Jens Blecher / Jürgen John (Hgg.): Hochschulumbau Ost. Die Transformation des DDR-Hochschulwesens nach 1989/90 in typologisch-vergleichender Perspektive (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena; Bd. 16), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 326 S., ISBN 978-3-515-12961-9, EUR 56,00
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Der vorliegende Band vereint die Beiträge einer Tagung zur Transformation des DDR-Hochschulwesens in das Wissenschafts- und Hochschulsystem der Bundesrepublik nach 1990. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie eine vergleichende Typologie des ostdeutschen Hochschulumbaus nach 1990 gelingen kann, die über die bisherigen Debatten und Deutungsmuster zu verschiedenen Fallanalysen zur Transformation der ostdeutschen Hochschulen hinausgeht. Jens Blecher und Jürgen John halten in ihrer Einleitung diesen vergleichenden Ansatz für geboten, da die bisherige Forschung kaum über typologische Kriterien zur Transformation von Wissenschaft und Hochschulen nach 1990 nachgedacht habe. Zugleich bietet der Band einen informativen Überblick über die für das Thema verfügbaren Archivquellen.
Die inhaltliche, strukturelle und personelle Umgestaltung der ostdeutschen Universitäten und Hochschulen nach westdeutschem Modell verlief je nach Land, Hochschule und Fachdisziplin recht unterschiedlich. Dennoch lassen sich hochschul- und länderspezifische Grundmuster und Handlungsprofile ableiten. In diesem Sinne definiert Jürgen John vier "Transformationstypen", mit denen sich eine vergleichende Typologie für den "Hochschulumbau Ost" aufstellen lasse: Erstens der Typ der älteren bzw. traditionellen Universität wie beispielsweise die Universitäten in Berlin, Leipzig, Halle und Rostock. Dort stünden sehr komplexe Fragen nach der "inneren Transformation" (Binnenstruktur, Personal, Forschungs- und Lehrinhalte) im Vordergrund. Die in der DDR gebildeten Technischen Universitäten (u.a. in Dresden und Chemnitz) definiert John als einen zweiten "Grundtyp". Die nach 1990 neu gebildeten Technischen Universitäten (u.a. in Cottbus und Ilmenau) ordnet er als einen dritten Typ ein. Die nach 1990 neu gegründeten Universitäten (u.a. in Potsdam, Frankfurt Oder und Erfurt) bilden den vierten Typ, wobei John bei dieser Gruppe noch weitere binnentypologische Unterschiede sieht. Als sinnvoll erachtet es der Herausgeber, Vergleichsbeispiele innerhalb dieser vier "Grundtypen" zu wählen, da Fragen nach strukturellen, personellen und ideologischen Belastungsfaktoren bei traditionellen Universitäten einerseits und universitären Um- und Neugründungen andererseits sehr unterschiedlich gewichtet werden müssten.
Die Beiträge verweisen zwar auf bestimmte Grundmuster der ostdeutschen Hochschultransformation, zeigen aber auch, dass die Angleichung an die westdeutsche Hochschullandschaft keinem einheitlichen Schema im Sinne strategisch vorbereiteter und ausgearbeiteter Verfahren folgte. Vielmehr wird die deutsch-deutsche Wissenschafts- und Hochschulzusammenführung als eine unvorhergesehene Kollision zweier fremder Wissenschaftskulturen mit den damit zusammenhängenden Folgen beschrieben. Generell wird die regionale Differenziertheit betont, die aus den länderspezifischen Unterschieden beim strukturellen Umbau des Hochschulsystems resultierte. So wurden beispielsweise in einigen Ländern die in der DDR gebildeten Fachschulen und Pädagogischen Hochschulen aufgelöst, in anderen jedoch an die neu gebildeten oder die bereits bestehenden Universitäten angegliedert.
Mehrere Autoren plädieren für eine kritisch-differenzierende Sicht auf die personellen Austauschprozesse während des Hochschulumbaus. Dies betrifft vor allem den Abbau eines Großteils des Personals an den ostdeutschen Hochschulen, Universitäten und außeruniversitären Akademieinstituten, den Peer Pasternak auf insgesamt ca. 60 Prozent schätzt. Als besonders problematisch bezeichnet Pasternak den Umstand, dass es nur wenigen aus der jüngeren und mittleren ostdeutschen Wissenschaftlergeneration gelang, sich in den seit 1990 neu organisierten akademischen Betrieb zu integrieren. Die daraus folgende mangelnde Präsenz ostdeutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Leitungsgremien deutscher Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen setzt sich bis heute fort. Allerdings kann Mitchell G. Ash die bislang vorherrschende These relativieren, dass bei der Neubesetzung der Professorenstellen überwiegend westdeutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neu berufen worden seien. So habe der Anteil der neu berufenen Professorinnen und Professoren mit westdeutscher Sozialisation an allen ostdeutschen Hochschulen im Jahre 1995 lediglich bei 41 Prozent gelegen, wogegen der Anteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ostdeutscher Berufsbiografie 56 Prozent betragen habe. Lediglich drei Prozent der neu Berufenen seien aus dem Ausland gekommen.
Mit dieser sicherlich doch etwas überraschenden Statistik sollte allerdings auch differenziert umgegangen werden. Bekanntermaßen war das quantitative Ausmaß des Personalaustauschs innerhalb der Fachgebiete auch regional äußerst unterschiedlich. Innerhalb der als "systemnah" eingestuften Geisteswissenschaften war die Berufung von ostdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf Professorenstellen doch eher die Ausnahme. Zudem darf der Austausch des mittleren wissenschaftlichen Personals an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen nicht übersehen werden.
Aus nahezu allen Beiträgen spricht der Befund, dass der strukturelle Aspekt des ostdeutschen Hochschulumbaus nach 1990 alle anderen überlagerte bzw. prägte. Insofern würde auch der Begriff Hochschulreform in die Irre führen. Denn es habe sich lediglich um einen Transfer jenes Universitäts- und Hochschulsystems gehandelt, das in der Bundesrepublik bis 1989 bestand. Aus diesem Grund bezeichnet Stefan Gerber den "Hochschulumbau Ost" universitätsgeschichtlich auch als ein Novum: "Die zumindest idealtypische Rückübertragung einer Gesamtstruktur, die de facto natürlich vielfach schnell eine lokal unterschiedliche Ausprägung erfuhr, war ohne universitätsgeschichtliches Vorbild." (110) Mithin folgte, so wäre hinzuzufügen, dieser Transfer dem Narrativ der westdeutschen Erfolgsgeschichte, in der die Überlegenheit des westlichen Gesellschaftsmodells zum Maßstab für gesellschaftspolitische Entscheidungen wurde. Auch deshalb blieben gesamtdeutsche Reformen in Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft aus.
Mit diesem Tagungsband kann erwartungsgemäß kein Gesamtbild des ostdeutschen Hochschulumbaus nach 1990 gezeichnet werden. Dies war auch nicht die Absicht der Herausgeber. Er bietet jedoch nicht nur systematisierte Erkenntnisse über die regional recht unterschiedlichen Vorgänge sowie das Ausmaß der Strukturveränderungen und des Elitenaustauschs in Ostdeutschland, sondern auch wichtige Anregungen zur weiteren Erforschung der ostdeutschen Hochschultransformation. Hierbei könnte der gewählte typologisch-vergleichende Ansatz für die Forschung durchaus anregend sein. Nicht zuletzt sind die in diesem Band gewählten Vergleichskriterien hilfreich, wenn es um den noch ausstehenden Vergleich mit dem Hochschulwandel in Osteuropa geht.
Andreas Malycha