Hanspeter Marti / Karin Marti-Weissenbach (Hgg.): Nürnbergs Hochschule in Altdorf. Beiträge zur frühneuzeitlichen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 332 S., ISBN 978-3-412-22337-3, EUR 49,00
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Der Band versammelt die Vorträge einer Tagung zur Geschichte der alteuropäischen Universitäten und Hochschulen, die im Mai 2011 im schweizerischen Engi, Kanton Glarus Süd, stattfand, als eine Veranstaltung der dortigen Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen. Deren Gründer und langjährige Leiter, Hanspeter Marti und Karin Marti-Weissenbach, haben den neuen Band herausgegeben und eingeleitet. Demnach hatte man sich mit der Engeler Konferenz an einen Workshop des damaligen Münchner SFB 573 (Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit) von 2009 über den Altdorfer Sozinianismus angeschlossen. [1] Im Unterschied dazu behandelt der neue Band jedoch die Altdorfer Hochschule in einem anderen und auch weiteren Horizont, mit Schwerpunkt "bei der Geschichte des Gelehrten Unterrichts" (13). Gemeint ist vor allem das akademische Qualifikationswesen mit Disputation und Dissertation als den zentralen Institutionen und Textsorten, ein Forschungsgebiet, das Marti seit Jahrzehnten nahezu im Alleingang vorangebracht hat [2] und zu dem auch in diesem Band wieder viel Instruktives zu finden ist. Der weitere Horizont soll im Übrigen durch Profile von Gelehrten und Schultraditionen in allen Fakultäten und Bereichen der Gelehrtenkultur gesichert werden, besonders in Philosophie, Recht und Politik, Medizin und Historie, mit starker Berücksichtigung des Paduaner Neo- und des lutherischen Spätaristotelismus des 17. Jahrhunderts: hierzu besonders Cecilia Muratori über die "Seelentheorien" in der Auseinandersetzung des philosophischen Mediziners Nikolaus Taurellus mit Andrea Cesalpino. Udo Roth handelt von dem berühmten Mediziner Kaspar Hofmann und seinem Umkreis, Michael Philipp über die Politikwissenschaft von Michael Piccart, und Gideon Stiening ordnet den früh verstorbenen Arnold Clapmarius und seine erfolgreichen Arcana rerumpublicarum (seit 1605 in 13 Auflagen) in die Szenerie der politischen Klugheitslehre und Souveränitätstheorie zwischen Machiavelli, Bodin, Botero und anderen ein. Reimund Sdzuj zeichnet das "Werk- und Lehrprofil" des wenig bekannten Lutheraners Daniel Wilhelm Moller nach. Er versah eine Doppelprofessur für Metaphysik und Historie, und an ihm lässt sich der Lehrbetrieb besonders gut charakterisieren.
Man versteht, dass bei diesem Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert das Interesse an der Gründungsgeschichte und Frühzeit der Altdorfer Hohen Schule (kaiserliches Privileg von 1578) nach dem Modell des Straßburger Gymnasium illustre und des Bildungskonzepts von Johann Sturm [3] ganz in den Hintergrund tritt. Umso wichtiger ist dafür der Beitrag von Wolfgang Mährle über die Familie Camerarius, zumal die Brüder Joachim und Philipp, und das melanchthonische Bildungs- und Schulmodell in der Reichsstadt Nürnberg. Aber dass bei der Beleuchtung etwa der juristischen Fakultät zu Recht so berühmte Gelehrte wie Obertus Giphanius, Hugo Donellus, Scipio Gentilis und Konrad Rittershausen, die alle einige Jahre an der Academia Norica lehrten [4], nahezu überhaupt nicht vorkommen, ist unverständlich. Zumal diese Juristen-Philologen wie der aus einer Familie italienischer Emigranten stammende Gentilis zu den typischen Vertretern jener calvinistisch geprägten, aber meist überkonfessionell gesinnten Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus zählten, die dem kleinen Altdorf bis in die ersten Jahrzehnte nach 1600 durchaus internationalen Glanz verschaffte.
