Matthias Asche / Manfred Rudersdorf / Markus Wriedt (Hgg.): Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550 (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie; Bd. 26), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, 565 S., ISBN 978-3-374-04112-1, EUR 58,00
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Die Universität Wittenberg wurde im Jahr 1502 vom Sächsischen Kurfürsten der Ernestinischen Linie Friedrich III. dem Weisen gegründet. Die lateinische, adjektivische, Namensform Leucorea (sc. universitas) leitet sich her vom griechischen leukòn óros (weißer Berg, d.i. Witten-Berg). [1] Die ersten Jahrzehnte der neuen Hochschule in der kleinen Haupt- und Residenzstadt der Wettiner standen im Zeichen vielfacher Reformen und eines von Anfang an starken humanistischen Einflusses durch Persönlichkeiten wie Nikolaus v. Amsdorff, Hermann von dem Busche und Christoph Scheurl, Georg Burghard aus Spalt (Humanistenname: Spalatin), Hermann Trebelius und Fabritius von Vacha (Phacchus), dem Jugendfreund Ulrich von Huttens. Entscheidend war dann die Berufung zweier sehr junger Gelehrter: Martin Luthers aus Erfurt (geboren 1483), der 1508 nach Wittenberg kam und 1512 den Lehrstuhl (die "Bibel-Professur") von Johann v. Staupitz übernahm, Augustinermönch wie er selbst und sein geistlicher Mentor und Beichtvater, und des Gräzisten Philipp Melanchthon (geboren 1497), eines jungen Magisters und Schülers von Johannes Reuchlin in Tübingen, dem 1518 mit einundzwanzig Jahren die neu gestiftete Griechisch-Professur übertragen wurde. Beide trieben die Reformen energisch voran bis zur sogenannten Neufundation von 1536 und den von Melanchthon entworfenen neuen Statuten von 1545.
Die Konturen und Strukturen des "Erfolgsmodells" (5) Leucorea seit der Neufundation und also seit den Jahrzehnten des späten Melanchthon ist der Gegenstand dieses Bandes, der auf eine internationale Konferenz der Stiftung Leucorea von 2010 aus Anlass des 450. Todesjahres von Philipp Melanchthon zurückgeht. Die Leucorea wurde in der Frühen Neuzeit seither, neben wenigen anderen Universitäten wie Heidelberg, Genf oder später Leiden, zu einem "protestantischen Gravitationszentrum in Mitteleuropa" (5). Neben der anfänglichen Orientierung an Tübingen war es einerseits die enge Beziehung zu Erfurt, z.B. auch zu den dortigen Augustinern über den 1504 in Wittenberg gegründeten Augustinerkonvent und dessen erstem Prior Johann v. Staupitz, und andererseits die beständige Konkurrenz zur wenig später (1506) eröffneten brandenburgischen Universität in Frankfurt/Oder, der am Modell Leipzig orientierten Viadrina, unter deren Bedingungen dieser Prozess ablief. Ihm trägt die Grobgliederung des Bandes in vier Sektionen Rechnung: (I) Ideelle und institutionelle Transformationsprozesse der Leucorea bis zu Melanchthons Tod, (II) Die Rezeption der Wittenberger Bildungsreformen durch Melanchthon-Schüler an lutherischen Universitäten im Reich, (III) Die Diffusion gelehrter Wissensbestände der Leucorea und (IV) Die Leucorea als sozialer und kultureller Raum um die Mitte des 16. Jahrhunderts.
