Sebastian Barsch / Wolfgang Hasberg (Hg.): Inklusiv-Exklusiv. Historisches Lernen für alle, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, 238 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-8997-4992-2, EUR 19,90
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Christoph Kühberger / Robert Schneider (Hgg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2016
Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte, Göttingen: V&R unipress 2021
Thomas Töpfer: Die "Freyheit" der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600-1815, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
"Wie sieht denn eigentlich ein König aus?" [1] scheint generell eine relativ leicht zu beantwortende Frage. Ein ganz anderes Gewicht bekommt sie hingegen, wenn sie blinden oder hochgradig sehgeschädigten Kindern und Jugendlichen gestellt wird. Frage und Antwort machen möglicherweise auch weitreichende geschichtsdidaktische Überlegungen erforderlich. Diese zeichnen sich bisher jedoch kaum ab. Das vorliegende Buch will dies ändern und unternimmt den innovativen Versuch, historisches Lernen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zu erörtern. Zu Recht versteht sich der Sammelband daher als "ein Anfang, dem weitere Arbeiten folgen müssen." (7) Diese lohnenden Anfänge finden sich als "Berichte aus der Praxis" im zweiten Teil des Buches. Dort geht es um "Theaterarbeit und historisches Lernen an der Förderschule" (Katja Lehmann), die Problematik der Begriffsbildung im Geschichtsunterricht mit sehgeschädigten Schülern (Viola Theyßen), das Thema Französische Revolution im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (Simon Baumann), eine Unterrichtseinheit zum Alten Ägypten an der Förderschule (Michaela Merz) sowie einen knappen Beitrag zum Thema Nationalsozialismus im Unterricht der Förderschwerpunkte Lernen und emotionale bzw. soziale Entwicklung, der den freilich etwas merkwürdigen Titel "Nach dem/den Rechten sehen" trägt.
Bemerkenswert ist nun, und dies wird auch einleitend eingeräumt, dass es sich beim Titel des Buches "in gewisser Weise" um eine "Mogelpackung" handelt. (7) Denn die im Praxisteil publizierten Beiträge befassen sich gar nicht mit dem historischen Lernen in inklusiven Settings, sondern zeigen, wie Geschichtsunterricht bisher an Förderschulen stattgefunden hat. Sie sind also im Grunde eher "exklusiv" als "inklusiv", da sie exemplarische, durchweg aufschlussreiche Einblicke in das historische Lernen im Kontext bestimmter sonderpädagogischer Förderbedarfe bieten - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.
Auf strittige Fragen und damit Grundprobleme der Inklusionsdebatte weisen insbesondere die im ersten Teil versammelten fünf Beiträge hin. Sie thematisieren die Problematik des historischen Lernens in den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, Blindheit bzw. hochgradige Sehschädigung und Hören (Oliver Musenberg, Michael Austermann, Annette Leonhardt). Oliver Musenberg zeigt dabei im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung durchaus mehrere "fachdidaktische Leerstelle(n)" auf. (67) Dass diese "Leerstellen" mitunter gravierende Folgen haben können, wird deutlich, wenn Musenberg auf ein Grundproblem zwischen der bildungspolitischen Dynamik der Standardisierung und Output-Orientierung und der Forderung nach einer inklusiven Schule hinweist. Konsequent zu Ende gedacht könnten Kompetenzmodelle und deren Graduierungslogik für eine heterogene Schülergruppe, die etwa auch Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung einschließt, genau dann zum Problem werden, wenn eine Niveaustufe als Mindeststandard festgelegt wird, die sich dann aber als Minimalhürde mit verbindlichem Charakter erweisen dürfte.
Geradezu kontrovers ist schließlich das Verhältnis der beiden ersten Beiträge des Bandes, die von den Herausgebern stammen. Wolfgang Hasberg unterzieht zunächst aktuelle Tendenzen der Inklusionsdebatte einer kritischen Analyse. Er konstatiert etwa in Auseinandersetzung mit seinem Kölner Kollegen, dem Erziehungswissenschaftlicher Kersten Reich, dass in dessen Begründung von Inklusion der Trendbegriff der Diversität eine normative Aufladung erfahre. Statt eine gesellschaftliche Tatsache und Ausgangsbedingung pädagogischen Handelns zu beschreiben, werde Diversität zu einer "neuen Norm" und Inklusion "vom Ziel zum Weg zur Diversität." (12f.) Weithin ungelöst ist für Hasberg auch die Frage nach den Strukturen. Denn wenn es die Strukturen sind, welche die Ungleichheit zwischen Menschen verursachen oder zumindest befördern, dann müssten konsequenterweise auch diese Strukturen beseitigt werden. Für Hasberg wird hier die Symptomatik eine Debatte deutlich, die "längst weltanschauliche Züge angenommen hat". (13) Verständlich, wenn Hasberg angesichts des "offenkundigen Wildwuchses" (11) der Inklusionsdebatte einen Neuanfang fordert und diesen unter Hinwendung zum eigentlichen Thema, dem historischen Lernen, knapp, aber überzeugend skizziert.
