Rezension über:

Marie Barral-Baron: L'Enfer d'Érasme. L'humaniste chrétien face à l'histoire (= Travaux d'Humanisme et Renaissance; 523), Genève: Droz 2014, 752 S., ISBN 978-2-6000-1645-2, CHF 102,00
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Rezension von:
Wilhelm Ribhegge
Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Ribhegge: Rezension von: Marie Barral-Baron: L'Enfer d'Érasme. L'humaniste chrétien face à l'histoire, Genève: Droz 2014, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/11/29243.html


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Marie Barral-Baron: L'Enfer d'Érasme

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Die neueste französische Erasmus-Biographie von Marie Barral-Baron erschien 2014 unter dem ungewöhnlichen Titel: "L'Enfer d'Erasme" ("Die Hölle des Erasmus"). Das Werk hat einen Umfang von 752 Seiten. Im Gegensatz zu früheren Erasmus-Biografien stellt diese Arbeit sein Verhältnis zur Geschichte in den Vordergrund. Die Erasmus-Biografie wird dabei zum Drama, das die Autorin in einer Trilogie vorstellt. Ausgiebig zitiert sie aus der Korrespondenz des Erasmus.

Der erste Teil des Buchs beschreibt Erasmus' Aufstieg als christlicher Humanist, der das goldene Zeitalter herbei träumt. Erasmus trat im Alter von 20 Jahren in das Kloster der Augustiner-Chorherren in Steyn bei Gouda ein und wurde 1492 zum Priester geweiht. Beeinflusst von Lorenzo Valla gewann er in seiner Klosterbibliothek einen Zugang zur christlichen und der klassischen Literatur der Antike, die bonae literae. Der Humanist Erasmus war geboren. Bereits in seiner Jugend in den Niederlanden entstand das Manuskript Antibarbarorum liber. Es nimmt für Barral-Baron eine Schlüsselstellung in dem erasmischen Kampf gegen die "Barbaren" des Mittelalters und seiner eigenen Gegenwart ein.

Bis zum Jahr 1506 hielt sich Erasmus in den Niederlanden, in Frankeich, wo er in Paris studiert, und in England auf. Unter dem Einfluss des Oxforder Geistlichen John Colet und des Guardians der Franziskanerobservanten in Saint-Omer, Jean Vitrier, erfährt seine Biografie eine entscheidende Wende. Sein Leben bekommt ein Ziel. Er will eine Brücke zwischen dem apostolischen Zeitalter und seiner eigenen Zeit bauen unter Umgehung der Jahrhunderte des Mittelalters. Er ist überzeugt, dass es eine enge Verbindung zwischen der Antike und dem Christentum gibt. Das wird zum Traum seines Lebens.

1500 erschien sein erstes Werk, die Adagia, in Paris und 1503 das Enchiridion militis Christiani (Handbuch des christlichen Streiters) in Antwerpen. Er plant, die vier Evangelien und die apostolischen Briefe neu herauszubringen und verständlich zu kommentieren. Mit seinen Sprachenkenntnissen, auch des Griechischen, will er die Theologie und das Studium des Neuen Testaments auf eine neue Grundlage stellen.

Während seines Aufenthalts in Italien von 1506 bis 1509 gelang es ihm, eine erneuerte, voluminösere Ausgabe seiner Sammlung antiker Sprichwörter, der Adagia, bei Aldus Manutius in Venedig herauszubringen, die ihn in ganz Europa berühmt machte. Nach London zurückgekehrt, schrieb er im Haus seines Londoner Freundes Thomas Morus das Lob der Torheit (Moriae Encomium), das er Morus widmete und das sein populärstes Buch wurde. Bei einer Reise nach Basel nahm er Kontakt zu dem Verleger Johannes Froben auf, der fortan die meisten seiner Bücher verlegte, auch eine Neuausgabe der Adagia, die er diesmal um längere Essays erweiterte, mit denen er sich als Kritiker von Kirche und Gesellschaft etablierte.