In den sechs Beiträgen zu (I) geht es um Lehrpersonal und Lehrprofil in der Theologischen, Juristischen und Artistischen bzw. Philosophischen Fakultät. Von der letzteren, zu der auch die von Melanchthon geförderten Fächer Physik, Mathematik und Astronomie gehörten, handelt Heinz Scheible; enttäuschend ist hier dessen apologetische Abfertigung der da und dort geäußerten Kritik an der Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes durch seinen Helden sowie die unzureichende Darstellung einer so faszinierenden Gestalt wie der seines Schülers Joachim Rheticus. [2] Zuvor beleuchtet Martin Treu "Das geistige Klima vor der Ankunft Melanchthons", darin sehr instruktiv u.a. über den Einfluss der Humanisten und der Bedeutung des Augustinerkonvents. Sektion II behandelt das Wirken von Joachim Camerarius, eines der engsten Melanchthon-Freunde, in Leipzig (Manfred Rudersdorf), die Wittenberg-Rezeption in Jena (Daniel Gehrt) und "David Chytraeus in Rostock und Helmstedt" (Harald Bollbuck). Matthias Asche schreibt über Georg Sabinus, den ehrgeizigen Poeten, Schüler und Schwiegersohn Melanchthons, der an der Viadrina und in Königsberg, der 1544 neu gegründeten Albertina, lehrte. Leider scheint es Asche, der den Band zusammen mit Daniel Bohnert mit einem nützlichen Referat über Perspektiven der Forschung und die Überlieferungssituation einleitet, auch hier mehr um die Bibliografie als um das eigentliche Thema zu gehen; schon der Raum, der vom Fußnotenapparat eingenommen wird, dürfte den Platz, der für den Haupttext noch übrigbleibt, weit übertreffen. Die Gestalt des Sabinus und seines Umfelds oder gar jene von Anna Melanchthon, seiner ersten Ehefrau, die 1547 nach gescheiterter Ehe und der Geburt des Sohnes Albrecht mit 24 Jahren stirbt, wird in diesem nur mühsam lesbaren Text in ihren vielfachen Bezügen und Aspekten nicht deutlich. [3] Erfreulich ist immerhin, dass die meisten Abhandlungen in diesem schweren Band den Leser mit solcherart bibliografischer Exuberanz verschonen, die, für den wissenschaftlichen Leser selbstverständlich nützlich, wohl doch in ein anderes Publikationsgenre als in eine öffentlich geförderte Buchreihe gehört. In Sektion III findet man Beiträge zur weitreichenden Wirkung und "Ausstrahlung" einzelner in Wittenberg geförderter Fächer und ihrer Leistungen: so zur pastoralen Pädagogik, d.h. zur "Ausbildungspraxis der Pfarrer" (Robert Kolb) und zur "Ausstrahlung der Naturrechtslehre Melanchthons" (von Isabelle Delfers). Ein weiterer Beitrag handelt von der Wittenberger Rechtspraxis, und zwei untersuchen Theorie und Praxis der Wittenberger Medizin.
Nicht zu übersehen ist schließlich, dass in Sektion IV Themen untergebracht werden, die man früher zur Sozialgeschichte gerechnet hätte und die heute zu etwas wie Restkategorien geworden sind. So informiert Ulrike Ludwig hier anschaulich über Wohnverhältnisse und Versorgung der Wittenberger Studenten. Daneben ist man sichtlich bemüht, auch neueren Forschungsfragen etwas Platz einzuräumen, etwa einem Beitrag von Thomas Töpfer mit anregenden Erörterungen über Diskursperspektiven der "Selbst- und Fremdwahrnehmung der Universität Wittenberg in den Krisenzeiten um 1550", sowie Marian Füssel mit einer besonders ergiebigen und lesbaren Darstellung der "Inszenierung der Wittenberger Professoren um 1550".
Anmerkungen:
[1] Nicht unbekannt war auch eine lateinisch-griechische Namensform: "Albiorium" oder "Albioris", von lat. albus (weiß) u. griech. óros.
[2] Vgl. dagegen Herbert Jaumann: Art. Rheticus, Georg Joachim, in: 2Killy Literaturlexikon, Bd. 9 (2010), 601-605, auch mit der neueren Literatur.
[3] Dem vielleicht dennoch (oder erst recht) am Thema interessierten Leser möchte man zur Ergänzung eine Darstellung in einem ganz anderen, ganz unbibliografischen Genre empfehlen: den kleinen Roman Anna Melanchthon von Eva Hoffmann-Aleith, Berlin/DDR 1954. Eva Hoffmann-Aleith (1910-2002) lebte seit den 30er-Jahren als Theologin in Brandenburg, später auch in der DDR, und hat sich als Vorkämpferin für das Amt der selbständigen Pastorin und daneben als Verfasserin mehrerer biografischer Romane über bedeutende Frauen einen Namen gemacht.
Herbert Jaumann