Rezension über:

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2014, 1007 S., 77 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-66075-7, EUR 38,00
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Rezension von:
Klaus Ries
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Ries: Rezension von: Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/24710.html


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Dirk Kaesler: Max Weber

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Wofür steht Max Weber? Max Weber steht für vieles in der Wissenschaft, für Methodisches, für Theoretisches und auch für Empirisches. Gerade letzteres vergisst man allzu leicht: Max Weber war nämlich zuerst und zuletzt Empiriker. Das zeigen schon seine frühen Studien über die Handelsgesellschaften der mittelalterlichen Städte Italiens, über die römische Agrargeschichte und über die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Weber hat all seine Begriffe, Methoden und Theorien in erster Linie empirisch erarbeitet und abgeleitet. In der scientific community steht Weber heute z.B. für die sogenannte Protestantismus-These, wonach der Geist des Kapitalismus seine wesentlichen Wurzeln in der protestantischen Ethik fand; weiter - ganz rhapsodisch - für die Bildung von Idealtypen als zugespitzte Beschreibungskategorien historischer Phänomene; für die unterschiedlichen Typen von Herrschaft je nach ihrer spezifischen Legitimation (traditional, rational, charismatisch); für die Bürokratisierungstendenzen (das "stählerne Gehäuse") der Moderne, ja überhaupt für den modernisierungsgeschichtlichen Prozess der "Entzauberung der Welt" und der allumfassenden okzidentalen Rationalisierung; schließlich für den Werturteilsstreit in den Wissenschaften und noch vieles mehr. Was kann eine neuerliche Biographie über Max Weber (nach und neben denjenigen von Joachim Radkau und Jürgen Kaube) zur Erhellung der Leistungen dieses großen Denkers beitragen?

Der Soziologe Dirk Kaesler hat einen ganz anderen Weg gewählt. Er beginnt seine Biographie mit dem Ende, mit der Beerdigungszeremonie und der Einäscherung Webers am 14. Juni 1920 in München. Danach erst beginnt die lange, ja zum Teil sehr lange Lebensgeschichte Webers. Sie beginnt in der preußischen Provinzstadt Erfurt im Jahr des deutsch-dänischen Krieges 1864 und führt uns über viele Stationen, die hier unmöglich alle nachgezeichnet werden können, bis eben nach München, wo Weber viel zu früh im Alter von 56 Jahren an der sogenannten Spanischen Grippe starb. Kaeslers Ansatz besteht darin, nachzuweisen, dass die "Umstände" (13) des Lebens das Denken Webers maßgeblich bestimmten. Darüber mag man streiten. Aber man kann jetzt schon sagen, es bleibt das große Verdienst dieser voluminösen Arbeit, dass sie diesen Ansatz (über den schon so viel diskutiert wurde) zum ersten Mal konsequent, ja wirklich mit aller Konsequenz in die Praxis umgesetzt hat. Das erfordert Geduld für den Leser. Aber wenn er diese aufgebracht hat, wird er entlohnt. Am Ende - so ging es mir wenigstens - hat man eine klare Vorstellung von der Person Max Webers und dessen wissenschaftlichen Leistungen. Weber war streitsüchtig und alles andere als künstlerisch veranlagt, beinahe würde man sagen: unmusikalisch, wenn er sich nicht auch noch der Musik genähert hätte, aber eben ausschließlich aus wissenschaftlichen Motiven. Er erscheint als ein ungemein disziplinierter, durch und durch rational denkender und handelnder Mensch und Arbeiter, wobei beides zumeist zusammenfällt. Erst gegen Ende seines Lebens dringen Emotionen in die "Einmann-Wissenschaftsmaschine" (302) ein, die ihn offenbar so mitnehmen, dass er schon bald darauf starb.

