Marcus Mühlnickel: "Fürst, sind sie unverletzt?". Attentate im Kaiserreich 1871-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 337 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77860-4, EUR 34,90
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Zwei Attentate auf Wilhelm I. ebneten Bismarck 1878 den Weg zum Sozialistengesetz. Hatte der Klempnergeselle Max Hödel sein Ziel im Mai noch verfehlt, so verletzte der mittellose Akademiker Karl Eduard Nobiling den über 80jährigen Kaiser nur drei Wochen später erheblich. Die öffentliche Empörung schlug hohe Wellen, und Bismarck löste den Reichstag auf, um mit Neuwahlen eine ihm genehme konservative Mehrheit jenseits der Liberalen zu erreichen. All dies ist bekannt, eine Gesamtdarstellung über die Anschläge auf das Führungspersonal im Deutschen Kaiserreich fehlte allerdings bislang.
Im Unterschied zu den meisten anderen Staaten dieser Epoche gelang es im Kaiserreich keinem Attentäter, sein Opfer zu töten. Blickt man nur auf die größeren Staaten, dann sind etwa die Morde am russischen Zaren Alexander II. (1881), an der österreichischen Kaiserin Elisabeth (1898) oder am italienischen König Umberto I. (1900) am bekanntesten. Betroffen waren aber auch die nicht monarchischen Staaten der Zeit, davon zeugen der Tod des französischen Staatspräsidenten Marie François Sadi Carnot (1894) und der des amerikanischen Präsidenten William McKinley (1901). Wie das Sozialistengesetz zeigt, blieben die misslungenen Anschläge auch im Kaiserreich freilich nicht folgenlos - weder für die politische Landschaft noch für Täter und Opfer. Den Bedeutungen und vielfältigen Folgen der Attentate im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg spürt Marcus Mühlnikel in seiner Bayreuther Dissertation nach, wobei er sich auf die politische Führung des Reiches konzentriert. Ausgewertet hat er rund 25 Archive, von der Überlieferung der politischen Polizei im Landesarchiv Berlin und verschiedener anderer Landesarchive über die Akten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz und des Bundesarchivs bis hin zum Archiv des Bremer Klinikums Ost. Darüber hinaus schöpft er aus gedruckten Quellen: etwa aus Memoiren, der Neuen Friedrichsruher Ausgabe oder den stenographischen Berichten des Reichstags.
Mühlnikel gliedert seine Arbeit in drei größere Abschnitte. Im ersten Kapitel beschreibt er chronologisch, detailliert und quellennah die wenigen Anschläge. In den Blick geraten der jeweilige Tathergang, die Attentäter, ihre Motive und ihr (politisches) Umfeld, ebenso die polizeilichen Ermittlungen und Vernehmungen. Hier finden sich auch Ausführungen zu den sich gegebenenfalls anschließenden Prozessen und Hinrichtungen bzw. zum weiteren Verbleib der Täter bzw. - in einem Fall - der Täterin. Festzuhalten ist: Nicht alle Taten waren politisch motiviert. Die Würfe mit einem Beil (Selma Schnapka, Breslau 1900) und mit einem Eisenstück (Diedrich Weiland, Bremen 1901) auf Wilhelm II. erklärt Mühlnikel beide mit Wahnvorstellungen. Bei den Attacken Hödels und Nobilings kann er deren bekanntermaßen verworrenen Absichten nur wenig neue Details hinzufügen. Er macht eine "schwierige Persönlichkeitsstruktur" (103) und fehlende (finanzielle) Perspektiven als wichtige Ursachen aus, wenngleich beide in sozialistischen, teils anarchistischen Kreisen verkehrten und insbesondere Hödel seine politischen Ansichten durch Beziehungen zu bekannten Anarchisten radikalisierte. Das Attentat des Böttchergesellen Eduard Kullmann auf Bismarck (1874) und den fehlgeschlagenen Sprengstoffanschlag der Elberfelder Anarchistengruppe um August Reinsdorf auf den Niederwald-Festzug (1883) stuft Mühlnikel als politisch motiviert ein. Während Kullmann mit Bismarck den Urheber des Kulturkampfes und einen Katholikenfeind töten wollte, beabsichtigte die Reinsdorf-Gruppe, die Arbeiterschaft aufzuwiegeln und die Revolution herbeizuführen.