Mit Froben hatte Erasmus eine lateinische Neuausgabe (des von Erasmus neu übersetzten) Neuen Testaments vereinbart, bei der er den griechischen dem lateinischen Text gegenüberstellte. Die Erstauflage betrug 3 300 Exemplare. Im gleichen Jahr erschien bei Froben auch Erasmus' Biografie des Hieronymus. 1516 stand Erasmus auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Sein Lebenswerk, die Versöhnung seiner eigenen Zeit mit dem apostolischen Zeitalter, schien in Erfüllung gegangen zu sein.

Aber mit dem Auftreten Luthers wurde die Biografie des Erasmus zur Tragödie. Anfangs hatte er mit dem Reformator sympathisiert und die päpstliche Bulle vom 3. Januar 1521 für den falschen Weg gehalten. Erasmus war sensibel genug, die Spaltung Europas früh zu erkennen, und so wurde das Jahr 1521 für ihn zum "année tragique" (278). Luther hatte eine neue Ekklesiologie begründet, die mit einem Schlag die patristische Kultur vernichtete, auf die Erasmus baute (277).

Der zweite Teil des Buchs beschreibt die Baseler Zeit der Jahre von 1521 bis 1529. Bis zum Jahre 1524 habe Erasmus die gescheiterte Einheit der Christenheit wiederherstellen wollen. Im September 1524 erschien seine Schrift De libero arbitrio (Über den freien Willen), die seinen Kampf gegen Luther eröffnete (351-360). Er berief sich bei seiner Argumentation auf die Tradition der Kirche und wünschte eine Reform und keine Revolution, wie sie von Luther gefordert wurde, der durch seine radikalen Reformen nur Parteiungen, Gewalt und Hass erzeugt habe. Die Antwort des christlichen Bibelhumanisten Erasmus an den Reformator Luther kam jedoch zu spät. (353)

Die direkte Konfrontation mit Luther habe abrupt den Traum beendet, in dem sich Erasmus seit dem Erscheinen des Novum Testamentum 1516 "eingeschlossen" hatte. Er wurde gezwungen, der Wirklichkeit der gespaltenen Christenheit ins Auge zu sehen. Zudem musste er die Attacken abwehren, die seit 1516 von seinen intransigenten katholischen Kritikern gegen den "Fürst der Humanisten" gerichtet wurden: so von den Karmeliter Egmondanus und die Theologen Lee und Latomus, alle von der Universität Löwen, Stunica aus Spanien, Beda und Sutor von der Sorbonne in Paris. Am schärfsten traf ihn die Anklage seines früheren Freundes Ulrich von Hutten, der sich der Reformation angeschlossen hatte und der sich von Erasmus verraten fühlte.

Erasmus' Briefe bezeugen, dass er die ersten Monate des Jahres 1525 in tiefer Verzweiflung verbracht hatte. Sie fand ihren Ausdruck in der Schrift Lingua (De lingua usu ad abusu), die im August 1525 bei Froben erschien. Inzwischen war die Reformation in den Schweizer Städten Zürich, Bern und Basel sowie in Konstanz und Straßburg weit vorgedrungen. Erasmus lehnte es ab, sich für die reformatorische Bewegung instrumentalisieren zu lassen. Am 1. April 1529 führte der Rat der Stadt Basel die reformierte Kirchenordnung ein, am 13. April verließ Erasmus Basel und begab sich in die Stadt Freiburg, die katholisch geblieben war.

