, hgg. v. Matthias Puhle / Claus-Peter Hasse, Band 1: Katalog, Band 2: Essays, Dresden 2006; zweiter Abschnitt: Altes Reich und neue Staaten 1495-1806, Berlin 2006, hg. v. Hans Ottomeyer (u.a.), Band I: Katalog, Band II: Essayband, Dresden 2006; siehe dazu: Rezension von Frank Pohle, in: sehepunkte 17 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], http://www.sehepunkte.de/2007/09/11776.html.

[25] Lothar Gall (Hg.): 1848. Aufbruch zur Freiheit (Katalog), Frankfurt am Main 1998; Klaus Bußmann / Heinz Schilling (Hgg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa (Katalog), München 1998.

[26] Wilhelm Bleek: Die Politik-Professoren in der Paulskirche, in: Kocka (u.a.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, 276-299; Jörg-Detlef Kühne: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt am Main 1985; Manfred Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977.

[27] Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Herausgegeben auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von Professor Franz Wigard, 9 Bde., Frankfurt am Main 1848/9 [Nachdruck: München 1988, zitiert als: Wigard: Internet: bvb:12-bsb00011908-0], hier: Bd. 1, 701.

[28] Wigard: Bd. 1, a. a. O.; vgl. Wilhelm Ribhegge: Das Parlament als Nation, die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998, 50-82 ("Verfassungsberatung und Grundrechte"); Frank Eyck: Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, München 1972, 247-299 ("Die Grundrechte des deutschen Volkes"); Heinrich Scholler (Hg.): Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, Darmstadt 1973.

[29] Dieter Grimm: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt am Main 1988, 194-197 ("Die Paulskirchen-Grundrechte"), hier: 196.

[30] Wigard II, 1310-1312.

[31] Wigard V, 3915; vgl. Peter Wende: Die Adelsdebatte der Paulskirche, in: Adolf Birke / Lothar Kettenacker (Hgg.): Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München / London / New York / Paris 1989, 37-51.

[32] Kühne: Die Reichsverfassung der Paulskirche, 537.

[33] Wigard III, 1649-1650.

[34] Wigard III, 1651-1653.

[35] Ribhegge: Das Parlament als Nation, 121-143 ("Der preußische Kaiser").

[36] Wigard VIII, 5666.

[37] Wigard VIII, 5836.

[38] Wigard VIII, 6064.

[39] Wigard VIII, 6070.

[40] Wigard VIII, 6093.

[41] Wilhelm Ribhegge: Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition: 1849 - 1919 - 1949 - 1989, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 28 (2000), 90-102.

[42] Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Deutschland nach dem Kriege von 1866, Mainz 1867, 29-39.

[43] Ketteler: Deutschland nach dem Kriege von 1866, 35.

[44] Ketteler: Deutschland nach dem Kriege von 1866, 37.

[45] Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag gehalten in Darmstadt am 7. November 1883, Berlin 1883, 5.

[46] Treitschke: Luther und die deutsche Nation, 17; vgl. Wilhelm Ribhegge: German or European Identity? Luther and Erasmus in Nineteenth- and Twentieth-Century German Cultural History and Historiography, in: Christian Emden / David Midgley (eds.): Cultural Memory and Historical Consciousness in the German Speaking World Since 1500, Bd. 1: Papers from the Conference 'The Fragile Tradition', Cambridge 2002, Oxford (u.a.) 2004, 139-163.

[47] Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung, Bd. 326, 12f.; Wilhelm Ribhegge: Die Weimarer Nationalversammlung 1919 als Ort der Erinnerung, in: Michael Schultheiß / Julia Roßberg (Hgg.): Weimar und die Republik. Geburtsstunde eines demokratischen Deutschlands, Weimar 2009, 39-70.

[48] Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, hg. v. Deutscher Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 9: Plenum, München 1996, 21-46.

[49] Thomas Nipperdey: Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, 60-109.

Wilhelm Ribhegge