Um die Wahrnehmung der Attentate und den Umgang mit der Bedrohung dreht sich der zweite Abschnitt. Wilhelm I. ordnete sie in sein religiöses Weltbild ein, sah sich von einer göttlichen Fügung geschützt. Bismarck dagegen nutzte das Kullmann-Attentat ebenso wie diejenigen auf Wilhelm I. vor allem politisch gezielt aus, wobei ihm die Bedrohung zugleich emotional zusetzte - so sehr, dass er danach zumeist eine Waffe mit sich führte und sich auch mit den berühmten Reichshunden, den Doggen Sultan und Tyras, umgab. Auch wenn die erfolgreichen Attentate in anderen Staaten im Reich mit Schrecken wahrgenommen wurden: Im Unterschied zu seinem Vater Friedrich III. ignorierte Wilhelm II. die Anschlagsgefahr, zeigte sich aber in der Verarbeitung beeinflussbar - neben seiner militärischen Umgebung wird insbesondere die Rolle seiner Frau Auguste Victoria unterstrichen, die ihn gegen die Attentäter aufbrachte. Mühlnikel übersieht bei seinem Blick auf die Opfer indes, dass die demonstrative Missachtung der modernen Terrorgefahr - entschlossenes und mutiges Auftreten im Angesicht der Attentäter - auch eminent politische Wirkungen entfaltete, denn Kaiser wie Kanzler stabilisierten mit ihrer - in zeitgenössischen Abbildungen stilisierten - Haltung die gesellschaftliche Ordnung, bewahrten und steigerten das Ansehen der Monarchie. [1]
Die letzte größere Passage ist den Schutzmaßnahmen verpflichtet. Die Aufmerksamkeit gilt dabei den rechtlichen Rahmenbedingungen, den polizeilichen Ermittlungen sowie dem Personenschutz für Kanzler und Kaiser. Mühlnikel betont insbesondere, dass das Gefühl der Bedrohung ernst genommen werden müsse und das Jahr 1878 eine Zäsur darstellte. Die Furcht vor weiteren Attentaten ging um, weshalb das Sozialistengesetz nicht nur als Ausnahmegesetz gegen die sozialistische Bewegung, sondern auch als "Präventivmaßnahme gegen weitere Anschläge" (245) verstanden werden müsse. Ebenso trugen die Attentate auf Wilhelm I. und die Ermordung des russischen Zaren Alexander II. zu einer Ausweitung des Personenschutzes sowie zu einer erheblichen Aufstockung der politischen Polizei in Berlin bei; schon 1881 waren dort fast zehnmal mehr Beamte tätig als noch 1878 (188). Die Überwachung und Bespitzelung der sozialistischen und anarchistischen Szene nahm erheblich zu. Eine vor allem von Deutschland und Russland gewünschte europäische Zusammenarbeit in der Terrorabwehr kam dagegen nicht zustande, allerdings kooperierten die Polizeibehörden der Bundesstaaten in der Folge intensiver miteinander.
Insgesamt bietet die flüssig zu lesende Studie einen soliden Überblick und fördert so manches neue Details zu Tage, man vermisst allerdings in der sehr kurzen Einleitung (9-11) methodisch-theoretische Überlegungen und ebenso eine umsichtige Einordnung in das produktive Forschungsfeld. Denn Attentate, Terror und Terrorismusbekämpfung sind nicht erst in jüngster Zeit stärker in das Blickfeld der historisch arbeitenden Disziplinen gerückt. Die Anschläge vom 11. September 2001, der Krieg gegen den Terror und die Folgen für die Gesellschaften haben ein bereits vorhandenes Interesse nur noch weiter gesteigert. [2]
Anmerkungen:
[1] Die These - vor allem am Beispiel des Attentats auf Alexander II. im März 1881 - findet sich bei: Carola Dietze / Frithjof Benjamin Schenk: Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), 368-401.
[2] Weiterführende Perspektiven eröffnen etwa folgende Titel, die Mühlnikel nur teilweise berücksichtigt hat: Martin Schulze Wessel: Terrorismusstudien. Bemerkungen zur Entwicklung eines Forschungsfeldes, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), 357-367. Jonathan Stevenson: Counter-Terrorism. Containment and Beyond, Oxford 2004. Gérard Chaliand / Arnaud Blin (eds.): The History of Terrorism. From Antiquity to Al Qaeda, Berkeley 2007. Isaac Land (ed.): Enemies of Humanity. The Nineteenth-Century War on Terrorism, New York 2008. Karl Härter / Beatrice de Graaf (Hgg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012.
Nils Freytag