Wir werden zunächst sehr breit in die Welt der Eltern und Verwandten eingeführt und sehen mit Erstaunen, wie früh "das altkluge Kind" (169) sich schon mit anspruchsvoller, zum Teil wissenschaftlicher Literatur beschäftigte, die antiken Klassiker ebenso studierte wie Geschichte und Philosophie (Spinoza, Schopenhauer und von der Prima an vor allem und immer wieder Kant). Erst nach 200 Seiten nimmt das Buch so richtig an Fahrt auf, wenn es wirklich (fast) nur noch um Weber jun. (sic!) geht und die einzelnen Stationen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und seiner physischen wie psychischen Befindlichkeit abgeschritten werden. Hier ist es wohltuend, dass sich Kaesler jeglicher Schlüsselloch-Perspektive enthält (die man durch das Buch von Radkau ja bestens kennen gelernt hat) und sich auf die wesentlichen Dinge im Denken und Leben Webers konzentriert: von der Antrittsvorlesung in Freiburg, die Weber als bramabassierenden Nationalisten (und Polen-Hasser) erscheinen lässt, über die religionssoziologischen und wissenschaftstheoretischen Studien, die starken Eindrücke und Einflüsse der Amerika-Reise und der russischen Revolution von 1905 bis zu den Heidelberger Jahren als Privatgelehrter und schließlich dem Paukenschlag des Ersten Weltkrieges, der auch bei Weber alle Energien freisetzte: vom überschäumenden Nationalisten bis zum Pazifisten und endgültigen Parlamentarier. Die Kapitel über die wissenschaftlichen Tätigkeiten Webers lassen kaum etwas zu wünschen übrig. Kaesler hat sich intensiv nicht nur mit dem Leben, sondern auch und vor allem mit dem Denken Webers auseinander gesetzt. Die Protestantische Ethik entsteht - so Kaesler - durch "römische Impressionen" (515ff.), und zwar nicht nur als Negativfolie, sondern auch durch das Studium mittelalterlicher Literatur. Hier hätte man sich noch mehr und genaueres gewünscht, um die Genese der Protestantismus-These, die bis heute nicht so richtig geklärt ist, besser zu verstehen. Waren es wirklich die Calvinisten, die Weber im Blick hatte, oder nicht vielmehr in nuce die Zisterzienser, die schon vieles hinsichtlich der asketischen Lebensführung und der Kapital-Akkumulation mit brachten? Ebenso verhält es sich mit der Werturteils-Debatte, die Kaeseler auch exakt wieder gibt, wo man aber wiederum gerne - obwohl dies bei über 1.000 Seiten fast vermessen klingt - noch mehr erfahren hätte. Zu den "Umständen" dieser Debatte gehören auch die intensive Nietzsche-Lektüre Webers und das historiographische Umfeld der Meineckes, von Belows und Lamprechts, die ebenfalls an diesem dicken Brett bohren, aber nicht so recht vorankommen wollen. Die Historikerzunft hat damals Weber nicht ernst-, ja nicht einmal wahrgenommen und erst sehr spät erkannt, welch großen Fehler sie damit begangen hat. Dieses "Umfeld" verleiht der Weberschen Position erst ihre scharfe Kontur und ihr ganz eigenes, neukantianisches Profil. Hier läuft der frühe Kant-Leser sozusagen zu Hochtouren auf.

Dirk Kaesler hat ein eindrucksvolles Buch, ja (wenn man seine ganzen Weber-Studien mit einbezieht) ein wirkliches "Werk" verfasst, das auf lange Zeit die Weber-Forschung beschäftigen wird. Als Historiker ist man nicht zuletzt beeindruckt von den großen und vielfältigen historischen Kenntnissen des Soziologen. Das Buch liefert nicht nur eine eindrückliche Lebensbeschreibung Webers, es bietet zugleich auch einen präzisen historischen Abriss über die Zeit, in welcher dieser ewig gehetzte und getriebene, übernervöse Mensch und Wissenschaftler lebte.

Klaus Ries