Hasbergs Ausführungen stehen damit im offenkundigen Gegensatz zu einigen Positionen, die Sebastian Barsch in seinem unmittelbar folgenden Beitrag "Narrative der Vielfalt" ausführt. Unter dem Vorsatz, sonderpädagogische Potenziale für das historische Lernen zu eruieren, findet sich dort eben jene von Hasberg hinterfragte und in ihren Defiziten offengelegte Vermischung von Inklusion und Diversität, denn - so Barsch - "Inklusion und Diversität gehen ineinander über." (42) Für Hasberg müsste genau dies ein Beleg dafür sein, wie ein gewisses Inklusionsverständnis "Gefahr läuft, Diversität zu verherrlichen anstatt Gemeinsamkeiten zu pflegen." (13) Demgemäß könnte mit Hasberg generell bezweifelt werden, ob mit der immer wieder anzutreffenden Ausweitung des Inklusionsbegriffs tatsächlich demjenigen Ziel gedient ist, um das es ja wohl eigentlich geht: der Integration von Menschen mit Behinderung. So scheint es auch wenig überzeugend, wenn unter Bezugnahme auf Jörn Rüsen versucht wird, die "Akzeptanz der Narrativitätstheorie" als "Ausdruck der Diversifizierung in postmodernen Gesellschaften" zu deuten. (41) Wer Rüsen in seiner kürzlich erschienenen "Historik" liest, könnte einen anderen Eindruck bekommen. [2]
Aber auch auf die im Beitrag Hasbergs angedeutete Strukturfrage kommt Barsch zu sprechen - und zwar hinsichtlich des gegliederten Schulsystems. Galt dieses lange Zeit als gerecht, so würde es heute "als Instrument zur Festigung hegemonialer Herrschaftsstrukturen" verstanden (42), was zumindest terminologisch fragwürdig ist. Zudem wird Georg Feusers "entwicklungslogische Didaktik" als "ein gangbarer Weg" für den gemeinsamen Unterricht in inklusiven Settings erwähnt, gleichwohl aber zugestanden, dass Feusers Theorie "empirisch nicht hinreichend bezüglich ihrer Wirkung überprüft wurde." (57) Schließlich wäre auch zu fragen, ob das hier angedeutete Inklusionsverständnis nicht selbst exkludierende Züge anzunehmen droht. So werden Zweifel geäußert, ob "die Didaktik der Geschichte die geeignete Disziplin ist, in Fragen der Inklusion Stellung zu beziehen", weil es dieser, wie anderen Fachdidaktiken auch, "nicht ausschließlich um die Pragmatik des Faches im jeweiligen schulischen Kontext, sondern auch um eine theoretische Konsolidierung der jeweiligen Disziplin" gehe. (51) Geschichtsdidaktik als reine Schulfachpragmatik? Dies wäre zumindest ein sehr irritierender Befund, der freilich gegen Ende wieder relativiert wird. Dort formuliert Barsch wiederum das völlig konsensfähige Fazit, dass nämlich Behinderung eine von vielen Kategorien ist, "deren Wirken auf das Geschichtsbewusstsein analysiert werden muss [...]." (59)
Zu Recht nimmt das Buch für sich in Anspruch, ein "erster Schritt" zu sein, und zwar ein solcher - wie der Klappentext verheißt - mit dem die Geschichtsdidaktik "manch anderem Fach vorauseilt." Freilich sollte gerade beim raschen Vorauseilen bedacht werden, dass vor einer bisweilen fast schon kompensatorisch anmutenden Bekräftigung des "historischen Lernens für alle" die diesbezügliche empirische Grundlagenforschung stehen müsste - und zwar bei den mehr oder minder Förderbedürftigen. Andernfalls wäre der zweite Schritt vor dem ersten getan.
Anmerkungen:
[1] So der Titel des Beitrags von Viola Theyßen, ebd., 153-163.
[2] Vgl. dazu die Besprechung von Rüsens "Historik" (2013): http://www.sehepunkte.de/2014/06/24410.html
Julian Kümmerle