Dazu konnten auch die mit dem Namen des philosophischen Mediziners Ernst Soner verbundenen kryptosozianianischen 'Umtriebe' beitragen, die von den Nürnberger Autoritäten verfolgt wurden, weil sie angeblich das Ansehen der Hochschule beschädigten - aber dies natürlich vor allem aus der Sicht der inzwischen dominierenden lutherischen Orthodoxie. Das Thema hat Altdorf zumal seit der großen Monografie Mährles, die sich auf die Frühzeit bis zur Aufrichtung der Semiuniversitas konzentriert [5], zu einem attraktiven Fixpunkt für das heutige Interesse an der genannten europäischen Gelehrtenkultur um 1600 gemacht (von denen es in Deutschland sonst nicht so viele gibt), aber es ist in dem neuen Band nur durch zwei Beiträge vertreten: Marti selbst handelt eingehend von der antisozinianischen Übungsdisputation des lutherischen Theologen Jakob Schopper vom Oktober 1613, die dann bald auch zur Verfolgung der antitrinitarischen Häretiker geführt hat, den Theses de sacrosancta unitate divinae essentiae.
Auf ganz andere Weise beschäftigt sich Eric Achermann in seinem Beitrag mit dem Thema, indem er im viel weiteren Rahmen des Verhältnisses von Aristotelismus und Sozinianismus in einer partiell mikrologischen Argumentation, die sich auf Soners Metaphysik-Traktate konzentriert, der Frage nachgeht, was überhaupt an dieser mehr oder weniger 'kryptischen', immer auch Photinianismus oder Arianismus genannten Sozzini-Nachfolge 'dran' war. Das Ergebnis ist bestenfalls Skepsis: Soners Philosophie und Methode könnten nicht "in die Nähe zeitgenössischer sozinianischer Bekenntnisse gerückt werden" (156) noch könne "von einer deistischen Verbannung Gottes in die reine Transzendenz" die Rede sein, "weder bei Soner noch bei einem anderen Altdorfer Aristoteliker" (157). Achermanns Beitrag ist nicht nur der umfangreichste, sondern auch bei der Höhe seines analytischen Anspruchs der bei weitem wichtigste des Bandes. Er zitiert ausführlich immer aus den Primärquellen, übersetzt jedes längere Zitat (allein seine Übersetzungen sind lesenswert!), und seine methodisch sorgsam und höchst überzeugend erzielten Ergebnisse sind geeignet, nicht weniger als einen Grundkonsens über die Attraktivität der Altdorfer Heterodoxie in Frage zu stellen. Nicht zuletzt ihretwegen ist zu hoffen, dass Achermanns Ergebnisse Folgen haben. Die künftige Forschung wird sich damit gründlich auseinandersetzen müssen.
Anmerkungen:
[1] An jenen Münchener Workshop schloss im Dez. 2010 eine Konferenz an, deren Vorträge in einem ebenfalls bemerkenswerten Band erschienen sind: Friedrich Vollhardt (Hg.): Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur, Berlin 2014; vgl. dazu Verf. in: Germanistik 55 (2014), H. 3-4 (in Vorber.).
[2] Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660-1750: eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti, München 1982; vgl. auch ders.: Art. Disputation, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), 866-880, und Art. Dissertation, ebd., 880-884.
[3] Vgl. Verf.: Art. Sturm(ius), Johannes, in: NDB 25 (2013), 654-656.
[4] Zu diesen Gelehrten vgl. die Art. in: Verf.: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Bd. 1., Berlin 2004; zu Giphanius und Rittershausen auch Art. des Verf. in: 2Killy Literaturlexikon, Bd. 4 (2009), 220-222 (Giphanius), und Bd. 9 (2010), 676-677 (Rittershausen).
[5] Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575-1623) (= Contubernium; Bd. 54), Stuttgart 2000; und ders.: Eine Hochburg des "Kryptocalvinismus" und des "Kryptosozinianismus"? Heterodoxie an der Nürnberger Hochschule in Altdorf um 1600, in: Mitteilung d. Vereins f. Geschichte d. Stadt Nürnberg 97 (2010), 195-234; vgl. auch: Hanns Christoph Brennecke / Dirk Niefanger / Werner Wilhelm Schnabel (Hgg.): Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs (= Beihefte zum Archiv f. Kulturgeschichte; Bd. 69), Köln / Weimar / Wien 2011; darin auch viel zum Sozinianismus-Thema.
Herbert Jaumann