Der dritte Teil des Werks beschreibt die sechs Jahre, die Erasmus in Freiburg verbrachte, seine Rückkehr nach Basel 1535 und seinen Tod in Basel am 12. Juli 1536. In Freiburg habe sich Erasmus die Tragik seines Lebens eingestehen müssen. Die Träume seiner Jugend von der Wiederbelebung der apostolischen Zeit durch das Studium der Evangelien und die Lektüre der Kirchenväter seien durch die Reformation endgültig gescheitert. In der Konfrontation mit der wahren Geschichte, die er jetzt erlebte, habe er die Angst entdeckt. Barral-Barons Kommentar zu den letzten Lebensjahren des Erasmus: "Die Geschichte ist eine Hölle." (630)

Aber stimmt diese tragische Deutung seines Endes? Erasmus hatte ein hohes Alter erreicht. Viele Freunde waren vor ihm gestorben, so Pirckheimer 1530, Warham 1532, Gilles 1533, Mountjoy 1534, aber auch seine Gegner wie Zwingli und Oekolampad 1531. Seine Schrift De sarcienda ecclesiae concordia, die 1533 gleichzeitig in Basel, Leipzig, Paris, Köln und Antwerpen erschien, rief ausdrücklich zu einer Versöhnung der miteinander streitenden kirchlichen Glaubensrichtungen auf. 1535, ein Jahr vor seinem Tod, vollendete er sein Buch Über den Prediger (Ecclesiastes: sive de ratione concionandi), das einen Umfang von 444 Folio-Seiten hatte und an dem er zwölf Jahre lang gearbeitet hatte. Es zielte auf eine Reform des Predigtwesens und sprach sowohl katholische wie protestantische Geistliche an. Es wurde in 2600 Exemplaren gedruckt und war eines seiner erfolgreichsten Bücher, das auch das Trienter Konzil beeinflusste.

Die Autorin unterschätzt auch die politische Rolle, die Erasmus trotz seines Alters und seiner Krankheit spielte, so beispielsweise im Umfeld des Reichstags von Augsburg im Jahre 1530. Erasmus war in Augsburg nicht anwesend, wie auch Luther nicht, der sich zu derselben Zeit in Coburg aufhielt. Das hinderte ihn aber nicht, auf einflussreiche Persönlichkeiten in Augsburg einzuwirken. Zur Zeit des Reichtags trafen 36 Briefe aus Augsburg bei Erasmus in Freiburg ein, und 28 Briefe sandte Erasmus von Freiburg nach Augsburg, darunter eindringliche Briefe an den päpstlichen Nuntius Campeggio.

Allerdings, im Sommer 1535 erfuhr Erasmus mit voller Wucht den Schlag der Geschichte. Durch den Brief Konrad Goclenius' aus Löwen vom 10. August erfuhr er, dass in London sein Freund Thomas Morus am 6. Juli 1535 enthauptet worden war. Der mit Erasmus befreundete Bischof John Fisher von Rochester, den Paul III. wenige Tage zuvor zum Kardinal ernannt hatte, war bereits am 22. Juni 1535 hingerichtet worden. Auch die Berichte über die Täuferherrschaft in Münster und deren Niederschlagung hinterließen tiefe Spuren bei ihm.

Die Erasmus-Studie von Barral-Baron unterscheidet sich grundlegend von allen bekannten Erasmus-Biografien, die in den letzten Jahrzenten erschienen sind. Barral-Baron konzentriert sich auf das religiöse Drama, in das Erasmus durch die Reformation einbezogen wurde. Der christliche Humanismus, der Erasmus und Thomas Morus miteinander verband, kommt dabei zu kurz. Das war eine europäische Alternative, die Erasmus und Morus von der nationalen Welt Martin Luthers und "seiner Deutschen" trennten. Der Konfessionalismus, der zu jener Zeit entstand und gegen den sich Erasmus so entschieden wehrte, hatte unbestreitbar eine nationale Komponente. Sie wird aber von Barral-Baron übersehen. Man kann sich fragen, ob die Entstehung der Nationen nicht mehr zur Auflösung der Einheit des Christentums beitrug als die Aufspaltung in Konfessionen? Feiert man in Deutschland bei dem Reformationsjubiläum des Jahres 2017 nicht auch mit der Erinnerung an Luther die Entstehung der deutschen Nation vor 500 Jahren? [1]


Anmerkung:

[1] Vgl. Wilhelm Ribhegge: Erasmus von Rotterdam, Darmstadt 2010, 166-173.

Wilhelm Ribhegge